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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

hat es sich an ihm bewährt. Seine „Generalbeichte“ hat er in einer der herrlichsten seiner Dichtungen abgelegt, und nun ist seine Seele frei, und keine Wolke düstern Grams und finstern Brütens mehr verdunkelt ihren sonnigen Glanz. Während ihm ringsum die empfindsamsten Thränen fließen, lacht er sein übermüthigstes gesundestes Lachen, schreibt er bei einer Flasche Burgunder sein „Götter, Helden und Wieland“ in einer Sitzung nieder und ergießt über alles Schwächliche, Kleine, Marklose, wo es an ihn und seinen Kreis herantritt, die volle Schale seines erbarmungslosen poetischen Spottes, wie in Pater Brey, Satyros, den neuesten Offenbarungen und dem Jahrmarkt zu Plundersweilen.

Dasselbe volle schöne Feuer der Jugend in seinen Adern, dieselbe Gluth in seinem Herzen wie nur damals in der seligen Zeit zu Straßburg, als er sich auf’s Pferd warf und in die verhüllte Mondnacht hinaussprengte auf der lieb bekannten Straße nach Sesenheim hin; aber alles Empfinden und Denken ist so viel reicher und reifer, die innere Gewißheit stolzer und gewaltiger Schöpferkraft so viel sicherer, und mit freier Klarheit schwebt sein Geist über den Dingen, einer Klarheit, von der seine unerreichten Recensionen aus jener Zeit in den Frankfurter gelehrten Anzeigen noch als ein bewundernswürdiges Zeugniß gelten können. –

In jener glücklichen Lebensperiode traf viel Besuch im stattlichen Hause am Hirschgraben zu Frankfurt ein, oft mehr, als es der Frau Rath zuweilen lieb sein mochte, deren Küche und Keller den Ruhm des großen Sohnes theuer genug zu büßen hatten. Jedes Mitglied der großen deutschen Gelehrten-, Literaten- und Dichterrepublik, das Frankfurt passirte, traf natürlich mit dem Autor des Werther zusammen, und selbst in der kühlen, maßvollen und bereits etwas geheimräthlich Goethisch abgefaßten Schilderung jener Zeiten in „Wahrheit und Dichtung“ empfängt man noch auf’s Lebhafteste den Eindruck jenes bunten, wechselnden, unruhigen Treibens mit seinem Kommen und Gehen, mit seinen Reisen und Ausflügen hier- und dorthin, Bekanntschaften, schnell geschlossenen Freundschaftsbünden, Geschäften, Arbeiten und mannigfachsten Vergnügungen, in dessen Wirbel er unaufhörlich hineingerissen wurde, ohne doch von der überlegenen Klarheit seines Kopfs dadurch das Mindeste einzubüßen.

Der liebste und wichtigste dieser Frankfurter Besuche, bei dessen Bericht er noch dreißig Jahre später mit so ganz besonderer Liebe und gemüthvollem Behagen verweilt, ist der von Lavater. Wir brauchen nicht erst zu sagen, welche gefeierte Persönlichkeit Johann Caspar Lavater, der Pfarrer an der Peterskirche in Zürich, einst war, als er den Versuch machte, die Physiognomik d. h. die Deutung des menschlichen Geistes und Charakters aus der Bildung des Gesichts, zur Wissenschaft zu erheben, und durch eine gewisse sentimentale Auffassung des Christenthums für Hunderte von „schönen Seelen“ ein Gegenstand schwärmerischer Verehrung wurde. Die Bekanntschaft beider Männer war bereits längere Zeit vor der persönlichen Begegnung durch einen lebhaften Briefwechsel zwischen Beiden, dem gefeierten Theologen und Propheten und dem Dichter, eingeleitet. Lavater machte eben ernstliche Anstalten zu seiner Physiognomik, deren Einleitung schon früher in das Publicum gelangt war. Dies Unternehmen versetzte die damalige Welt in die tiefste Aufregung, die nicht allein dem Grundgedanken dieser neuen Theorie der Menschenkunde, sondern mehr noch dem eigenthümlichen Umstand entsprang, daß Lavater alle Welt zu einer Art von persönlicher Mitarbeiterschaft heranzuziehen bemüht war. Er wurde nicht müde, von Jedermann, von Berühmten und Namenlosen, Schattenrisse ihrer Profile zur Einfügung in sein Werk zu verlangen, und diesem Appell an die allgemeine menschliche Eitelkeit ist in einer Zeit, wo die Silhouette so üppig wucherte, wie heut nur die photographische Visitenkarte, wohl in überschwänglichster Weise entsprochen worden. Eine der wunderlichsten Schrullen lag jedenfalls einer andern von Lavater ausgehenden Aufforderung an Bekannte und Unbekannte zu Grunde, der: ihm Christusköpfe eigener Zeichnung, gleichgültig, ob der Betreffende überhaupt zeichnen könne oder nicht, zu übersenden. Aus der Art, wie sich der Zeichner den Heiland vorstellte, glaubte Lavater die sichersten Rückschlüsse auf Charakter und Geistesart des Darstellers machen zu können. Dabei scheint er sich des komischen Irrthums völlig unbewußt gewesen zu sein, daß einmal die Phantasie des nicht künstlerisch befähigten oder ausgebildeten Menschen gar nicht eine ganz bestimmte Gesichtsform in ihrer Gesammtheit und ihrem Detail aus sich zu erzeugen und er andererseits noch viel weniger dieselbe ihrer Vorstellung gemäß auf’s Papier zu bringen vermag.

