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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

er gewahrte sehr bald im sechsten Stock des gegenüberliegenden Hauses ein kleines Fenster, das von allerhand duftenden Blumen freundlich eingerahmt war und hinter welchem ein reizender Mädchenkopf, der sich über eine Arbeit beugt, sich im Takte wiegte, wie um die Melodie zu begleiten, die den blühenden Lippen entquoll. So war also das trillernde Vögelcheu entdeckt, und Alfred’s ganze Aufmerksamkeit wurde alsbald von diesem reizenden Anblick in Anspruch genommen, dem er sich um so ungestörter hingeben konnte, als das schöne Mädchen, ganz in ihre Arbeit vertieft, sich gar nicht um die Außenwelt zu bekümmern schien. Mit immer wachsendem Entzücken bewunderte Alfred das reizende, fein beschnittene Gesicht, die vollen, zierlich geglätteten schwarzen Haare und die weichen Formen der schönen Gestalt des lieblichen Mädchens, das sich zuweilen von seiner Arbeit erhob, um kleine häusliche Verrichtungen zu besorgen. Es lag durchaus nicht in Alfred’s Absichten, sich im vorliegenden Falle auf eine stumme Bewunderung zu beschränken, vielmehr bestrebte er sich auf alle erdenkliche Weise, durch anfänglich bescheidene, nach und nach aber immer dringender werdende telegraphische Zeichen und Andeutungen seiner schönen Nachbarin die zärtlichen Gefühle verständlich zu machen, die sie in ihm erweckt hatte. Lange Zeit blieb Alfred’s Zeichensprache unerwidert und, wie es schien, auch unverstanden; indessen ließ er sich nicht entmuthigen, zog vielmehr unter der Hand Erkundigungen ein und erfuhr, daß seine schöne Nachbarin Risette heiße, siebzehn Jahre alt, sehr „sitt- und tugendreich“ sei und sich durch den Ertrag ihrer Hände Arbeit ihr bescheidenes Brod ehrsam verdiene. Diese vortrefflichen Nachrichten bestärkten Alfred natürlich in der Fortsetzung seiner stummen Huldigungen, und gerührt von so vieler Beharrlichkeit entschloß sich Fräulein Risette endlich, ihm ihr Vertrauen zu schenken, nachdem sie sich jedoch zuvor feierlich von ihm hatte versprechen lassen, daß er sehr zurückhaltend und sehr fügsam sein werde. Bei Gelegenheit einer Landpartie aber, in den blühenden Gefilden von Montmorency, konnte Alfred die stürmischen Gefühle seines achtzehnjährigen Herzens nicht länger beherrschen und zu den Füßen eines jener berühmten Esel, die nur in Montmorency geboren zu werden scheinen, um Kirschen und Grisetten zu tragen, und die Heinrich Heine schon durch eines seiner Lieder unsterblich gemacht hat – zu den Füßen eines solchen berühmten Esels hauchte Alfred seine glühenden Liebesschwüre aus und gelobte ewige Treue und Ergebenheit. Fräulein Risette, die, wie ich beinahe vergessen hätte zu bemerken, auf dem Esel thronte, war jedoch mit dieser stürmischen Liebeserklärung keineswegs einverstanden und fand, daß dieselbe gewaltig gegen die von ihrem Seladon angelobte Zurückhaltung sündige. Hierauf entspann sich ein kleiner Zwist unter dem jungen Paare, der jedoch mit einer feierlichen Aussöhnung endete: zwar folgten noch mehrere ähnliche Spaltungen, die aber alle dasselbe Resultat hatten, bis endlich Alfred die versprochene Zurückhaltung nach und nach ungestraft bei Seite setzen durfte, da er hinlängliche Beweise seiner Treue und Beständigkeit gegeben hatte.

Drei Jahre lang blieben sich die jungen Leute treu, machten sich gegenseitig glücklich und genossen vereint ihre Jugend – den schönen Frühling des Lebens. Nach Ablauf dieser Zeit aber und nachdem Alfred sein letztes Examen bestanden hatte, fand er durchaus keinen Vorwand mehr, um in Paris zu bleiben, jedoch verbarg er der armen Risette die herannahende Nothwendigkeit der Trennung, die ihm selbst höchst schmerzlich war. Das junge Mädchen hatte ihm eine wahre und ernste Zuneigung eingeflößt. Vielleicht wäre ihm die Trennung minder schwer angekommen, wenn er ein Mittel gewußt hätte, ihr eine sorgenlose Stellung zu verschaffen und sie vor allen Entbehrungen zu sichern; aber Risette würde entschieden jedes Geschenk zurückgewiesen haben, das ihr wie eine Bezahlung ihrer Liebe und somit verächtlich erschienen wäre.

