Seite:Die Gartenlaube (1866) 379.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

wird mir aber ebenso entschieden versichert, daß dies dennoch geschehen sei. Darüber ließe sich Gewißheit erlangen, und zwar in Altenburg. Es ist nämlich anzunehmen, daß die geistreiche Fürstin, wenn ihr überhaupt eine solche Mittheilung gemacht worden ist, allerdings wohl Verschwiegenheit genug hatte, um das Geheimniß weder mündlich noch brieflich weiter zu tragen, aber das ist psychologisch anzunehmen, daß sie ihrem Tagebuch wenigstens eine Notiz darüber anvertraut habe. Die edle Fürstin schlummert unter ihrer hohen Grabsäule auf dem Friedhof zu Hildburghausen, ihre Nachkommen sind nach Altenburg gezogen, wohin auch das fürstliche Privatarchiv und sonstige Familienpapiere mit ausgewandert sind. Es wird also dort Sache der betreffenden Personen sein, sich der Mühe des Nachforschens nach dem Schlüssel zu einem solchen Geheimniß zu unterziehen, aber auch das Resultat dann der Oeffentlichkeit mitzutheilen.

Friedr. Hofmann.




Eine Katastrophe des Londoner Geldmarkts.


Freitag, der 11. Mai des Jahres 1866, wird in der Geschichte der Londoner City und des englischen Handels lange ein ominöses Gedächtniß bewahren. Es war ein Tag panischen Schreckens, chaotischer Verwirrung, wilder regelloser Furcht und Verzweiflung, desgleichen, der allgemeinen Behauptung zufolge selbst die berühmten „ältesten Bewohner“ der Metropole nie vorher erlebt hatten. Wer London kennt, weiß, daß auch zu gewöhnlicher Zeiten das mächtige Getriebe, das endlose Gedränge, die athemlose Hast des die Gassen, Straßen und Plätze in der Nähe der Bank von England durchwogenden Verkehrslebens eine halb beängstigende, halb berauschende Wirkung ausüben. Aber in dem scheinbaren Chaos herrscht bei alledem Regel und Ordnung, die Geschäfte gehen ihren Gang und in den grübelnden Mienen, den ernsten besorgten Gesichtern, die aus dem Menschengewühl auftauchen, spiegelt sich dem Londonkundigen eben weiter nichts als der alltägliche Reflex jener unvermeidlichen Fluctuationen des Welthandels, der ringsum seine aufgeregten Wellen schlägt und, während er die befrachteten Schiffe der Glücklichen dem sichern Hafen zuführt, den Besitz Anderer ungewiß umherschleudert zwischen Furcht und Hoffnung. An jenem ominösen Freitage aber schien ein dunkles Zauberwort die ganze City mit seinem Bann getroffen zu haben. Wilde, wirre Menschenmassen, zu dichten Knäueln geballt, füllten die Umgegend der Bank und wogten anscheinend ohne Ziel durcheinander. Schreck und Bestürzung schienen allgemein. War die Bank von England mit allen ihren Schätzen über Nacht durch ein Erdbeben verschlungen? Bedrohte eine plötzlich gelandete französische Invasionsarmee London mit der so oft verheißenen großen Plünderung? Weder das eine noch das andere. Die Bank stand unerschütterlich fest da wie immer; zwischen den Napoleonischen Eroberungsplänen und den englischen Küsten flossen nach wie vor die stürmischen Fluthen des Canals. Aber der Schicksalsschlag selbst so unerhörter Ereignisse hätte kaum einen mächtigeren Eindruck hervorbringen können, als die Katastrophe, welche an diesem Tage die Handelswelt von London und England in ihren Grundvesten erschütterte: der Bankerott des großen Bankierhauses Overend, Gurney und Comp.