Im Frühling jenes Jahres 1774 hatte er Goethe angekündigt, daß er auf einer vorzunehmenden Rheinreise Frankfurt und ihn selbst zu besuchen gedenke. Die Nachricht verbreitete sich bald und verursachte „die größte Bewegung im Publicum“. Die frommen christlichen Kreise, in denen der Geist des alten Pietismus vielfach noch so lebendig herrschend und wirksam war, sahen mit dringendem Verlangen dem Kommen des begeisterten und begeisternden Herzenskündigers und Predigers entgegen, der von Gott mit der wunderbaren Kunst begnadigt war, in den Gesichtern wie in den Seelen untrüglich zu lesen, der sich eines fast leibhaftig unmittelbaren Verhältnisses mit seinem Herrn und Heiland, des directen thätigen Eingreifens in sein Leben und Sein durch denselben, mit voller reiner Ueberzeugung rühmen zu dürfen glaubte. „Alle waren neugierig einen so merkwürdigen Mann zu sehen; viele hofften für ihre sittliche und religiöse Bildung zu gewinnen; die Zweifler dachten sich mit bedeutenden Einwendungen hervorzuthun; die Einbildischen waren gewiß, ihn durch Argumente, in denen sie sich selbst bestärkt hatten, zu verwirren und zu beschämen, und was sonst alles Williges und Unwilliges einen bemerkten Menschen erwartet, der sich mit dieser gemischten Welt abzugeben gedenkt“. Dann kam er selbst, und mit dem Ausrufe, in dessen wenigen Sylben der ganze Styl der Stürmer und Dränger, der „Kraftgenies“ jener siebziger Jahre zu Tage tritt, mit: „Bist’s“ und „Bin’s!“ von seiner und Goethe’s Seite lagen sie sich in den Armen. Aber „sonderbare Ausrufungen“ Lavater’s verriethen bald jene Täuschung, auf die ich oben hinwies: die Wirklichkeit der Erscheinung entsprach nicht dem selbsterzeugten Phantasiegebilde; er hatte sich den Dichter des Götz und Werther anders zurecht gemacht gehabt, und es kostete Mühe und Scherz genug, ihn mit dem Bilde zu versöhnen, das „Gott und der Natur zu machen nun einmal gefallen habe“. Und wahrlich, diese beiden hatten es in diesem Fall doch gewiß gut genug gemeint und gemacht!

Die Unterhaltungen, die er mit dem Gast führt, und die, deren Zeuge er ist, werden für den Dichter höchst merkwürdig und folgenreich. Er sieht ihn überall „seine Wirkungen in’s Weite und Breite ausdehnen“, durch Belehrung und Unterhaltung die Wohlwollenden bezaubern, die Feindseligen entwaffnen und zurückweisen. „Die tiefe Sanftmuth seines Blicks, die bestimmte Lieblichkeit seiner Lippen, selbst der durch sein Hochdeutsch durchtönende treuherzige Schweizer Dialekt und wie manches Andere gab Allen, zu denen er sprach, die angenehmste Sinnenberuhigung; ja seine bei flacher Brust etwas vorgebeugte Körperhaltung trug nicht wenig dazu bei, die Uebergewalt seiner Gegenwart mit der übrigen Gesellschaft auszugleichen.“

Keinem bedeutenden Manne, der zunächst die idealen Gemüthssaiten zu berühren und in Schwingung zu setzen verstand, hat es je an einem getreuen andächtigen Gefolge zarter Frauen und Weiblein gefehlt, die an seinen Lippen und Augen hingen, den Spuren seiner Tritte folgten und allezeit bereit waren, sei es seine Füße zu salben und mit ihren schönen Haaren zu trocknen, sei es die Stücke Zeugs aus den Polstern zu schneiden, auf denen er geruht, und selbst das kleinste Partikelchen davon als geweihte Reliquie auf dem zärtlichen Herzen zu tragen. Solch eine holde Schaar hat auch den Propheten von Zürich auf Wegen und Stegen umringt. Sie drängten sich in Frankfurt in die Zimmer, die man ihm eingeräumt, und untersuchten besonders mit frommer Aufmerksamkeit das Schlafcabinet, was den Mephistopheles Merck zu der Motivirung veranlaßte: „die frommen Seelen wollten doch sehen, wo man den Herrn hingelegt habe.“

Goethe wollte die Gelegenheit, des Zusammenseins mit dem bedeutenden Manne froh zu werden, so gründlich wie möglich ausnützen. Er schloß sich Lavater an, als dieser seine Reise nach Ems fortsetzte. Von Gesellschaft aller Art umringt, ließ er ihn dort zurück, als ihn seine Geschäfte in die Vaterstadt Frankfurt zurückriefen. Aber hier stand ihm eine neue Unterbrechung seiner Ruhe und Thätigkeit bevor. Ein zweiter Prophet, der mit seinem lebendigen Worte die Welt zu gewinnen, aber zu Zwecken ganz anderer Art dienstbar zu machen gedachte, ein dem ersten in jedem Zuge seines Wesens ganz entgegengesetzt Gearteter traf ein: Basedow. Auch er bedarf keiner Einführung bei unsern Lesern. Die von ihm nach Rousseau’schen Principien zu Dessau begründete, obschon nur kurze Zeit von ihm geleitete Erziehungsanstalt, das Philanthropin, hat, trotz vieler Abirrungen, wesentlich dazu beigetragen, einer naturgemäßern gesündern Pädagogik Bahn zu brechen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_598.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)