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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

vor, wie unendlich schwer es für einen Mann wäre, durch schriftstellerische Arbeiten sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben. Man könne das nur durch größere dramatische Arbeiten oder erzählende Schriften, oder auch als geistreicher Publicist und Feuilletonist, wozu aber unbedingt Leben und Bewegen in einer großen Stadt gehöre. Mit kleinen Gedichten, und wären sie noch so schön, ließe sich nicht viel verdienen. Ich bat ihn, sich zu prüfen, ob er glaube, größeren Arbeiten gewachsen zu sein; ich bat ihn geradezu, sich nicht dadurch verleiten zu lassen, daß ihm ein paar hübsche Gedichte gelungen seien. Diese bewiesen noch nichts für die Nachhaltigkeit seines Talents. Ich erinnerte ihn an Schiller’s trefflichen Ausspruch:

„Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein.“

Holder hörte mich an, widersprach, gab zu, widersprach wieder und schied endlich von mir etwas empfindlich, aber von meinen Worten nicht überzeugt.

Bald darauf erfuhr ich, er habe seinen Vorsatz ausgeführt, sein Geschäft verkauft und sei nach Heidelberg gegangen, um dort zu studiren.

Nach einigen Jahren kam er zurück. Anfangs vermied er mich, ich erfuhr nur von Andern, daß er wieder da sei und nach seiner alten Gewohnheit fleißig „kneipe“. Indessen suchte er mich bald auf. Er brachte mir ein Lustspiel in zwei Aufzügen und bat mich um meine Vermittelung bei der Theaterdirection, daß es zur Aufführung käme. Aus seinen halben Andeutungen entnahm ich, daß er das Geld, welches er für sein Geschäft erhalten hatte, in Heidelberg glücklich verstudirt habe und daß ihm viel an dem Erfolge seines Stückes läge – da er eine Einnahme brauche. Ich las das Stück. Es war tief unter der Mittelmäßigkeit, es konnte keinen Erfolg haben. Zu den unangenehmsten Aufgaben im Leben gehört es, von einem Autor zur Beurtheilung eines seiner Werke aufgefordert zu werden und dasselbe tadeln zu müssen.

Will man sich nicht mit allgemeinen Redensarten durchhelfen, will man redlich sein und seine volle Ueberzeugung aussprechen, so erwirbt man sich regelmäßig einen Feind. Ich konnte mich dennoch nicht entschließen, Holder meine Meinung vorzuenthalten – er hat mir meinen Tadel später niemals vergessen. Indessen im Augenblick bedurfte er meiner Vermittelung, er unterdrückte seine Empfindlichkeit und bat mich trotz meines ungünstigen Urtheils das Meinige zu thun, um das Stück auf die Bühne zu bringen. Holder war ein bekannter Mann in ****, seine Name auf dem Zettel versprach ein besuchtes Haus, das kleine Stück war leicht zu geben und so ging die Theaterdirection auf seinen Wunsch ein. Der Erfolg bestätigte mein Urtheil. Das Stück fiel durch.

Es verging darnach längere Zeit, in der ich Holder nicht sah. Es kam das Jahr 1848. Auch in **** waren Aufregung, Unruhe, kurz alle die Erscheinungen, die jene Zeit bot. Da begegnete ich eines Tages Holder. Er ging dicht an mir vorüber, maß mich von oben bis unten mit verächtlichem Blicke und grüßte mich nicht. Ich war erstaunt, doch das Räthsel seines Benehmens war leicht gelöst. Holder gehörte der äußersten Linken an und war, obschon kein guter Sprecher, doch einer der lebhaftesten Agitatoren. Die Bewegungen in **** hatten eine entschieden communistische Färbung. „Bei der Theilung bekommt Jeder achtzehntausend Thaler,“ war das Axiom, an das ein zahlreiches Proletariat glaubte, wie an das Evangelium. Im Sinne dieser communistischen Partei erschien ein kleines Sudelblatt, das eine rothe Fahne als Vignette trug und in cynischer Weise zum tausendsten Male wiederkäute, was zum Ueberdruß schon neunhundert neunundneunzig Mal gesagt worden war. Von Geist, von Phantasie, von eigenen Gedanken war in dem Blättchen nicht die Rede, nur vom Nachbeten dessen, was andere große Zeitungen in besserer Form gaben.[1]

Der Redacteur und Herausgeber jenes Blättchens war Holder. Seltsamer Umschwung! Holder, ein Mann, der sich nie um den Staat, um Politik gekümmert hatte, der ohne alle Kenntniß der Geschichte war, der bis dahin nichts wollte und konnte, als mit guten Gesellen beim Näpfchen sitzen, der harmlose, gutmüthige Mensch, dessen frühere Lieder nach ganz andern Richtungen gingen, war ein rother Communist der cynischsten Art geworden. Hätte er sein kleines Geschäft noch gehabt, ich bin überzeugt, die Politik wäre ihm fern geblieben oder er wäre nicht zu dieser Partei gerathen. Aber so war er arm, er war von seinem Talent überzeugt, er fühlte sich zurückgesetzt, verkannt, er war durch und durch verbittert, und so kehrte sich sein Unmuth gegen die Besitzenden. Diese verkannten ihn ja, diese zollten ihm nicht den Tribut, den er zu verdienen meinte, diese waren demnach seine Feinde. Und so schloß er sich denen an, die den Besitzenden gleichfalls feindlich waren und die ihm als einem der Führer der Partei Geltung gewährten. Denn Geltung zu gewinnen ist das Streben aller halben Talente, mag es zuletzt sein in welcher Richtung es wolle.

