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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Erstgeborenen und eilte die Flügeltreppe hinauf, um dem gewissenhaften Lehrer recht sehr zu danken. Als sie die Thür öffnete, sah sie zu ihrem großen Erstaunen, wie Heinrich der Länge nach auf einem Divan lag und der Lehrer vor ihm auf und ab ging und ihn mit seinem Violinspiel unterhielt. Die Sache klärte sich damit auf, daß auf diese Weise die Musikstunden gegeben worden waren und mein Bruder nicht die Tonleiter rein zu spielen vermochte. Der Lehrer wurde verabschiedet, und bei dem ausgesprochenen Widerwillen Heinrich’s gegen die Violine hatte ein für alle Mal der Musikunterricht sein Ende. –

Bei dieser Gelegenheit will ich auch erzählen, wie der Tanzunterricht sein Ende nahm, gegen den Heinrich einen noch größeren Widerwillen hatte. Der Tanzlehrer, klein, dünn, schmächtig, aber grob, quälte den Knaben immerfort mit Battements, so daß er alle Geduld verlor und Grobheit gegen Grobheit austauschte. Ein vollständiger Conflict begann, und der auf’s Höchste gereizte Knabe warf den leichten Tanzlehrer aus dem Fenster. Glücklicher Weise fiel er auf einen Misthaufen und wurde von meinen Eltern mit einer Geldsumme entschädigt. Heinrich hat nie im Leben wieder getanzt.


Ich erinnere mich noch, als ob es heute geschehen wäre, der Ueberraschung unserer Eltern beim Empfange der ersten Gedichte meines Bruders. Durch die Post kam das sauber gedruckte, grün eingebundene Bändchen mit dem Titelblatte: Gedichte von H. Heine, gedruckt im Jahre 1822. Verlag der Maurer’schen Buchhandlung in Berlin.

Wohl hegte man im elterlichen Hause seit mehreren Jahren den Verdacht, daß Heinrich poetischen Unfug, wie ein lieber Verwandter sich auszudrücken pflegte, treibe. Aber, daß er die Keckheit hätte mit einem ganzen Bande Gedichte, mit voller Namensunterschrift vor die Welt zu treten, das erregte beinahe Bestürzung.

Die so günstigen, öffentlichen Recensionen, das gute Urtheil zuverlässiger, geistig begabter Freunde der Familie, milderten allmählich den Eindruck des Schreckens. Mit wachsendem Wohlgefallen hielt der Vater das Büchlein in den Händen, die Mutter gönnte ihm unbelauscht einen freundlichen Blick, und, was mich betrifft, so imponirte mir gewaltig unser gedruckter Name. Von nun an folgte der Vater dem beginnenden Rufe des Sohnes und forschte nach den öffentlichen Urtheilen.

Goethe stand damals in höchster Blüthe, sein vergötterter Name schien Alles zu verschlingen, was nur in der deutschen Literatur auftauchen wollte. Die Literaturgeschichte weiß von den sogenannten Goethekoraxen damaligen Zeit viel zu erzählen, die Alles verneinten, was nicht von dem hohen Meister hervorgegangen. Man sprach und schrieb nur über Goethe, und dies ewige Geträtsch, diese fast kindische Abgötterei mit dem Namen Goethe, der Anfang und Ende aller Literaturblätter und Journale bildete, machte unter diesen Umständen, nach den Ansichten des Vaters, die Concurrenz seines Sohnes Heinrich mit dem großen Goethe doch bedenklich.

„Wie soll mein Junge aufkommen?“ sagte mein Vater oft, „wenn man immer und immer nur von Goethe sprechen will?“

Dieser Umstand machte dem guten Vater die größten Widerwärtigkeiten; er hatte sich zuletzt, ohne daß er es wußte, in einen wahren Haß gegen Goethe hineingelebt. Nun wollte es noch der böse Zufall, daß unser ganzes Haus selbst für Goethe schwärmte, all’ überall ein Band von Goethe’s Gedichten zu finden war. So oft nun der Vater unwillkürlich einen dieser Bände öffnete und ihm der verhaßte Titel: „Gedichte von Goethe“ in die Augen fiel, verfinsterte sich sein sonst so heiteres, freundliches Antlitz. Wir aber konnten nicht ohne Goethe sein. Die Mutter erfreute sich an den Elegien, Heinrich las immer wieder die kleinen reizenden Gedichte, und ich lernte die „Braut von Korinth“ und den „Gott und die Bayadere“ auswendig.

