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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

und Hindernisse dieser Forschungsfreiheit. Er findet dieselben, außer den Eigenthumsfragen, hauptsächlich in den heutzutage so sehr üblichen Befürchtungen und Anklagen, als ob die Naturwissenschaften zum Materialismus führten. Diese Meinung wünsche er gründlich zu beseitigen. Er erinnert zuvörderst, nach Kant u. A., daß wir doch nicht eigentlich das Ding an sich erkennen, sondern nur die Sinneseindrücke, welche uns dasselbe verursacht, zum Bewußtsein bringen. Weil durch diese unsere Anschauung die Wesenheit der Dinge nicht erschöpft werde, so müsse man noch etwas Metaphysisches (d. h. etwas Übersinnliches, „was in des Menschen Hirn nicht paßt“, wie Goethe sagt) voraussetzen, mit welchem aber die Naturforschung nichts zu thun habe. Sie beschäftige sich nur mit den Erscheinungen, suche über diese durch Sinnes- und Verstandesthätigkeit haltbare Anschauungen zu bekommen und dann mittels der Vernunft höhere Begriffe, Vernunfterkenntnisse zu gewinnen, durch welche wiederum die Einsicht in die anschauliche Welt vermehrt und erweitert werde. Darüber hinaus leistet die Vernunft nichts; sie vermag uns keine tiefere Einsicht in das den Erscheinungen zu Grunde liegende Metaphysische zu geben, welches auch niemals ein anschauliches Object bilden werde. (Das heißt: der Glaube fängt erst da an, wo das Wissen aufhört.) Der Materialismus sei also kein vollständiges System der Weltanschauung, sondern nur eine Methode der Forschung, welche sich innerhalb der Erscheinungswelt, ihrer räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, durchaus nur auf dem Wege der Erfahrung bewege. Weit entfernt, dadurch in Gegensatz zu der Transzendenz, d. h. zur metaphysischen Philosophie und zur Theologie, zu treten, werde vielmehr der Naturforscher, je mehr er sich vertiefe, desto mehr an ein allmächtiges Uebersinnliches erinnert. Schon Baco, der so streng darauf drang, die Naturforschung von jeder theologischen Speculation fern zu halten, habe anerkannt, daß tiefere Naturstudien nicht zum Atheismus, sondern zu Religiosität führen.

Es sei also kein Grund vorhanden, dem Drang nach Wissen, welcher das Menschengeschlecht beseelt, Schranken zu setzen. Forschung und Wissenschaft seien übrigens unaufhaltsam; jede Stagnation derselben sei stets nur scheinbar gewesen; jeder Verirrung sei eine desto gründlichere Einsicht und Aufklärung gefolgt; jeder Druck habe ihre Kraft nur zu noch rascherem Fortschritt gesteigert. Napoleon selbst, der Mann mit dem gebrochenen eisernen Willen, habe es auf St. Helena anerkannt: „Das Licht der Wissenschaft macht nur Rückschritte, um nachher desto kräftiger vorzuschreiten.“

Die Wirkung, welche diese Rede, an solcher Stelle und aus solchem Munde vernommen, im Lande des Concordats hervorbrachte, war außerordentlich. Jeder schien zu fühlen, was Dr. Helm in den obenerwähnten einleitenden Worten zu derselben Festrede sagt: „Die Steine, aus denen dies Haus zusammengefügt, sprechen aus: früher oder später überzeugt die Wahrheit doch; auch sie ist eine Macht, sie kann zwar unterdrückt werden, tritt aber zuletzt glänzend wieder im Triumphe hervor.“ In ärztlichen und nichtärztlichen Blättern wurde Rokitansky’s Rede wiederholt abgedruckt und applaudirt. Von allen Seiten kamen Deputationen und Adressen zur Beglückwünschung herbei.

Die glänzendste Anerkennung aber und zugleich die grundsätzlich bedeutungsvollste, fand Rokitansky einige Monate nachher von der Staatsregierung selbst. Als nämlich der bisherige Chef des Medicinalwesens, der um die neue Medicin und ihre Jünger vielfach verdiente Dr. von Nadherny, in den Ruhestand zurücktrat, wurde Rokitansky an dessen Stelle in das Cultus- und Unterrichtsministerium berufen, unbeschadet seiner bisherigen Thätigkeit als Universitätsprofessor und Krankenhausanatom. „Diese Berufung (28. April 1863 veröffentlicht) erregte“, nach den eigenen Worten verschiedener österreich. medicin. Zeitschriften, „im ganzen ärztlichen Stand Oesterreichs eine einstimmige und aufrichtige Freude. Mit seltener Einmüthigkeit hat das Urtheil aller Collegen und aller medicinischen Journale sich darüber ausgesprochen. Man rühmte nicht nur die Berufung eines Fachgenossen, statt eines Bureaukraten, sondern die Wahl gerade desjenigen Mannes, dessen Name mit der Geschichte der Wissenschaft und dem Ruhme des Vaterlandes so innig verknüpft sei.“ „Was Rokitansky am letzten Jahresfest der Gesellschaft der Aerzte zu Wien so innig und wie vorahnend aussprach, daß der Wissenschaft höchstes Ziel das Wohl der Allgemeinheit sei, das ist das schönste Programm, welches der an solche Stelle Berufene sich für seine Aufgabe stellen konnte.“ Selbstverständlich sprachen zahlreiche Deputationen aus allen Theilen der Monarchie dem Gefeierten diese Gesinnungen aus. Wir wählen aus den dabei gehaltenen Ansprachen die der Wiener Privatdocenten heraus. Ihr Vertreter, Dr. Schlager, „drückte die Freude aus, mit welcher das Collegium die Berufung ihres hochberühmten Meisters begrüße, des Mannes, der durch seine Forschungen der Heilkunde neue Bahnen vorgezeichnet, der durch die Schwungkraft seines Geistes den Ruhm und den Glanz der Wiener Schule begründet habe. Seine Berufung habe auch eine principielle Bedeutung; sie sei der Sieg der Wissenschaft über die Bureaukratie; sie sei eine Garantie für die kräftige Förderung der freien Forschung!“