Die Zeit der Aufregung ging vorüber, die Reaction gewann die Oberhand, jenes kleine Blättchen war schon früher verschwunden. Die Proletarier wollten wohl theilen, aber sie wollten die Kraftergüsse Holder’s nicht bezahlen, deren sie genug umsonst in jeder Volksversammlung hören konnten.

Wieder mochten einige Jahre vergangen sein, in denen ich von Holder nichts hörte, ihn nicht sah. Seine Pläne für die Laufbahn eines Schriftstellers blieben unausgeführt. Kein Gedicht, keine Erzählung, kein Drama kam von ihm zum Vorschein. Da fand ich eines Tages in der Zeitung einen kleinen Aufsatz mit einem Vorschlage – über Sprachverbesserung. Der Aufsatz war so geistlos, so albern, so ohne alle Sprachkenntniß, daß ich mich ärgerte, ihn in der sonst so trefflichen Zeitung zu finden. Als ich ausging, traf ich den Redacteur des Blattes und fragte ihn, von wem der Aufsatz sei. Er erwiderte mir: „Von Holder.“ „Aber wie können Sie etwas so Albernes aufnehmen?“ frug ich weiter.

Der Redacteur zuckte mit den Achseln und entgegnete nur: „Je nun, er brauchte die paar Thaler Honorar.“

Es war ein braver Mann, der Redacteur, der keine Beleidigung nachtrug, denn er besonders war von Holder in jenem Sudelblättchen mit Schmutz und Koth beworfen worden. Ich ging weiter. Als ich um die nächste Straßenecke bog, stieß ich auf Holder. Es war im kalten Winter. Er trug einen dünnen Sommerrock, seine Stiefeln waren zerrissen, er war mager geworden und sah blaß und elend aus. Ich stutzte und blieb unwillkürlich stehen, ich wollte ihn anreden. Doch ohne mich anzusehen, zog er höflich seinen Hut ab und ging an mir vorüber. Ich begriff jetzt, warum der Redacteur jenen Aufsatz abgedruckt hatte. Welch ein Abstand! Als ich Holder das erste Mal sah, war es im Kreise munterer Gesellen. Eine Bowle Maitrank bildete ihren Mittelpunkt. Heiter und fröhlich flog das Gespräch von Munde zu Munde. Alle Anwesenden waren in Verhältnissen, die ihnen eine Behaglichkeit des Daseins gewährleisteten. Und jetzt begegnete mir Holder hungernd und frierend! Ich forschte nach seinen Verhältnissen, ich besprach mich mit Andern, ob ihm nicht zu helfen wäre. Da rief mich plötzlich ein Antrag von **** weg. Holder kam mir aus dem Gedächtnisse. Nur noch einmal wurde ich wieder an ihn erinnert, als ich ein paar Jahre später in der Zeitung las, er sei im Armenhause gestorben.

Und seltsam: an demselben Tage, wo ich diese Nachricht fand, kam ein mir sehr nahe stehender Mann zu mir, der mir, genau wie Holder siebenzehn Jahre früher, seinen Plan mittheilte, Schriftsteller werden zu wollen. Ich redete ihm ab, ich erklärte ihm offen, daß sein Talent, das ich wohl kannte, durchaus unzureichend sei, ich bat und beschwor ihn, von seinem Vorsatze zu lassen, ich erzählte ihm Holder’s Geschichte und zeigte ihm die Nachricht von dessen Ende im Armenhause. Was war die Folge? Er ging beleidigt von mir hinweg und am andern Tage schrieb er mir einen groben Brief – und brach jede Beziehung mit mir ab. Ein halbes Talent ist die unglücklichste Gabe, welche die Natur einem Menschen verleihen kann!



  1. Das Jahr 1848 brachte neben vielem anderen auch das Gute mit, daß es unter den obengeschilderten halben Talenten – namentlich unter den Journalisten und Publicisten gründlich aufräumte. Vor achtundvierzig ersetzte bei vielen Schriftstellern die Gesinnung, was ihnen an Talent abging. Man half sich mit Ausfällen, mit banalen Angriffen auf Persönlichkeiten und einzelne Behörden, spielte den Märtyrer und entschuldigte die Massenhaftigkeit der Phrase mit der Censur, die das Beste unterdrücke und das Talent nicht zur freien Entwickelung kommen lasse. Als endlich durch die Erhebung des Volkes die polizeilichen Censurschranken fielen und der „freien Entwickelung“ nichts mehr im Wege stand, als es nunmehr galt nicht mit Gesinnung allein, sondem auch ein klein wenig Talent zu haben, d. h. die Gesinnung mit Talent zu vertreten, und die Entschuldigung der Censurstriche ein Unsinn geworden, da wurden über Nacht viele dieser „Talente“ ihres Heiligenscheines beraubt und ihre innere Gehaltlosigkeit trat glänzend zu Tage. Es ist einer der segensreichsten Erfolge der freien Presse, daß sie das wahre Talent in der eklatantesten Weise heraufgefördert und dem halben Talent alle Entschuldigung genommen hat.
    D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_475.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)