Da verfiel mein Bruder auf einen absonderlichen Gedanken, um dem Kummer des Vaters ein Ende zu machen. Plötzlich waren die so elegant eingebundenen Bände der „Gedichte Goethe’s“ von ihren respectiven Plätzen verschwunden, und an ihrer Stelle lagen ganz armselig eingebundene Bücher, deren Titel lautete: „Gedichte von Schulze“. Heinrich hatte die Bücher umbinden, den Namen Goethe sanft auskratzen, und die Stelle mit „Schulze“ überkleben lassen. Als der Vater zufällig einen Band dieser Bücher öffnete und „Gedichte von Schulze“ las, legte er ganz heiter zufrieden den Band bei Seite und dachte bei sich: „weder dieser Schulze, noch ein Müller, noch ein Meier, werden dem Namen meines Sohnes hinderlich sein.“ Die Mutter aber, die sofort den Witz bemerkt hatte, nahm einst in Abwesenheit des Vaters einen Band, schlug den Titel auf, und sagte, indem sie den Finger auf die Stelle legte, wo „Goethe“ verschwunden und „Schulze“ hineinescamotirt war: „Mein lieber Sohn, möchtest Du einst nur halb so berühmt werden, wie ,Schulze‘, der Verfasser dieser Gedichte.“


Mein Bruder Heinrich war mehrmals gegenwärtig, wenn ich, als Primaner des Gymnasiums, meine prosodischen Arbeiten anfertigte. Ich hatte damals eine große Vorliebe für das classische Metrum und durch vieles Uebersetzen und tägliche Uebung eine außerordentliche Leichtigkeit in Anfertigung von deutschen Distichen erlangt. Obgleich Heinrich die Alten besonders hochschätzte und bereits damals durch seine Gedichte einen großen Namen als Poet erworben hatte, so hatte er sich doch im deutschen Hexameter bisher nie versucht. Wir sprachen viel über diesen Gegenstand. Ich citirte Goethe’s herrliche Elegien und forderte meinen Bruder auf, auch einmal in diesem Versmaße einen Gegenstand poetisch zu bearbeiten. Ich wiederholte mehrmals Goethe’s reizenden Vers, wo er auf den Nacken der Geliebten „mit fühlendem Auge und sehender Hand“ des Hexameters Maß scandirt hat.

Endlich ging Heinrich an die Arbeit, und als ich an einem der nächsten Vormittage in sein Zimmer trat, kam er mir mit einem Blatt entgegen, freudig ausrufend: „Siehst Du, auch ich bin unter die Hexameter gegangen.“ Er recitirte mir einige Zeilen eines Gedichtes: „Trost für Dito“, wobei ich aber schon beim dritten Hexameter (keine kleine Satisfaction für einen Primaner) dem bereits berühmten Dichter in die Rede fiel: „Um Gotteswillen, lieber Bruder, dieser Hexameter hat ja nur fünf Füße.“ Und nun scandirte ich ihm mit wichtigster Schulweisheit den Vers vor. Als er sich vom Fehler überzeugt hatte, zerriß er leider das Papier mit den Worten: „Schuster, bleib bei Deinem Leisten!“

Ein paar Tage nach dieser Begebenheit, wovon übrigens nicht mehr gesprochen worden war, stand eines Morgens früh, als ich eben aufwachte, Heinrich vor meinem Bette. „Ach, lieber Max,“ begann er mit kläglicher Miene, „was für eine schauerliche Nacht hab’ ich gehabt.“ Ich erschrak. „Denke Dir, gleich nach Mitternacht, eben als ich eingeschlafen war, drückte es mich wie ein Alp; der unglückliche Hexameter mit fünf Füßen kam an mein Bett gehinkt und forderte von mir unter den fürchterlichsten Jammertönen und selbst schrecklichsten Drohungen seinen sechsten Fuß. Ja, Shylock konnte nicht hartnäckiger auf sein Pfund Fleisch bestehen, als dieser impertinente Hexameter auf seinen fehlenden Fuß. Er berief sich auf sein urclassisches Recht und verließ mich mit schrecklichen Gebehrden nur mit der Bedingung: daß ich nie wieder im Leben mich an einem Hexameter vergreifen wolle.“

Heinrich hat Wort gehalten, denn außer einigen zahmen Xenien, in Gemeinschaft mit Carl Immermann verfaßt, hat er nie wieder in diesem Versmaße gedichtet.


Als Heine in Bonn studirte, trug er gewöhnlich einen Studentenrock von schwarzem Sammet. Da der Rock ziemlich abgetragen war, so bestellte er bei seinem Schneider einen neuen Rock vom schönsten blauen Sammet und versprach seinem täglich kommenden Barbier seinen alten, welcher beständig im Vorzimmer an einem Nagel hing. Der Schneider brachte zur bestimmten Zeit den neuen schönen Rock und hing denselben an dem Nagel im Vorzimmer auf, von dem zufällig der alte Rock weggenommen war. Als Heine bald darauf rasirt wurde, sagte er dem weggehenden Barbier: „Heute können Sie den Rock draußen mitnehmen.“

Der Barbier dankte auf’s Verbindlichste, empfahl sich und nahm aus dem Vorzimmer den schönen neuen Rock mit.

Heine kleidete sich nun an, um in seinem schönen neuen Sammetrocke spazieren zu gehen, wozu ihn ein eintretender Freund einlud. Wie erschrak er, als sein neuer Rock weg war; er sagte aber nichts weiter als: „Hat der Barbier Glück!“ und zog den alten an.

Späterhin in seinem Leben, so oft von einem Menschen die Rede war, der sehr viel Glück hatte, sagte er nichts weiter, als: „Hat das Barbierchen Glück!“ und erzählte dann ganz gemüthlich, wie er seinen alten Sammetrock und sein Barbier den neuen behalten hat.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_075.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)