Die erste Meldung dieses Bankerotts war uns schon am Abend des vorhergehenden Tages bekannt geworden. Da sie jedoch kurz vor dem Schluß der Geschäftsstunden, zwischen drei und vier Uhr erfolgt war, hatte ihre Wirkung nach außen hin sich nur in verhältnißmäßig geringem Maße geäußert. Der officielle Beginn des Bankgeschäfts in der City ist um zehn Uhr Vormittags und die Scenen, welche seitdem bis tief in den Abend jenes ominösen Freitags hinein sich innerhalb des engen Raumes zwischen Mansionhouse, Bank, Börse und Lombardstreet abspielten, waren geradezu unbeschreiblich. Ein Meer von Köpfen füllte den von jenen Centren des geschäftlichen Verkehrs umgebenen Platz, einen Platz obendrein, an dem die größte Verkehrsstraße der Welt, die Straße von Charing-Croß nach London-Bridge, entlang läuft. Der meilenlange Zug der Cabs, Lastwagen und Omnibusse war beinahe völlig gehemmt; nach allen Seiten hallte es wie dumpfe Meeresbrandung unheimlich von Tausenden von Stimmen wieder; wildes Gedränge hierhin und dorthin, ängstliche, bestürzte, verzweifelte Gesichter überall, anscheinend nirgends ein Ausweg. … Doch ja, dort wogt ein Strom nach dem Haupteingang der Bank von England, hier ein andrer nach Birchin-Lane (einer von der Börse nach Lombardstreet zuführenden Gasse), ein dritter dort von dem Mansionhouse nach Lombardstreet selbst, der Straße, wo Overend, Gurney und Comp. mitten in der Reihe der angesehensten Bankhäuser noch gestern Morgen florirten. Was der Zudrang nach der Bank bedeutet, ist unschwer zu errathen. Man will Geld erheben, auf Schatzobligationen, auf Depositenwechsel, auf Bankzettel, auf Sicherheitspapiere aller Art; denn kein Haus ist schon mehr sicher vor Verdacht, da Overend, Gurney und Comp. gefallen sind, und auf alle Banken hat schon ein Sturm der von panischem Schrecken erfüllten Depositoren begonnen. Wie wird die Bank von England selbst so plötzliche ungeheure Ansprüche auf ihre Ressourcen aushalten? Vorläufig scheint es im Allgemeinen zur Zufriedenheit der Applicanten. Denn mit etwas weniger verzweifelten Gesichtern sieht man viele von diesen das Bankgebäude verlassen und sich in verschiedenen Richtungen zerstreuen.

Lombardstreet ist eine enge Straße, zu beiden Seiten von hohen stattlichen Bankpalästen überschattet. Die Thüren der Banken stehen weit geöffnet, aber Straße und Trottoir sind so hoffnungslos überfluthet von Menschenwogen, daß der Zugang beinahe unmöglich scheint. Drängend, rufend, kreischend, bahnen die vor Schreck halb wahnsinnigen Creditoren und Creditorinnen sich ihren Weg. Hier sieht man eine Gestalt ohnmächtig zurücktaumeln, dort Andre mit Ellenbogen und Fäusten ihren Platz behaupten. Im Innern der Banksäle aber ist das Gedränge ebenso groß wie draußen, und die Eindringlinge werden lange zu warten haben, ehe an die Zahlung ihrer Cheques und Depositenwechsel die Reihe kommt. Andere haben diese peinliche Geduldsprobe überstanden. Mit Reisetaschen und Ledersäckchen beladen, aber offenbar von einer schweren Last befreit, sieht man sie die Banken verlassen. Indeß sie mögen sich in Acht nehmen, denn wer bürgt ihnen dafür, daß sie die aus der Bankcasse geretteten Schätze aus diesem Gedränge bergen? Für die Londoner Diebe ist dieser ominöse Freitag ein reicher Erntetag; Hunderte, Tausende von Pfunden wandern in diesem wilden Gewühl in ihre Hände.

Doch wir nähern uns endlich dem strudelnden Centrum des Maelstroms. Dort ist die Ecke von Birchin-Lane und Lombardstreet und dort an der Ecke erhebt sich das „Cornerhouse“ (Eckhaus), wie es familiär in dem Geschäftsdialect der City genannt wurde, das Haus Overend und Gurney, viele Jahre lang nächst der Bank von England das größte Centrum der englischen Bankgeschäfte, heute der verhängnißvolle Mittelpunkt zahlloser sorgender, neugieriger Blicke, Fragen, Speculationen. Was hat dies Haus von Stein und Mörtel mit dem Zusammensturz der Firma zu thun? Es steht noch gerade so stolz und fest da wie sonst. Der einzige bemerkbare Unterschied ist, daß die Läden und die Thüren geschlossen sind, und wilde Menschenfluthen, dergleichen man früher nie in seiner Nähe sah, umbranden seine Gitter und Mauern.

Sie lehren nichts. Doch die menschliche Natur bleibt sich immer gleich, und die Befriedigung, die locale Geburtsstätte eines mächtigen Ereignisses mit Augen zu sehen, diese Befriedigung sich versagen, war mehr, als man von dem schau- und sensationslustigen Londoner Volk erwarten durfte. Auch waren es gewiß nicht neugierige Blicke allein, welche das Bild des Corner-Hauses einsogen; wohl Mancher schaute wehmüthig daran hinauf als

Nach dem Grabe
Seiner Habe

und bedachte im Stillen, was aus dem Ruin noch zu retten sein werde für die Zukunft.

Unter solchen und ähnlichen Scenen verfloß der erste Tag nach dem Bankerotte von Overend und Gurney, der gewitterschwüle ominöse 11. Mai des Jahres 1866. Er verfloß wie alle Tage; aber Jedermann in der City war fortwährend auf das Schlimmste gefaßt, ja das ganze Gebäude der englischen Handelswelt schien so vollständig aus den Fugen gerissen, daß die um Mittag verbreitete Nachricht von den Bankerotten der English Joint-Stock-Bank und des großen Contractgeschäftes für Eisenbahnbauten, Peto und Betto, Bankerotte von denen der eine ein Capital von

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_379.jpg&oldid=- (Version vom 8.10.2021)