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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

armen Bauern, denen man ihre letzten Blutkreuzer abgepreßt hat unschuldiger Weis’, da hat Sie wohl auf die Barmherzigkeit vergessen? Warum hat Sie bei Ihrem Mann nicht auch für die Bauernkinder gebeten? Sie meint wohl, weil die Bauern keine solchen seidenen Flanken am Leib’ und keinen solchen Kakadu auf dem Kopf haben, sie seien schlechter? Sie meint wohl, um einen Bauernbuben sei weniger schade, als um einen Amtmannssohn? … Aber wer sagt denn, daß ich dem Amtmann was zu Leid’ thun will? Er darf nur thun, was ich verlang’, dann sind wir die besten Freund’!“

„O gern, gern … Alles!“ rief die Frau sich erhebend.

„Was verlangt der Herr?“ fragte der Amtmann, ebenfalls leichter Athem schöpfend.

„Gar nichts, als daß der Herr Amtmann die fünfhundert Gulden Strafgeld wieder herausgiebt, die gestern den Bauern abgenommen worden sind …“

„Das kann und darf ich nicht,“ sagte der Amtmann, „das Geld gehört nicht mir, sondern dem Herrn Reichsbaron …“

„Nein, den Bauern gehört’s, und die sollen’s wieder haben! Mach’ der Herr Amtmann keine Umstände, sonst weiß ich die Casse selber zu finden!“

„Aber,“ rief der Amtmann, sich etwas ermannend, „das ist ja offenbare Gewalt!“

„Gewiß, Herr … mit Gutem geht’s nicht, folglich muß es mit Gewalt gehn! Vorwärts – ich hab’ keine Zeit zu versäumen, also her mit den fünfhundert Gulden, und dann wird der Herr ein Einsehen haben und wird für meine Müh’, für die Zeitversäumniß und den Gang fünfzig Gulden beilegen … ein anderer Advocat thät’ mehr verlangen und doch nichts ausrichten!“

„Himmelschreiend!“ stammelte der Bedrohte.

„Ei was, in dem Haus ist wohl schon mehr geschehen, was gegen den Himmel schreit – da geht’s in einer Rechnung hin! Vorwärts also – wenn die Obrigkeit nicht mehr weiß, was Recht ist, dann muß unsereiner es ihr zeigen! … Schau’ mich der Herr nur an, als wenn Er mich mit den Augen spießen möcht’, ich fürcht’ Ihn nicht: ich bin kein Räuber und kein Dieb! Ich thu’, was die Regierung thun sollt’, wobei sie mir helfen sollt’, wenn Alles nach dem Rechten ging’ … statt dessen verfolgt sie mich wie einen Uebelthäter und zwingt mich, daß ich mich meiner Haut wehren muß … die hat Alles zu verantworten, was geschieht!“

(Fortsetzung folgt.)




Mühlhausen, das Eldorado der Arbeiter.
Von Albert Grün.
I.
Ein Elsässer Landpfarrer und der Pact mit ihm. – Die Villen der Mülhäuser Nabobs. – Die Société Industrielle. – Die Köchlin und die Dollfus. – Deutschland in der Altstadt und Frankreich im „Neuen Viertel“. – Das Aeußere der „Arbeiterstadt“. – Das Innere eines Arbeiterhauses. – Schwester und Brüder. – „Hier ist’s schön!“ – Die Oberstube mit ihren Zeichnungen. – Dr. Martin Luther und der katholische Artillerist. – Der Husten des Pfarrers.


In der elsässischen Stadt Münster machte Napoleon der Dritte vor Jahren einen Besuch bei dem reichen Fabrikanten Hartmann. Die Sache gab den Pariser Zeitungen viel zu reden. Die eine rühmte die Leutseligkeit des Gastes, die andere des Wirthes prachtvolle Zubereitungen; den höheren, den historischen Standpunkt aber wählte eins der gelesensten Blätter, indem es auf die Bedeutsamkeit hinwies, welche die Anwesenheit Napoleon’s an einem Orte habe, wo vor zweihundert Jahren der – westphälische Frieden geschlossen worden!

