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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

für ihn nur einer geringen Uebung, um selbst von Lindnern sich anreden lassen zu können. Aber man redet ihn eben nicht an. Ueber dem Werke vergißt man den Meister, und nur dieselbe große Charaktereigenthümlichkeit, welche das deutsche Volk zum Träger des patrimonial-monarchischen Princips macht, kann den ersten Bassisten erheben und ihn im Gefühl seines innern Werthes den nie zu erlangenden äußern Erfolg verschmerzen lassen.

Die Ansprüche an seine Leistungen sind die bedeutendsten und können es sein, denn er kennt keine Schwierigkeiten. Er singt und raucht, was ihm vor’s Rohr kommt, und mit unfehlbarer Sicherheit mischt er mit dem zweiten Tenor die Farben zu den Effecten, welche erster Tenor und zweiter Baß ausnutzen. Trotzdem wird ihm auch im Verein kein Dank, er bleibt auch hier der dienende Bruder. Als armer Ritter des Ordens trägt er alle Mühseligkeit des Dienstes, ohne mit dem glänzenden Bande der Capitelherren geschmückt zu werden. Jene bevorzugteren Stimmen behandeln ihn nur als Genus, und es ist nicht zu verwundern, wenn es bisweilen den Anschein gewinnt, als ob er durch diese ewige Unterdrückung endlich wie Aschenbrödel den Muth verloren habe für etwas gelten zu wollen. Dem ist aber in der That nicht so. Seine heißen Gefühle schlummern nur unter der Decke tiefer Philosophie, aber dann und wann, wenn sie auf Verständniß stoßen, zucken sie lodernd hervor. Ich habe einst den unendlich dankbaren Blick beobachtet, der sich von der befreiten Seele eines ersten Bassisten losrang, als bei einem Ständchen die gefeierte schöne Dame des Hauses, nachdem sie sich mit allen übrigen Sängern bereits unterhalten hatte, schließlich zu einem einsam von ferne Stehenden mit der Frage wandte, welche Stimme er denn sänge. Er war offenbar überrascht, daß von Leuten seines Tones Notiz genommen wurde.

„Nun, ich singe eigentlich – ich bin erster Baß,“ klang es förmlich kleinlaut.

„Ah, also Bariton.“

Ich will nicht darauf schwören, aber ich glaube es nicht, daß den also Bezeichneten ein beseligenderer Stolz erfaßt hätte, wenn plötzlich der englische Premierminister zur Thür hereingekommen wäre, vor ihm die Kniee gebeugt und ihn angeredet hätte: „Sir, die graziöseste Königin der Welt hat von Ihren schönen Eigenschaften vernommen, und seit Ihre Majestät Sie, hochedler Lord, voriges Jahr gesehen, vermag sie Ihr Bild nicht aus ihrem Herzen zu bannen. Sie bietet Ihnen Herz und Hand. Sind Sie gleicher Meinung, so bin ich beauftragt, Sie, den Herzog von Cumberland, durch dies Band unter die Zahl der Ritter vom Hosenband-Orden aufzunehmen.“ Er, der haufenweise erste Baß, war von einer schönen Dame „Bariton“ genannt worden, das war ihm in seinem ganzen Leben zum ersten Male passirt; in diesem Wort lagen für ihn alle Standeserhöhungen der Welt. Seit dieser Zeit ging er auch ganz still herum; dann und wann griff er in die Luft nach Händen, die er zu drücken ein unbesiegbares Bedürfniß hatte; kurz über sein Wesen breitete sich ein seliger Friede, wie ihn nur ein Mädchenherz empfinden kann, welches von dem Heißgeliebten zum ersten Male „mein süßes Leben“ oder dergleichen genannt worden ist. Im großen Ganzen unterliegt der erste Baß im spätern Alter erst dem Gott mit verbundenen Augen, und seine ausgedehnten Beziehungen zu dem weiblichen Theile der „kohlensauren Trinkhallen“ haben zur Zeit noch vorwiegend diätetische Beweggründe.

Das ist total anders bei seinem, was Stellung anbelangt, gleich unglücklichen Genossen, dem zweiten Tenor. Bei diesem bleibt das ein ewiger Conflict, was sich bei dem ersten Baß so schön ausgeglichen hat. Der zweite Tenor ist eine in sich zernichtete Lilie, und sein Pflichteifer, sein Gesangsfanatismus müssen Jeden in die tiefste Mitleidenschaft versetzen, der je einen Blick in das Innere eines dieser Armen gethan hat. Bis zur Stellung eines überall gefeierten ersten Hochsängers fehlen demselben, wie er sich fortwährend selber sagt, nur einige wenige Töne, aber diese sind eben unerreichbar. Wenn Jemand in der Lotterie ein Loos gespielt hat, dessen Nummer von der mit dem Hunderttausendthalergewinn gezogenen etwa gerade nur um zehn verschieden war, so kann man sicher sein, in der nächsten Zeit einer Stimmung bei ihm zu begegnen, die mit einem Absud von Seidelbast die größte Verwandtschaft hat. Aber sie legt sich doch allmählich. Nicht so beim zweiten Tenor, der sein ganzes Leben an der Pforte der schönsten Triumphe steht, aber trotz Hängen und Würgen nicht hindurchkommt. Warum nur nicht? Bin ich denn ein zu großer Verbrecher? murrt er täglich gegen sein Schicksal. Trotzdem erreicht er ein hohes Alter, sein ägrirtes Gemüth conservirt ihn wie Holzessig.

