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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Zündhütchen. Die blautuchenen Hosen wichen in Schnitt und Einrichtung nicht von denen des italienischen Landmanns ab. –

Schon manche Woche war verstrichen und Moens’ Freilassung stand noch immer in weiter Ferne. Die Räuber glaubten nämlich in ihrem Gefangenen eine Persönlichkeit von hoher politischer Bedeutung und zugleich einen nahen Verwandten Lord Palmerston’s erwischt zu haben und bildeten sich ein, das italienische Gouvernement selbst werde jedes beliebige Lösegeld für diesen wichtigen Gefangenen zahlen. Deshalb spannte man Anfangs seine Forderungen sehr hoch. Zuerst verlangte man die runde Summe von hunderttausend Ducaten für ihn und seinen ursprünglichen Mitgefangenen, einen Mr. Ainsley; später ging man auf die Hälfte, auf fünfzigtausend Ducaten, herunter. Und schließlich, nach langen Verhandlungen und vielen Drohungen mit Kopf- und Ohrenabschneiden, begnügte man sich mit dreißigtausend. Die Hauptschwierigkeit war nun, nicht diese Summe aufzubringen, wohl aber sie den Banditen zu übermitteln. Bei strenger Strafe verbietet das Gesetz jedwede Zahlung von Lösegeld an die Räuber und überhaupt allen Verkehr mit ihnen, und da die Ergreifung eines vermeintlichen englischen Lords und Verwandten Palmerston’s in ganz Italien ein ungeheueres Aufsehen gemacht hatte, so war das Land ringsum von Soldaten durchstreift, sehr zur Lebensgefahr für den Gefangenen, der, von ungewöhnlicher Körpergröße, um einen Kopf sämmtliche Mitglieder überragend, alle Mühe hatte, sich gegen die Kugeln der Carabinieri zu decken, die ihn wegen seiner stattlichen Erscheinung für den Räuberhauptmann zu halten pflegten. Einmal stürzte er in dem allgemeinen Durcheinander jäher Flucht vor den nachsetzenden Truppen, verstauchte sich den Arm, wäre in einem Morast beinahe erstickt und erhielt obendrein einen Streifschuß am Schenkel. Doch entkam er zu guter Letzt aus allen diesen Gefahren mit heiler Haut, fühlte sich aber von sehr wenig freundschaftlichen Gesinnungen gegen eine Regierung beseelt, die Italien noch immer nicht von dem alten Schandfleck des Brigantaggio zu reinigen gewußt hat.

„Der entsetzlichste Moment meiner ganzen Haft, ein Moment der heftigsten Erschütterung für mich und meinen Gefährten war der Augenblick, da wir darum loosten, wer von uns Beiden frei abziehen sollte, um das Lösegeld aufzutreiben und Mittel und Wege zu finden, es den Banditen zuzuführen. Ich hielt die beiden Holzpflöckchen in der Hand, welche die Loose vorstellten, und Ainsley zog. Als er das längere Stück, das Glücksloos, erwischte, war mir’s nicht anders zumuthe, als hätte ich um mein Leben gewürfelt und es verspielt. Der Abschied von meinem Reisegefährten wird mir unvergeßlich bleiben!“ schreibt Moens.

Nur ein einziges Mal bot sich ihm eine leidliche Chance zum Entkommen dar; aber da hätte er erst zwei Männer im Schlafe und einen dritten aus der Entfernung niederschießen müssen. Es war in einer tiefen Höhle. Antonio und Pavone hatten sich quer vor den Eingang gestreckt und waren eingeschlafen und Scope hatte sich ein paar Schritte weiter in’s Freie hinaus begeben, um dort in der warmen Sonne sein Hemd von der zahlreichen Besatzung zu befreien, die sich auf demselben tummelte; denn da die Banditen nur selten Kleider und Wäsche wechseln, noch seltener sich waschen, so kann man sich vorstellen, in welch’ grauenhafter Weise gewisse Schmarotzer sich an und auf ihnen entwickelten. Zwei Gewehre, eine einfache und eine Doppelflinte, standen im Bereiche von Moens’ Arm; leicht hätte er sich der einen bemächtigen und die beiden Schlafenden niederstrecken und dann mit der andern Scope über den Haufen schießen können, falls dieser über ihn herfallen wollte. Gewiß, die Versuchung war groß und mehr als einmal zuckte ihm die Hand nach den Waffen. Allein sein Herz empörte sich gegen einen doppelten, vielleicht dreifachen Mord. Sein eigenes Leben war nicht unmittelbar bedroht, er durfte keinen Zweifel hegen, daß auch der letzte Ducaten des Lösegeldes für ihn beschafft werden würde, und – er überwand die Versuchung. Zum Glücke zog bald darauf eine Viehheerde nahe der Höhle vorüber und weckte die Schläfer. Damit war allem etwaigen Schwanken ein Ende gemacht, eine zweite Gelegenheit zur Flucht kam aber nicht wieder.

