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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Verwandten sogleich zu gewinnen. Sein längliches Gesicht mit dem seinen Muskelspiel, der gebogenen Adlernase und der scheuen Stirn, umwallt von den dunkel gelockten Haaren, übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft; der höchste Zauber lag aber in den schwarzen Augen, welche bald so gut, bald so dämonisch wild dreinschauten, während um den seinen Mund die Geister des übermütigsten Humors und des tiefsten Schmerzes einer Menschenseele zuckten. Wie herzlich konnte er lachen, wie freundlich mit den Knaben scherzen! Und dann blickte er wieder so seltsam und so ernst mit den wunderbaren Augen sie an, daß ihre jungen Seelen zusammenschauerten.

In den nächsten Tagen trat der berühmte Onkel auf dem königlichen Theater auf, wobei natürlich seine Neffen nicht fehlen durften. Die kleinen Herzen bebten und jauchzten vor Wonne bei dem Beifall, den das Publicum den genialen Leistungen des großen Künstlers zollte; sie berauschten sich an seinen Triumphen, an seinen Erfolgen und dachten und träumten nur noch vom Theater. Alle drei gelobten sich im Stillen, wie ihr Onkel Schauspieler zu werden, und sie haben Wort gehalten, ungeachtet des Widerstandes, den sie von Seiten ihrer Familie fanden, welche hugenottischen Ursprungs war, urspünglich den Namen de Vrient führte und aus Flandern stammte. Zuerst wußte Eduard den Widerwillen seines Vaters zu besiegen; ihm folgte der feurige Karl bald nach. Um so mehr drang der Vater darauf, daß der jüngste Sohn Emil die kaufmännische Laufbahn einschlagen und das alte Geschäft einst fortsetzen sollte. Zu diesem Behufe mußte er nach vollendeter Schulbildung Berlin verlassen, wo seine theatralischen Neigungen eine nur allzureichliche Neigung erhielten. Ueberzeugt von der moralischen Nothwendigkeit, sich dem Wunsche seines Vaters und dem Wohle seiner Familie zum Opfer bringen zu müssen, machte er selbst den Vorschlag, nach einer kleinen Stadt zu gehen, um sich den Verführungen der Bühne zu entziehen. Ein zweiter, ebenfalls dem Handelsstande angehöriger Onkel, der in Leipzig wohnte, besaß eine in der Nähe von Zwickau gelegene chemische Fabrik. Dorthin reiste Emil vollkommen resignirt und mit dem festen Vorsatz, ein tüchtiger Kaufmann zu werden und einst dem Vater zur Seite zu stehen. Mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit widmete er sich vorzugsweise seinem Beruf, indem er mit strenger Pünktlichkeit seine kaufmännischen Pflichten erfüllte, Geschäftsbriefe und Rechnungen mit schöner, zierlicher Hand schrieb, die Bücher in Ordnung hielt und ähnliche prosaische Arbeiten mit anerkennungswerthem Fleiße trotz aller Unlust lieferte. Nur seine beschränkten Mußestunden waren nach wie vor der Poesie geweiht. Mit einem Bändchen Gedichte oder einem Trauerspiel von Schiller ging er in das nahe an die Fabrik angrenzende Wäldchen, wo er mit lauter Stimme ungestört und unbelauscht declamirte und Verse recitirte.

Ein Jahr hatte er bereits in tiefster Einsamkeit gelebt und sich fast mit seinem Beruf ausgesöhnt, als ihn ein Brief seines Principals und Onkels nach Leipzig rief, um daselbst im Familienkreise das Weihnachtsfest zu feiern. Zufällig fand er daselbst auch seinen Bruder Karl, der bereits anderthalb Jahre an dem Theater zu Braunschweig engagirt war. Die begeisterten Schilderungen des jungen Künstlers, seine lebendigen Erzählungen aus der Theaterwelt, seine ganze glückliche und von Zufriedenheit strahlende Erscheinung erschütterten mit einem Male alle Vorsätze des guten Sohnes und weckten die nur schlummernde Theaterlust mit unwiderstehlicher Gewalt. Der Dämon der Devrient’schen Familie, dieser angeborene Künstlerzug und Zauber regte sich von Neuem in Emil’s Brust, der offen und unumwunden seinem Vater in einem bewegten Schreiben den Zwiespalt seines Innern darlegte und mit heißen Bitten die Gewährung seines Lieblingswunsches erflehte. Trotz seiner entgegengesetzten Anschauung gab der zärtliche Vater auch dem jüngsten Sohne seine Einwilligung zu dem gewählten Beruf, wozu wohl hauptsächlich die glänzenden Erfolge Ludwig Devrient’s und die schnelle Carriere der beiden andern Söhne in der Theaterwelt das Meiste beitrug. Nur die einzige Bedingung stellte der liebevolle Vater, daß Emil sich für seinen neuen Stand erst gründlich vorbereiten und den Unterricht seines berühmten Onkels zuvor genießen sollte. Wider Erwarten zeigte sich dieser mit dem Entschlusse seines Neffen am wenigsten einverstanden, indem er ihn wiederholt auf die „Illusionen“ hinwies, welche schon manchen jungen Menschen getäuscht und unglücklich gemacht. Er warnte ihn vor dem Theater und dessen aufreibendem Leben, das er immer mehr aus eigener Erfahrung und nicht ohne eigene Schuld kennen gelernt hatte. Auch mit dem Unterricht wollte es nicht recht fortgehn; wie mancher geniale Künstler schuf auch Meister Ludwig seine vorzüglichsten Rollen nicht nach methodischen Regeln, sondern nach den augenblicklichen Eingebungen seiner genialen Natur, von der er sich häufig keine Rechenschaft zu geben vermochte. Er war kein sogenannter „denkender Künstler“, wie sie jetzt zu Dutzenden herumlaufen, und auch kein Theoretiker, weshalb er wohl zum Lehrer wenig oder gar nicht taugte. Um so größer war aber sein Einfluß von der Bühne herab, und der junge Emil lernte mehr durch das Beispiel und den Anblick seines Onkels, als aus seinem höchst mangelhaften und fragmentarischen Unterricht. Ebenso sah er sich in seiner Hoffnung getäuscht, durch seinen großen Verwandten ein schnelleres Engagement bei einer größeren Bühne zu finden, da dieser ihm bald das Versprechen gab, für sein Auftreten in Berlin Sorge zu tragen, bald ihn an die Bühne in Weimar als die geeignetste Schule für seine fernere Ausbildung verwies, ohne in dem einen wie in dem andern Falle etwas Ernstes für ihn zu thun, so daß der ungeduldige Nefe zuletzt den verzweifelten Entschluß faßte, auf gutes Glück seinen Bruder Karl, der damals bei seiner Familie in Berlin verweilte, nach Braunschweig zu begleiten und daselbst ein Unterkommen bei dem hochverehrten Director Klingemann zu suchen.