Ungleich verzeihlicher wäre es, wenn ein Freund der Gartenlaube beim Lesen der Ueberschrift bereits die liebe Unstrut, die sich in die Saale ergießt, sammt der berühmten Marienkirche und der Richtstätte Thomas Münzer’s gewittert hätte, sintemalen das thüringische Mühlhausen ja auch seine Fabriken, mithin auch seine Arbeiter hat. Wir beeilen uns also, zu sagen, daß unser Mülhausen die altehrwürdige Stadt des oberen Elsasses ist, die schon Rudolf von Habsburg zur freien Reichsstadt erhob, die, zu Luther’s Zeit der schweizerischen Eidgenossenschaft beigetreten, zum oberrheinischen Kreise des weiland deutschen Reiches zählte und länger als das ganze übrige Elsaß daran festhielt, da sie sich erst im Verlaufe der großen Revolution mit Frankreich vereinigte. Was aber die Mülhäuser „Arbeiterstadt“ ist, von der die Zeitungen so viel gesprochen, das wußte ich selbst lange nur vom Hörensagen, bis ich mich einmal kurz und gut entschloß, das Ding mit eigenen Augen zu betrachten. Ob es der Mühe verlohnte, mag der geneigte Leser, dem ich meine Fahrt in der zwanglosesten Weise erzählen will, schließlich selbst entscheiden. Für etwelche Blicke nach rechts oder links brauche ich wohl kaum um Entschuldigung zu bitten; hört doch der Deutsche so gern vom Elsässer reden, wie jeder gemüthliche Mensch vom Onkel Carl oder Fritz, der sich zu Olim’s Zeiten in der Fremde angesiedelt.

Es war im letzten Januar, als ich in Straßburg den Baseler Bahnzug bestieg, der den etwa zwölf Meilen langen Weg nach Mülhausen in vier Stunden zurücklegt. In meinem Coupé nahm ein Herr in schwarzem Anzuge Platz, nach Haltung, Miene und Haarscheitelung augenscheinlich ein protestantischer Landgeistlicher. Ich liebe diese Herren im Elsaß, denn, abgesehen von ihrer Gemüthlichkeit und aus dem Herzen stammenden Gastfreiheit, stehen sie fast sammt und sonders für das Deutsche in Kirche und Schule ein. Auch brach ich die erste Gelegenheit vom Zaune, ihn in meiner Muttersprache anzureden, und sah mit Vergnügen, wie er bald so zutraulich wurde, als der gewohnte Kanzelton nur irgend zuließ. Unsere Unterhaltung lenkte sich auf die Zeit und ihre Fragen, und mein Pfarrer hatte sich allmählich in heiligen Eifer geredet, um schließlich in das bekannte Anathema gegen die rein verständige, selbstsüchtige materialistische Richtung auszubrechen, die nun einmal Alles beherrsche.

„Keiner denkt der Andern,“ sagte er. „Hingebung, Selbstverleugnung, Aufopferung, wie sie ein Pfarrer Oberlin im Steinthal, wie sie der blinde Pfeffel“ – wir fuhren eben an dessen Vaterstadt Colmar vorbei – „gekannt und geübt, werden täglich seltener; die ganze Welt ist eben kaufmännisch.“

„Schelten Sie mir,“ unterbrach ich ihn lächelnd, „die Kaufleute nicht, am Wenigsten hier im oberrheinischen Departement. Wie riesig waren nicht die Opfer, die sie noch neuerlich, zur Zeit der höchsten Baumwollnoth, ihren Arbeitern brachten! Und,“ setzte ich schnell hinzu, „kennen Sie die ‚Arbeiterstadt’ in Mülhausen? Und wollen Sie sich dort überzeugen, daß unser heutiger Materialismus wohl im Stande ist dahin zu wirken, daß der Mensch auch ein möglichst geistiges Dasein führen könne?“

Er verneinte es, bezeigte auch kein großes Verlangen, diese neue Welt kennen zu lernen. „Kommen Sie mit mir!“ bat ich, einem plötzlichen Einfalle folgend; „ich bin eben im Begriffe, sie aufzusuchen, und einen Tag haben Sie ja wohl zur Verfügung.“

Er überlegte und fand schließlich die Sache in Wahrheit thunlich. Mit einem entschiedenen „Es sei!“ legte er seine Hand in die meinige. „Aber,“ fügte er warnend bei, „Sie werden einen strengen Kritiker finden.“

„Desto bester,“ erwiderte ich, „auch ich liebe es nicht, die Augen am hellen Tage zu schließen.“

Der Zug brauste weiter, wir schauten uns schweigend, ohne Mißtrauen an, und bald mahnte uns der Ruf „Mulhouse“, der wie ein Pelotonfeuer längs des Zuges hindröhnte, daß wir am Ziele seien.

Wir stiegen aus. Die sonst von Norden nach Süden laufende Bahn macht hier eine so starke Schwenkung, daß sie sich fast westöstlich hinter der Stadt hinzieht. Diese liegt somit nördlich vom Bahnhofe und auf der entgegengesetzten Seite erhebt sich eine Hügelkette, die sich sogleich als den geeignetsten Standpunkt für eine Ueberschau ankündigt. Dem Chemin dit Bergasse (so französirt der Wegweiser Berggasse) folgend, erstiegen wir sie vor Allem. Die ganze Anhöhe ist mit Landhäusern und Luxusgärten voll zierlicher Treppchen, Glorietten und Schweizerhäuschen bedeckt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_300.jpg&oldid=- (Version vom 16.11.2022)