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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

auf den 6. April 1850 anzusetzen. Temme wurde freigesprochen und endlich seiner Haft entlassen.

Leider war er damit noch nicht am Ziel der gegen ihn verhängten Verfolgungen angelangt. Das vermeintliche Verbrechen der Betheiligung am Stuttgarter Parlament mußte nun, in Verbindung mit des Verfolgten Beschwerdeschriften an den Justizminister gegen das Münstersche Gericht, zu einer Disciplinaruntersuchung gegen ihn dienen. Man machte ihm zugleich den Vorwurf, seine Amtspflichten verletzt zu haben, weil er während seiner Suspension sich zur Ertheilung von Rechtsgutachten angeboten. Man zog einen bei Waldeck gefundenen Brief herbei, der schon im früheren Processe figurirt hatte; kurz, man wollte nun einmal den mißliebigen Staatsdiener aus dem Amte entfernen, und man fand die Mittel dazu.

Die auf den Fall bezüglichen Gesetze reichten freilich nicht hin, doch es existirte eine Verordnung vom 10. Juli 1849. Wie das Obertribunal selbst erklärte, waren sämmtliche Handlungen des Angeklagten vor der Publication dieser Verordnung vorgefallen; dennoch verurtheilte ihn dasselbe Gericht auf Grund jener Verordnung zur Dienstentlassung und dem vollen Verlust seiner Pension und lieferte damit ein Beispiel der Rückanwendung eines späteren Strafgesetzes auf einen frühern Fall, das in den Annalen der gesammten europäischen Rechtspflege bis dahin unerhört war und auch seitdem einzig und allein geblieben ist. Ja, dasselbe Obertribunal zu Berlin erkannte wenige Monate später in einem gleichliegenden Falle gegen den Oberlandesgerichts-Assessor Martiny, daß, da die sämmtlichen diesem Angeschuldigten zur Last gelegten Handlungen vor der Publication des Disciplinargesetzes vorgefallen seien, dieses nicht zur Anwendung kommen könne und Martiny außer Verfolgung zu setzen sei. Die Entscheidung wurde freilich auf Veranlassung des damaligen Justizministers lange geheim gehalten, und Martiny selbst erfuhr erst nach einigen Jahren jenen rechtlichen Grund des Fallenlassenn der Anklage wider ihn von Seite der Staatsanwaltschaft. Das verdammende Urtheil gegen Temme ließ man bestehen. Von diesem Urtheil des höchsten Gerichtshofs zu Berlin datirt jene Epoche der preußischen Rechtspflege, die überall ebenso sehr mit Erstaunen wie mit Schmerz erfüllt.

Dreiunddreißig Jahre hatte Teinme seine Kräfte dem Dienste des Staates gewidmet. Er war vor allen Justizbeamten Preußens dadurch ausgezeichnet worden, daß man ihn beinahe regelmäßig von zwei zu zwei Jahren in schwierige Aemter beförderte, die jedesmal, wie der Justizminister Mühler selbst bemerkte, besondere Rechtskenntniß, Energie, Fleiß und Eifer erforderten. Zu einer Zeit und in einer Lage, wo er auf Pension Anspruch machen konnte, wurde er wegen seiner Liebe zum Volke, wegen seiner unbeugsamen Gesinnung der gesetzlichen Ansprüche auf einen Ruhegehalt beraubt.

Er übernahm die Redaction der Oderzeitung. Man wußte ihm jedoch durch polizeiliche Haussuchungen etc. seinen Aufenthalt in Breslau so sehr zu verleiden, daß er mit Freuden eine Professur an der Universität in Zürich annahm, welche ihm die republikanischen Schweizerbehörden bereitwilligst anboten. Im Jahr 1863 bekanntlich von Neuem in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, legte er ein Jahr später sein Mandat freiwillig nieder.

Schon frühe hatte Temme sich literarischer Thätigkeit gewidmet. Seine juridischen Schriften sind sehr zahlreich und haben ihm den Ruf eines bedeutenden Rechtsgelehrten erworben. Allgemein bekannter ist Temme durch seine Romane und Criminalgeschichten, die ihn in die Zahl unserer gelesensten und geschätztesten Erzähler einreihen. Vor mehr als dreißig Jahren erschienen seine ersten Novellen und sein erster größerer Roman „die Kinder der Sünde“ unter dem angenommenen Namen H. Stahl. Mit seinem wirklichen Namen trat Temme erst 1831 in die Oeffentlichkeit als Verfasser der westphälischen Sagen und Geschichten. An dieselben schießt sich eine Sammlung Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens, welche er gemeinschaftlich mit T. von Tettau[WS 1] 1837 herausgab. Ihr folgten 1839 die Volkssagen der Altmark und endlich 1840 die Volkssagen von Pommern und Rügen. So wußte dieser echt deutsche unermüdliche Arbeiter auch auf seinen Beamtenwanderungen durch alle Provinzen des preußischen Staates überall duftige Sträuße unvergänglicher Volkspoesie zu sammeln. Bedeutender wird seine schriftstellerische Thätigkeit mit seiner Uebersiedlung in die Schweiz, namentlich seit er durch die „Gartenlaube“ dem größten deutschen Leserkreise bekannt und lieb geworden ist. Von hier aus eroberte er sich trotz aller Ungunst äußerer Verhältnisse und der Camaraderie in den literarischen Kreisen seiner Heimath einen festen Platz unter den deutschen Erzählern.

„Tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux“ (alle Arten sind gut, nur nicht das langweilige), ist ein bekannter Ausspruch Voltaire’s. Wenn man von Temme sagen kann, daß er niemals langweilig ist, so ist dies ein um so größeres Lob, als leider nur wenige deutsche Novellisten es verdienen. Temme besitzt eine reiche, wir dürfen sagen unerschöpfliche Phantasie. Von der allgemeinen Krankheit unserer deutschen Romanschriftsteller, Mangel an Erfindungsgabe, hatte er nie Etwas zu befürchten. Sein wechselvolles Leben, sein langjähriges Amt als Criminalrichter, brachten ihn in tägliche Berührung mit allen Kreisen der Gesellschaft. Er hatte wohl das Laster in seinen entsetzlichsten Erscheinungen beobachten müssen, aber das „Steinige! Steinige!“ der Pharisäer war ihm stets verhaßt geblieben. Sein Gemüth hatte ihn vielmehr immer dazu geführt, die ersten Irrwege des Verbrechers aufzusuchen, die leitenden Fäden seines Geschickes zu verfolgen, den finstern Schleier wegzuheben, der uns wehrte. in der schrecklichen Gestalt des Missethäters die ursprüngliche gottähnliche Menschengestalt zu erkennen. Sein tiefes Mitleid begleitet den Gefallenen bis zum Moment der Sühne.

Wir sind lange genug mit den romantisch-verschwommenen Gebilden einer geträumten Welt genährt worden und wissen es der gegenwärtigen Literatur Dank, daß sie es wiederum versucht, uns die wirkliche Welt in idealem Bilde vorzuführen. Eine heftige realistische Reaction macht sich unter den heutigen Schriftstellern geltend. Es ist dies eine gesunde Erscheinung, die wohl da und dort das rechte Maß verliert, aber hoffentlich zu einer Erneuerung der großen Tage deutscher Dichtkunst führen wird.

Die Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre bildete ein Volk von Träumern, das den Augenblick verpaßte, den die Geschichte ihm einmal geboten. Diejenige der Gegenwart soll Männer bilden und deshalb muß sie realistisch sein, das Leben unserer Generation mit seinem allseitigen Ringen und Streben, seinen Genüssen und seinem Jammer in allen Gesellschaftsschichten ergreifend und nachwirkend schildern. Mit manchem andern deutschen Schriftsteller hat Temme diese Aufgabe begriffen und redlich verfolgt. Schnell fortschreitende und dabei spannende Handlung ist freilich die charakteristischste Seite seiner Erzählungen, doch diese Handlung ist nicht nur eine äußerliche, willkürlich ersonnene; sie entwickelt sich durchgängig aus lebendigen, vor unsern Augen wirkenden Charakteren, bei denen der Dichter es an dem unentbehrlichen Salz der Contraste nicht fehlen läßt. Seine Scenerie ist außerordentlich mannigfaltig, wie die Welt, welche er schildert. Er bewegt sich nicht etwa vorzugsweise in den abstoßenden Schlupfwinkeln des Verbrechens, in Gefängnißräumen und Gerichtssälen; auch im schimmernden Paradesaal des Geburts- und Börsenadels wie im nüchternen Wohnzimmer des Handwerksmanns, im duftigen Boudoir einer Weltdame wie in der ärmlichen Dachstube einer Nähterin ist er zu Hause, und wenn er schonungslos der Heuchelei ihre Larve abreißt, der prangenden Niederträchtigkeit ihre bunten Lappen zerfetzt, stets führt er uns doch mit Vorliebe in den Kreis bürgerlicher Thätigkeit, wo unberührt vom Getriebe wilder Leidenschaften ein genügsames Glück sich aufbaut durch regen Fleiß und fromme Menschenliebe.

Temme hat sich einen ihm eigenthümlichen Styl geschaffen, er ist ein Feind langer Perioden. Die kurzen, knappen Sätze (manchmal etwas gar zu knapp) verleihen seiner Darstellung eine Lebendigkeit, welche in den Novellen und kleineren Erzählungen, die ihrer Natur nach jedes unnütze Beiwerk ausschließen, die Wirkung außerordentlich erhöht, seinen größeren Romanen dagegen Eintrag thut. Hier gelüstete uns manchmal, uns an einem stillen, schattigen Plätzchen auszuruhen und traulich ein Wörtchen mit dem Dichter zu plaudern. Doch der reißt uns unaufhaltsam fort mit dem Strome seiner Erzählung und läßt uns nicht eher los, als bis wir am Ende sind.

Möge es Temme vergönnt sein, noch recht viele Bilder menschlicher Wirrsale und Kämpfe dichterisch darzustellen. Das Volk wird seine Erzählungen stets dankbar aufnehmen, denn es fühlt dabei, daß hier Einer spricht, der mit ihm gelitten und gestritten hat.



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