Da kam ein an sich ziemlich geringfügiger Umstand den ehrenwerthen Absichten Alfred’s, in Bezug aus Risettens Zukunft, zu Hülfe. Risette empfing eine Einladung, der Hochzeit einer ihrer Freundinnen beizuwohnen. Bei dieser festlichen Gelegenheit wünschte das junge Mädchen das Haupt, das bis jetzt immer nur jene frischen, koketten, leider nun auch verschwundenen Grisetten-Häubchen geziert hatten, mit einem Hute, natürlich nach der neuesten Mode, zu schmücken. Der Ankauf eines Hutes erforderte aber mindestens die Summe von 20 Francs, und Alfred, der von Tag zu Tage die Gelder erwartete, die ihm sonst immer regelmäßig von seinem Vater zuflossen, befand sich in jenem Augenblicke zufällig nur noch im Besitze von 10 Francs, als einzigem disponiblen Vermögen. Wie sehr er auch seinen Geldbeutel schüttelte, sein Schatz wollte sich nicht vermehren. Risette verzichtete augenblicklich und mit der größten Liebenswürdigkeit auf ihr Gelüst nach einem Hute, aber Alfred, der seiner Freundin ihren verzeihlichen Wunsch nicht versagen mochte, machte sich auf, um von einem Bekannten die kleine Summe zu erborgen, deren er noch bedurfte, um die Ausgabe bestreiten zu können. Unterwegs traf sein Blick zufällig auf ein Aushängeschild, wie man deren in den Straßen von Paris so häufig findet, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand: „Geschäftsverkauf.“ Es ergab sich, daß das zu verkaufende Geschäft zufällig ein Mode-Magazin war. Alfred blieb, wie von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt, stehen, sann ein wenig nach und betrat sodann ziemlich entschlossen den Laden. Er fragte die Inhaberin nach dem Preise ihres Geschäftes, der ihm mit 2000 Francs bezeichnet wurde; hierauf nannte er sich, wies sich mittels seines Passes und seiner Papiere aus, sagte der Dame, daß es seine Absicht sei, das Geschäft zu kaufen, und bot ihr einen Wechsel auf seinen Vater an, einen in der Handelswelt ziemlich bekannten vermögenden Notar. Der Wechsel wurde angenommen, der Handel geschlossen, und Risette konnte noch am nämlichen Tage unter zwanzig Hüten den Kopfputz aussuchen, der ihr am meisten zusagte. „Der Laden gehört uns,“ sagte ihr Alfred, „wir wollen das Geschäft anfangen!“ Und Risette, strahlend in Wonne und Entzücken, nahm unverzüglich von ihrem neuen Wirkungskreise Besitz. Am folgenden Tage aber erlitt ihr Glück einen schmerzlichen Stoß: man überbrachte ihr einen Brief: der Brief enthielt Alfred’s Lebewohl und zugleich die Versicherung, daß der Ankauf des Geschäftes auf ihren Namen erfolgt sei und dasselbe somit ihr unumschränkt angehöre.

Also hatte Alfred mit seinem letzten Studenten- und Geniestreiche zugleich der Stimme seines Herzens und seines Gewissens Genüge geleistet, und Risettens Zukunft war gesichert. Sein Vater, ein vermögender Mann, hatte ohne zu heftiges Widerstreben den Wunsch des Sohnes berücksichtigt, und alles war demnach in der besten Ordnung.

Mittlerweile verstrichen die Jahre, und Alfred und Risette sahen und hörten nichts mehr von einander. Da beschloß Alfred’s Vater, der sich alt werden fühlte, seine Geschäfte als Notar aufzugeben, der Provinz den Rücken zu kehren und sich mit seinem Sohne in Paris niederzulassen. Einige alte und bewährte Freunde öffneten den Ankömmlingen ihre Häuser, und bald hatten sie einen angenehmen geselligen Kreis um sich gebildet. Es zeigten sich für Alfred vielfache Gelegenheiten zu vortheilhaften Heirathen, aber er bekundete fortgesetzt gegen das Joch der Ehe eine entschiedene Abneigung, die man sich gar nicht recht zu erklären wußte.

Eines Tages bekam Alfred von der Post einen Brief; der Brief enthielt einen Wechsel von 2000 Francs auf das Mode-Geschäft von Fräulein Risette, 21 Rue du Faubourg St. Honoré, und der Wechsel war von nachfolgenden Zeilen begleitet: „Mein Herr! In der Inlage beehre ich mich Ihnen die Summe zurückzuerstatten, die Sie vor neun Jahren zum Ankauf eines Putz-Geschäftes mir darzuleihen die Güte hatten.

Empfangen Sie den Ausdruck meiner herzlichen Dankbarkeit.