Jener Pavone hatte schon vor seinem Räuberleben zwei Menschenleben auf seinem Gewissen. Die erste Blutschuld hatte ihm drei Jahr Zuchthaus eingetragen, zum zweiten Male fühlte er keine Lust den Gerichten zu nunmehr härterer Strafe in die Hände zu fallen, und so zog er in den freien Wald zu Manzo’s Bande. Nach der Praxis, welche das italienische Gouvernement gegen die Angehörigen von Briganten befolgt, hatte man sein Weib und seine Kinder in den Kerker geworfen. Gar gern hätte er sich nun selbst den Behörden gestellt, um die Freiheit der Seinigen zu erwirken, allein die Furcht vor Manzo’s Rache hielt ihn von diesem Schritte zurück. Ohne Gnade und Barmherzigkeit hätte der Hauptmann Pavone’s ganze Familie gemordet, wäre dieser von ihm desertirt. Sonst kommt es nicht eben selten vor, daß sich minder gravirte Mitglieder von Brigantenbanden freiwillig der Gerechtigkeit überliefern, sobald sie sich ein Stück Geld zusammengeraubt haben, das ihnen erlaubt, sich im Gefängniß eine gute Verpflegung zu verschaffen. Das nennen die Strolche „sich vom Geschäft zurückziehen“.

Gewaltige Sorge und Noth verursachte es unsern Briganten, wie sie ihren Gefangenen vor den Augen der Landleute verbergen sollten, wenn diese zur Abwickelung ihrer Geschäfte bei der Bande erschienen. In keinem Falle durfte er jener ansichtig werden, damit er sie nicht etwa später wieder erkenne und Zeugniß wider sie ablege, womit ihnen leicht zu einem Dutzend Jahre Kerker verholfen werden konnte. Wenn der glückliche Tag kam, oft nach langem sehnsüchtigen Harren, der Brod und Mehl, Ciceri (eine bekannte italienische Erbsengattung), Milch und Rosolio brachte, gebot es sowohl ein gewisser Point d’Honneur wie die Vorsicht, den Gefangenen nach Möglichkeit unsichtbar zu machen. Die Capuze über den Kopf gezogen, mußte er sich bei derlei Gelegenheiten bald in einen finstern Winkel drücken, bald auf den Rücken niederlegen, bald sich die seltsamsten Vermummungen gefallen lassen.

Endlich lief die letzte Rate des bedungenen Lösegeldes ein, die Stunde der Freiheit hatte dem Gefangenen geschlagen. Es bedarf keiner Versicherung, daß dies ein unvergeßlicher Freudentag für den lange Umhergeschleppten wurde, aber auch für die Bande gestaltete sich der ersehnte Moment zum Feste. Sobald das Geld anlangte, setzte sich die Gesellschaft zum Spiele nieder, das, und zwar sehr hohes Spiel, überhaupt ihre Lieblingserholung ausmachte und mit einer Leidenschaft getrieben wurde, wie sie nur etwa bei den Goldgräbern Californiens Ihresgleichen hat. Im Verlaufe weniger Stunden befand sich die gesammte beträchtliche Summe blos noch in den Händen von Vieren. Ehe Moens feierlich entlassen und geleitet wurde, ließ Manzo seinen Hut umhergehen. Sein Gefangener sollte als Gentleman nach Neapel zurückkehren können, meinte er, und brachte wirklich den Betrag von einigen siebenzig Napoleons für ihn zusammen, außer verschiedenen Ringen und anderen Andenken, mit denen man ihn beschenkte.

„Wohl jubelte ich hell auf, als nach so mancher langen, bangen Woche das Räuberlager mit seinen wilden Gesellen, seinen Schrecken und Entbehrungen hinter mir lag,“ schließt Moens seine Aufzeichnungen, „jetzt aber, wo die Gefahr vorüber ist, wo ich lebendig, mit ganzem Ohr und heilen Gliedern wieder in Sicherheit bin; wo das geopferte Geld schon halb und halb verschmerzt ist – jetzt gehören mir die Momente unter den Banditen zu jenen Erinnerungen, welche man um keinen Preis aus seinem Leben missen möchte, ja manchmal überschleicht es mich wohl wie eine Art von Sehnsucht nach jenem poetischen Intermezzo einer prosaischen Zeit, mit dem mich das Schicksal vor vielen Tausenden civilisirter Menschen bevorzugte.“




Europa’s Allerhöchster.


Durch Saussure, den berühmten Genfer Naturforscher, war im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts der Montblanc für die Wissenschaft neu entdeckt und der Welt bewiesen, daß der Willenskraft, dem Muth und der Ausdauer selbst der „König der europäischen Berge“, dessen Majestät Jahrhunderte lang für unnahbar gegolten hatte, endlich unterthan werden mußte. Aber auch das romantische Interesse war geweckt; die Saussure’sche Besteigung und deren Beschreibung fielen in eine Periode, wo durch die Schriften Rousseau’s und die allgemeine Richtung der Zeit überhaupt mit der Empfindsamkeit auch der Sinn für die schöne

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_139.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)