Mögen diese Worte in Erfüllung gehen! Mögen unsere österreichischen Brüder recht lange solche Zustände erleben, wo Männer, wie Rokitansky, an der Spitze des Unterrichtswesens mit Ehren und Nutzen wirken können! Uns anderen Deutschen aber, „draußen im Reich“, wie der Oesterreicher sagt, sei es vergönnt, diesen Mann auch zu den Unsrigen zu rechnen. Denn trotz seines slavischen Namens ist er in Gesinnung und Bildung, Gemüth und Dauerfleiß unverkennbar ganz ein deutscher Mann!

Und nun, liebe Leser, gestattet mir zum Schluß dieser Skizze noch eine kleine Nutzanwendung. (Haec fabula docet.) Die Gartenlaube hat Euch binnen Jahresfrist die drei namhaftesten pathologischen Anatomen Deutschlands geschildert: Virchow in Berlin (Jahrg. 1862. S. 747), Bock in Leipzig (Jahrg. 1863. S. 484) und nun Rokitansky in Wien. Diese drei Männer sind ihrem Wesen nach so verschieden, wie Männer nur irgend sein können. Virchow der scharfe geistvolle Norddeutsche, Bock der polternde und doch gemüthliche Leipziger, und Rokitansky der stille, fast kindlich harmlose Oesterreicher sind scheinbar ganz unvereinbare Charaktere. Und dennoch haben sie alle drei etwas Gemeinsames: dies ist die thatsächliche (realistische) Richtung ihres Strebens und die ehrenhafte Festigkeit, mit welcher sie die aus den Thatsachen gewonnenen Ueberzeugungen vor Jedermann aussprechen ohne Rücksicht, ob sie Gunst oder Ungunst damit erwerben. Sie geben der Wahrheit die Ehre und erwarten, was die Bibel verspricht: „durch die Wahrheit werdet ihr frei werden!“ Wir stehen nicht an, diese mannhafte Ehrlichkeit der genannten drei Männer gerade aus dem Gegenstand ihrer Studien abzuleiten: aus der steten Beschäftigung mit der Natur, welche ja überall wahr und überall gesetzlich ist, und aus der täglichen Betrachtung des menschlichen Wesens in allen seinen materiellen und immateriellen Beziehungen, welche sich am Leichentische von selbst aufdrängt. – Wir verweisen mit Stolz auf diese Männer und ihre zahlreichen Fachgenossen und Mitarbeiter, um ein für allemal die Besorgniß niederzuschlagen, welche das Geschrei der Verdunkelungsmänner heutzutage in manchen ängstlichen Gemüthern rege hält: die Besorgniß nämlich, als ob mit dem Fortschritt des modernen Realismus, das heißt mit der immer allgemeineren Ausbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, irgendwie dem echten Humanismus, dem Fortschreiten wahrhafter Menschenbildung Eintrag geschehen könne. Im Gegentheil! Es würde uns nicht schwer fallen, wenn es der Mühe lohnte, nachzuweisen, daß heutzutage, wie von jeher, die Mehrzahl aller wissentlichen Lügner und Betrüger, Heuchler und Kriecher, die wahren Feinde der Humanität, aus den Hauptquartieren der Spiritualisten hervorgegangen sind!





Der fränkische Brutus.
Von Ludwig Storch.

Mit dem sittlichen Aufschwung der Gesellschaft, zumeist in ihren mittlern, zum Theil auch in ihren höhern Schichten, im geistesregen und reichen zwölften Jahrhundert bildete sich neben dem schönen Geiste des von Frankreich herübergekommenen Ritterthums in Deutschland zugleich sein widerwärtiges Zerrbild, das Junkerthum, aus, dessen Keime eine böse Erbschaft der vorangegangenen wüsten und rohen Zeit waren. Wenn das milde Morgenland mit schöpferischem Hauche in den Kreuzzügen das ungeschlachte Wesen der abendländischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_759.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)