Die große Menge hat für ihn keine Aufmunterung, und das ist weiter nichts als der schwärzeste Undank. Auf die genaue Erkenntniß dieser unnatürlichen Verhältnisse stützt sich auch die beim letzten Juristentage von einem unserer berühmtesten Criminalisten verfochtene Ansicht, daß bei der Beurtheilung staatsgefährlicher Verbrechen der beigebrachte Beweis „ist zweiter Tenor“ als ein wesentlicher Milderungsgrund angesehen werden müsse. Es ist ein großes Glück für alle bestehenden Verhältnisse, daß der erste Baß durch seine unmittelbare Nähe den besänftigendsten Einfluß auf seinen Schicksalsgenossen ausüben kann. Seine Wirkung wird aber ganz besonders noch verstärkt durch jene Shakespeareschen „guten Leute“, die hauptsächlich zu Winters Anfang stromweis in die Liedertafel treten, weil sie durch eine gewissenhafte Berechnung zu der Ueberzeugung gekommen sind, daß sie bei einem einigermaßen harten Winter als Sangesgenossen die allerbilligste Calefaction genießen. Sie werden ohne Probe vom Herrn Director in die Mittelstimmen verwiesen, hier können sie nie schaden, denn der Tenorschlüssel verblüfft sie von vornherein wie ein Drudenfuß. Sie erkennen ihre Stellung sehr wohl und betrachten sich als Stipendiaten, welche überall zum Guten zu reden haben. Sie sind das „lindernde Oel“, um welches Hero die Götter bat, so lange nicht Extrasteuern ihren anfänglichen Ueberschlag über den Haufen werfen. In diesem Falle können sie aber plötzlich ihren Austritt anmelden, und dem natürlichen Lauf der Dinge gemäß erfolgte dies früher, wo die großen Gesangfeste noch nicht ihre zauberische Anziehungskraft bewähren konnten, am häufigsten zur Zeit der Frühjahrsäquinoctien.

Sobald die Polyhymnia mit Fahne und Trinkhorn mobil gemacht ist, nennen sich ihre Mitglieder „Sangesbrüder“ – und sie begiebt sich, nachdem mit unsäglichen Mühen von den Eisenbahnverwaltungen ermäßigte Fahrpreise ausgewirkt worden sind, von Thränen und Gebeten der Zurückbleibenden begleitet, auf den Kriegspfad. Die administrative Leitung dieser ersten Unternehmung ist dem sogenannten „Onkel“ übergeben worden, einem alten Garçon, der sich in der kleinen Stadt zur Ruhe gesetzt hat und seine halbofficielle Stellung dem Renommée verdankt, in seinen jungen Jahren bei der Begründung einer Liedertafel betheiligt gewesen zu sein. Er hat sich zwar aus seiner musikalischen Vergangenheit nichts weiter gerettet, als den höchst gefühlvollen Vortrag des Liedes: „Ich lobe mir das Kegelschieben“; allein das genügte vollständig, ihm in Hinblick auf seine im Uebrigen geordneten Vermögensverhältnisse das Amt eines Cassirers zu übertragen. Leider sterben die „Stifter“, jene liebenswürdigen alten Knaben, die auf den Gesangfesten zur Zeit noch eine besondere muntere Classe bilden, nach und nach ganz aus. Für den jungen Verein ist übrigens der erste Zug zu einem allgemeinen Gesangfest ein bängliches Unternehmen. Späterhin erlangen die Einzelnen aber durch häufige Uebung eine virtuose Sicherheit, die jedem Dritten bewundernde Achtung abnöthigt.

Ich besuchte vor mehreren Jahren einen Universitätsfreund. Derselbe war ein beliebter Arzt in einer Stadt, in der gerade ein Gesangfest gefeiert werden sollte. Natürlich war er im Festcomité. Eines Mittags kommt der Mann ganz seelenvergnügt nach Hause: „Frauchen, wir bekommen sechs Sänger – einen aus Wolfenbüttel, zwei aus Ritzebüttel, einen vom Wiener Männergesangverein, den Cantor aus Unterschindmaß, einen aus Heiligenblut und einen aus Heiligenkrenz – Donnerwetter! das sind ja sieben!“

Ich denke doch, die arme Frau rührt bei dieser Freudenbotschaft der Schlag.

„Aber lieber Mann, wie soll ich denn die beherbergen?“

Nun kurz und gut, sie wurden untergebracht, wie bei dergleichen Gelegenheiten Alles untergebracht wird, und einer wurde mir zugetheilt. Wir hatten aber schon auf sein Eintreffen resignirt; denn die übrigen sechs waren längst in ihren Clausen heimisch geworden, als mein Nächster immer noch fehlte. Da klopft es.

„Ganz ergebenster Diener. Wohnt hier der Herr Doctor R.?“ frug es zur Thüre herein und gleichzeitig erschien die persönliche Ursache, die sich ohne alle Ungewißheit sofort an die Wirthin wandte, „mein Name ist so und so, ich bin Sänger und habe diesen Quartierzettel für Sie erhalten. Hoffentlich komme ich Ihnen nicht ungelegen. Ich danke, gefrühstückt habe ich bereits. Ich bitte überhaupt, daß Sie sich so wenig wie möglich meinetwegen geniren.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_668.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)