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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

kam, war inzwischen durch eine Sou-Steuer der in den Schulen der „Doctrine chrétienne de la France“ unterrichteten Kinder aufgebaut worden. Derselbe hat sieben Meter (= zehn und eine halbe Elle) Höhe und kostet 15,000 Francs, was also, da jedes Kind nur vier Pfennige beisteuerte, auf eine Zahl von 300,000 Kindern hinweist, welche dem Orden anvertraut sind.

Das Standbild, welches ich hierbei unsern Lesern in treuer Abbildung zeige, ist nach meinem Geschmack eins der lieblichsten Erzeugnisse der modernen Plastik. Dasselbe stellt die Mutter mit dem Jesuskinde auf dem Arme dar, welches letztere seine Hand segnend über das Land ausstreckt. Das gesammte Denkmal macht einen Eindruck von Majestät, Festigkeit, Milde und Ruhe. Um von den Größenverhältnissen einen Begriff zu geben, dienen folgende Angaben. Die gesammte Statue wiegt 80,000 Kilogramm (= 160,000 Zollpfund) an Gußeisen; das Jesuskind allein 13,000 Kilogramm (= 26,000 Pfund). Die ganze Statue ist sechszehn Meter (= 24 preußische Ellen) hoch, also fast ebenso groß, wie die Bavaria bei München (26 Ellen), aber kleiner als die Borromäus-Statue bei Arona am Lago maggiore (33 Ellen). Sie ist innen hohl und mittels einer Wendeltreppe, die durch einzelne Fensterchen erleuchtet ist, zu besteigen.

Die Himmelskönigin (Notre Dame de France.
Standbild auf dem „Dyck von Corneille“ bei Le Puy.

Der Vorderarm, welcher das Kind trägt, ist drei und dreiviertel Meter lang, in seiner Höhlung können drei Männer der Länge nach, d. h. Kopf an Fuß, liegen. Wir standen drei Herren nebeneinander in dem Kopf, mit den Füßen oberhalb der Augenbrauen, und schauten über die stark vergoldete Krone, deren Spitzen aus Platin als Blitzableiter dienen, in das von solchem Standpunkt besonders herrliche Panorama hinaus, hoch wie Adler in der Luft schwebend.

Am 29. Juli 1859 waren die ersten Gußstücke aus Givors im Puy angekommen, und schon am 26. September desselben Jahres konnte die Enthüllung und Einweihung des Standbildes, welches den Namen „Notre Dame de France“ erhielt, stattfinden. Ich übergehe die Beschreibung der Festlichkeiten, welche sich nebst allen amtlichen Einzelheiten über das gesammte Unternehmen in einer besondern Broschüre des Herrn Charles Calemard de Lafayette, Präsidenten der Ackerbau- und Wissenschafts-Gesellschaft zu Puy, mitgetheilt findet. Auch will ich dem Leser nicht ausführlicher von der Stadt Le Puy erzählen, von ihren einzelnen mittelalterlichen Häusern, Mauern und Thürmen, ihrer alten geplünderten Kathedrale, ihren modernen Plätzen und Anlagen, besonders der Place du Breuil mit dem schönen Springbrunnen, wozu ein Bürger, Crochaquiers, nicht nur die Zeichnung, sondern auch das ganze Geld zur Herstellung geschenkt hat, ferner von dem großen neuerbauten Museum für Natur- und Kunstgegenstände, wozu ebenfalls schlichte Bürger die meisten Fonds gespendet haben. Alles das sieht sich besser in Person an und findet sich in den Reisehandbüchern.