Risette.“ 

Drei Tage lang behielt Alfred den Brief in seiner Tasche; endlich sagte er sich, wie thöricht es sei, länger dem sehnlichen Wunsche zu widerstehen, das gute Mädchen wiederzusehen, das er so herzlich geliebt hatte. Er eilte zu ihr. Ihr Anblick erweckte ihm eine Fülle der glücklichsten Erinnerungen; sie stand vor ihm, wie seine Jugend!

… – „Ein entzückend Bild,
Als jugenderstes, längstentbehrtes, höchstes Gut!
Des tiefsten Herzens frühste Schätze quollen auf –“

und er lag zu ihren Füßen und bedeckte ihre Hände mit Küssen. Sie durchlebten noch einmal im Geiste die schönen Jahre ihres Jugendglückes, das sie so heiter und treu getheilt hatten. Der Eselspartie in Montmorency wurde hierbei natürlich auch gedacht. Etwa vierzehn Tage nach diesem glücklichen Wiedersehen verkündeten zierlich gestochene Karten den theilnehmenden Freunden und Bekannten „die Verlobung des Herrn Alfred Derval mit Fräulein Risette Moulard.“

Ich war Brautführer bei der Trauung des glücklichen Paares und fröhlicher Gast bei ihrem Hochzeitsschmause, und heute bin ich der treue Freund ihres Hauses und freue mich ihren reinen Glückes. Ich pflege meine Sonntage bei ihnen zuzubringen, wo, mir zu Ehren, deutsche Leibgerichte aufgetragen werden und wo ich dann beim Nachtisch den kleinen Alfred auf meinen Knieen schaukeln darf, der mittlerweile angekommen ist und die Freude und das Entzücken seiner glücklichen Eltern bildet.




Noch ein ungedrucktes Lied von Hermann Marggraff.

Wenn Du zu lieben hältst für Pflicht,
Und es an Liebe Dir gebricht:
     Quäle Dich nicht! quäle Dich nicht!
Denn die Liebe will ungetheilt sein,

5
Ganz vom Haß will das Herz geheilt sein –

Halbe Lieb’ ist umwölktes Licht.

Willst Du dichten ein Gedicht,
Wenn es an Schaffensdrang Dir gebricht:
     Quäle Dich nicht! quäle Dich nicht!

10
Sprudelt der Quell Dir nicht zur Stunde,

Warte, bis er aus tiefstem Grunde
Fröhlich hervor von neuem bricht!




Rosenblätter.

„Laßt die Kinder ihren Müttern
Und die Rosen laßt am Stock!“

ist ein altes wahres Wort. Trotzdem erleidet wenigstens sein zweiter Satz doch wohl einige Einschränkung, denn auch an die gepflückten Rosen knüpft sich manche interessante Erinnerung.

So erzählt man, daß zu Anadom eine gelehrte Gesellschaft bestand, deren Statuten folgende Bestimmungen enthielten: „Die Mitglieder sollen viel denken, wenig schreiben und so wenig als möglich sprechen.“ Der Doctor Zeb, ein hochgelehrter Mann, der berühmt war im ganzen Orient, kam leider zu spät, um sich in diesen Verein aufnehmen zu lassen, der bereits vollzählig war. Um dem Gelehrten begreiflich zu machen, daß er die Zeit der Aufnahme versäumt habe, ließ der Präsident des Vereines vor den berühmten Doctor ein Gefäß niedersetzen, welches so dicht mit Wasser angefüllt war, daß ein Tropfen mehr es unfehlbar zum Ueberlaufen gebracht haben würde. Der arme Doctor verstand hieraus sogleich, daß kein Platz mehr für ihn in der hohen Versammlung sei, und war schon im Begriff sich ganz betrübt zurückzuziehen, da gewahrte er zu seinen Füßen ein Rosenblatt, er hob es auf und legte es leise auf das Wasser im Gefäße nieder – und siehe da! das Gefäß lief nicht über! Diese geistreiche Art zu beweisen, daß bei einigem guten Willen sich doch noch ein bescheidenes Plätzchen für ihn finden könne, entzückte die Versammlung dermaßen, daß sie einstimmig den Doctor Zeb noch nachträglich zu ihrem Mitgliede ernannte.

Maroncelli, der berühmte Leidensgefährte Silvio Pellico’s, mußte sich während seiner Gefangenschaft einer Amputation unterwerfen. Gern hätte er den Arzt für die gewagte und mühevolle Operation belohnt, aber er besaß nichts. „Doctor,“ sagte er zu dem Arzte, „ich habe nichts, gar nichts auf der weiten Welt, als diese Rose hier, die ihren Stiel in einer Tasse Wasser badet. Sie ist die Gefährtin des Gefangenen, die einzige Freude seines Kerkers ich schenke sie Ihnen!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_432.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)