Dieser empfing den jungen Kunstnovizen keineswegs in aufmunternder Weise, nur mit Widerstreben entschloß er sich, ihm die Rolle des „Raoul“ in der „Jungfrau von Orleans“ auf die Empfehlung des älteren Bruders anzuvertrauen. Mit Herzklopfen betrat Emil in dieser Rolle zum ersten Male die Breter, welche die Welt bedeuten, wobei er eine eigene, gewiß bei jungen Künstlern höchst seltene Erfahrung machte, die unstreitig für seine große Bescheidenheit spricht. Der laute Beifall, den er bei seinem ersten Auftreten fand, wirkte statt ermunternd geradezu lähmend auf seine Darstellung. Erschrocken über den unerwarteten Applaus, kam er aus dem Zusammenhang seiner Rolle, so daß er dieselbe ebenso kleinlaut und gedrückt beendete, als er sie muthig und glücklich begonnen hatte. Regelmäßig überkam ihn dazu, so oft er im Anfange die Bühne betrat, eine unerklärliche Angst, daß er „stecken bleiben“ werde, und wirklich blieb er auch jeden Abend zur großen Belustigung des Publicums stecken, auch wenn er seine Rolle noch so trefflich gelernt hatte. Das Leiden schien durchaus localer Natur zu sein und schwand erst bei vorgenommenem Ortswechsel. Auch als Sänger debutirte Emil in Braunschweig und zwar mit glücklichem Erfolge, indem er als „Oberpriester Kalchas“ in Gluck’s „Iphigenie“ und als „Eremit“ im „Freischütz“ mit Beifall auftrat. Seine musikalische Bildung blieb nicht ohne Einfluß auf seine theatralische Laufbahn, und es läßt sich nicht leugnen, daß die frühere Vereinigung der Oper mit dem Schauspiel von mannigfachem Nutzen für die Betheiligten war. Da Devrient in Braunschweig nicht die genügende Beschäftigung fand, so wandte er sich nach Bremen, wo er unter dem verdienstvollen Director Pichler mehr als hinreichende Gelegenheit hatte, sein vielseitiges Talent auszubilden. Abwechselnd spielte er den „Melchthal“ in Schiller’s Tell, den „Don Cäsar“ in Donna Diana, im Hamlet den „Laertes“ und selbst den „Tobias Schwalbe“ in Körner’s Nachtwächter. Daneben sang er mit wohlklingender Baßstimme den „Sarastro“ in Mozart’s Zauberflöte, den „Almaviva“ in Figaro’s Hochzeit und sogar den „Don Juan“.

Die übermäßigen Anstrengungen erschöpften nothwendiger Weise seine jugendlichen Kräfte und bedrohten seine Gesundheit so ernstlich, daß er sich genöthigt sah, die Bühne zu verlassen und sich zu erholen. Er ging nach Leipzig, wo der frühere Advocat und enthusiastische Theaterliebhaber Küstner ihn mit offenen Armen empfing und ihm ein vorteilhaftes Engagement anbot, nachdem er sich so weit gestärkt hatte, um das Theater von Neuem zu betreten. In Leipzig lebte damals eine Zahl ausgezeichneter Kunstfreunde, der treffliche Blümner, Amadeus Wendt, Wilhelm Gerhard, die Dichter Rochlitz und Mahlmann, die sich lebhaft für die Bühne interessirten. Dazu kam noch in dem nahen Weißenfels der scharfsinnige, geistreiche Müllner, der als Kritiker und Theaterdichter einen großen Ruf genoß. Der Umgang mit solchen Geistern übte auf Emil einen höchst vortheilhaften Einfluß aus und trug wesentlich zu seiner künstlerischen Ausbildung bei. Hauptsächlich aber wirkte auf ihn das Beispiel und Vorbild der ausgezeichneten Künstler, welche damals theils als stehende Mitglieder, theils als Gäste das Leipziger Theater verherrlichten. Wir brauchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_678.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2023)