Aber ich kann nicht ohne eine Nutzanwendung schließen, welche an meine eigenen Gesinnungsgenossen, an die Männer der naturwissenschaftlichen Schule, gerichtet ist. Die Geistlichkeit von Le Puy und ihr Zusammenwirken bei dieser Verherrlichung der Himmelskönigin giebt uns ein wohlzubeherzigendes Beispiel. Ich meine nicht, daß wir unsere ganz analogen Streitfragen über die Gültigkeit der Generatio aequivoca oder der Darwinschen Schöpfungslehre in ähnlicher Weise durch einen Machtspruch hoher Würdenträger unserer Wissenschaft ein für allemal entscheiden lassen sollen. Nein, aber beachten und bewundern sollen wir die bienenhafte Betriebsamkeit, mit welcher der Clerus das Werk der Dame de France ergriffen, gefördert und binnen wenig Jahren ausgeführt hat. Der Höchste und der Niedrigste, der Priester und der Lehrer, der Welt- und Ordensgeistliche, wie ihre Diener- und Laienschaft, haben brüderlich und eifrig dem gemeinsamen Zweck gedient, geschickt einander die Hände geboten und ohne persönlichen Vortheil zusammengearbeitet. Was bewegt diese Leute dazu? was befähigt sie zu solchen Anstrengungen und Erfolgen? Gewiß kein Machtgebot, sondern der Geist der Genossenschaft (esprit de corps), der Glaube an die Zukunft ihrer Sache, die Ueberzeugung, zur Weltherrschaft berufen zu sein, und der Wille, diesen Beruf mit allen Mitteln durchzusetzen. Dies sind die Motive, wie ich glaube, welche einen großen Theil der katholischen Cleriker beseelen – und in dieser Hinsicht sollten wir Naturforscher von ihnen lernen.

Auch wir dienen einer Sache, welche berufen ist, alle denkenden Köpfe zu erobern und durch sie die Welt zu beherrschen. Naturwissenschaftliche Kenntniß und Methode müssen in Zukunft jeden menschlichen Wissenszweig durchdringen, Kenntniß des wirklich Seienden und seiner Gesetze muß jedem Gebildeten zu eigen werden. Naturwissenschaftliche, beziehentlich statistische Thatsachen und Forschungsmethoden müssen in jeder Wissenschaft, sogar in den idealsten, im Geschichts-, Rechts-, Kunst- und Religionsgebiet, zu Grunde gelegt werden. Nichts Un- oder Übernatürliches darf in den Köpfen oder Schriften auf Kosten thatsächlicher Kenntnisse herrschen wollen. Was am Probestein der exacten Forschung nicht stichhaltig ist, muß aus dem Verzeichniß menschenwürdiger Kenntnisse gestrichen werden, darunter eine Menge abergläubischer, theils heidnischer, theils mittelalterlicher Vorstellungen, welche heutzutage noch allenthalben in den Köpfen, in Sprache und Schrift für baare Münze gelten.

Daß dies unsere Zukunftsaufgabe ist, werden wenige Naturforscher oder Aerzte im Allgemeinen leugnen. Aber diesem Berufe gemäß zu wirken, wie wenigen von ihnen fällt dies bei! Da sitzt der eine bei seinen Käfern, der andere bei Steinen, der dritte im Laboratorium, der vierte an den Krankenbetten; keiner kümmert sich um den andern, viel weniger um das Ganze, am wenigsten um die weltgeschichtliche Geisterbewegung. Schaut so Einer ja aus seinen archimedischen Kreisen heraus, so ist es nach einer besseren Professur oder Gehaltsvermehrung, einer akademischen Ehre, einem Orden oder einer sonstigen, für den Naturforscher ganz gehaltlosen menschlichen Gunstbezeigung. Die Bestrebungen, das Volk für die Naturwissenschaften zu gewinnen – was doch der einzige Weg ist, um letztere zur Weltherrschaft zu bringen – gelten bei vielen dieser Käuze als flache, einen echten Gelehrten unwürdige Rede- und Schreib-Uebungen. Die Mehrzahl der eigentlichen, d. h. der wirklichen Akademiemitglieder, Geheimenräthe etc., hält sich von solchen Bestrebungen ganz zurück; viele scheuen sich, die Consequenzen ihrer eigenen Forschungen zu ziehen oder, von Anderen gezogen, anzuerkennen. Wie ganz anders müßte Das sein, wenn in jedem Naturforscher und Arzt das Bewußtsein unseres Weltberufs, der Drang für die naturwissenschaftliche Aufklärung des Menschengeschlechts zu wirken, mächtig wäre; wenn jeder sich verpflichtet fühlte, nach seinen Kräften mitzuarbeiten an der Erlösung der Menschenseelen aus tausendjähriger Verdummung und Abergläubigkeit! In dieser Hinsicht möge uns Allen der Eifer und Gemeingeist der Klerikalen von Puy zum nachahmenswerten Beispiel dienen.

Dr. H. E. Richter in Dresden. 
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 813. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_813.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)