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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

So betrat er den Klosterhof und bestieg das für ihn bestimmte weiße Roß, und unter Singen und Beten, Glockenläuten, Böllerschießen und rauschender Musik begann der Umzug. Ihn vollständig zu sehen, war mein letzter Zweck am Ort. Ich eilte voraus und gewann den rechten Standort in der Nähe des ersten der vier Hochaltäre, die als Stationen der Procession auf dem Rundgang, welchen sie durch die Felder des Fleckens zurücklegt, zum Ablesen je eines Evangeliums aufgestellt sind.

Musik eröffnete den Zug; ihr folgte eine Abtheilung des Bürgermilitärs zu Fuß. Hinter diesem wurden reiche und schwere und zum Theil sehr alte und kostbare Kirchenfahnen getragen; dann erschienen ein Crucifixträger und Kirchendiener mit rothen Stablaternen, in welchen „ewige Lichter“ brannten; hinter ihnen schwangen zwei Monstranzbuben Weihrauchgefäße. Nun kam der Priester zu Roß, der den Blutritt hielt und das Gefäß mit dem heiligen Blut hoch emporhob. Alle die Menge, die zu beiden Seiten des Processionsweges stand, fiel auf die Kniee und bekreuzte sich, während der Priester von Zeit zu Zeit mit dem heiligen Blute das Zeichen des Kreuzes machte zum Segen der Menschen und der Felder. Dem Priester zunächst zog eine Anzahl Mönche mit Wachskerzen; ein Nachbar sagte mir, sie seien von St. Gallen und noch weiter her. Ihnen folgte eine Abtheilung berittener Bürgergarde und dieser eine lange, lange Schaar von Bauern zu Pferde –, die, je zwei und zwei reitend, ihren Trachten nach, verschiedenen Länderstrichen angehörten und deren ich über zweitausend zählte. Sie schlossen den eigentlichen Zug, denn alles übrige wallende und betende Volk jeden Alters und Geschlechts umwogte denselben in breitem und langem Strome, bis der Evangeliums-Hochaltar den Lauf hemmte, die Reiter von den Rossen und alle Gläubigen auf die Kniee zwang.

„Wie lange dauert das ganze Fest?“ fragte ich einen Bürger aus Ravensburg, der neben mir Platz genommen hatte.

„Die Procession allein wohl fünf Stunden. Ja, Herr, früher war das eine andere Pracht, als noch der ganze Adel unserer Gegend daran Theil nahm und viele Städte und Ortschaften ihr Militär dazu schickten, Alles im höchsten Schmuck und so zahlreich, daß sie ihr eigenes Lager aufschlugen. Jetzt sehen Sie kaum noch einen Stadtbürger im Zug und selbst die großen Bauern ziehen sich davon zurück. Wenn aber die Procession zu Ende und das wunderthätige Blut wieder in seinem Reliquienschrein verschlossen ist, dann geht die weltliche Lustbarkeit los, bei Fiedel und Faß wird hoch gelebt, so daß Tausende am Abend den Morgen vergessen haben. Behüt’ Sie Gott, Herr!“ Er ging.

War das eine Klage? War’s eine verschämte Huldigung vor dem Geist, der alte Formen sprengt, die ihn zu verkrüppeln drohen? – Ich verließ den Schauplatz dieses priesterlichen Blutritts mit den bangen Gefühlen, welche der Anblick eines kranken lieben Kindes in uns aufregt. Wird es wieder gesunden und gedeihen? – In dreiundzwanzig Jahren kommt ein einunddreißigster Mai, an welchem die Priester von Weingarten das achthundertjährige Jubelfest des Besitzes ihres Wunderbluts begehen können: wird dann ein Papst in Rom noch die Macht haben, Verbrecher an der Menschheit zu Heiligen zu ernennen, und die Priesterschaft den Muth, Weingarten zu einem zweiten Trier zu machen? – „Untröstlich ist’s noch allerwärts!“ und wer den Zustand von Tausenden unserer Volksschulen und neben den zählbaren Höhen die weiten unabsehbaren Tiefen der Volksbildung in Deutschland vor Augen hat, der denkt mit Seufzen an Schiller’s so doppelsinnig wahren und traurigen Ausspruch:

„Die Nacht weicht langsam aus den Thälern!“

H. v. C.




Gedanken über das Curiren von Krankheiten.
1. Die Epilepsie oder Fallsucht.

Leser, lieber Leser! Wenn Du mit Aufmerksamkeit zu lesen und vielleicht gar zu denken gelernt hast, so thue Dir und mir einmal den Gefallen und versuche die nachfolgenden Zeilen aufmerksam durchzulesen und über Das, was ich Dir über das Heilen der Krankheiten erzählen will, ein Bischen nachzudenken, oder wenn Du das nicht kannst oder nicht willst, so wolle wenigstens die Gedanken Anderer über die nachfolgenden heilkünstlerischen Thatsachen mit einiger Aufmerksamkeit anhören. – Natürlich sind diese Zeilen für die Mehrzahl der Heilkünstler, und zwar aller Sorten, nicht geschrieben, da sich diese im unerschütterlichen Autoritätsglauben und im Post hoc, ergo propter hoc Verrannten, wegen ihrer festen Ueberzeugung von der Wahrheit der reinen ärztlichen Erfahrung, niemals belehren und zum Nachdenken über ihre Heilkünstelei bestimmen lassen. Sogar wissenschaftlich gebildete Aerzte, die in der Theorie der wissenschaftlichen Forschung und der Kritik ihr Recht einräumen, wollen doch beim Heilungsgeschäfte nur die sogenannte reine Erfahrung gelten lassen. Nun, wir wollen einmal sehen, was es mit dieser reinen Erfahrung für eine Bewandtniß hat.

Seit Bestehen der Heilkunst sind kranke Menschen bei den allerverschiedenartigsten Heilmethoden und Charlatanerien, – und deren hat es bis heute schon eine recht nette Anzahl gegeben – doch gesund geworden und zwar gesundete bei bestimmten Krankheiten stets so ziemlich dieselbe Anzahl. – Kranke gesundeten, als man überall Geister und Dämonen sah, welche die Krankheiten hervorriefen und deren Einfluß durch Zauberei und magische Kunst, oder aber durch Gebet, Wallfahrten, Reliquien und durch Abziehung von aller Sinnlichkeit bekämpft und überwältigt werden mußte. Sie gesundeten, als fast alle Krankheiten von der Verderbniß der Säfte abgeleitet und mit Bädern, Klystieren, Brechmitteln, Frictionen und Bewegung curirt wurden. Sie gesundeten, als man nur kalte Bäder und das Trinken kalten Wassers, oder auch den Stein der Weisen und die Kabbalah, sowie den Theriak und Mithridat, Arcana und Talismane gegen jede Krankheit anwendete. Sie gesundeten, als die sogen. chemiatrische Schule, die nichts als gährende Elemente im Körper sah und (nach Guy Patin) durch Antimonpräparate mehr Menschen umgebracht haben soll als der dreißigjährige Krieg, gegen die sauren und alkalischen Schärfen in den Kranken zu Felde zog. Und ebenso als Bontekoe die diätetische Regel aufstellte: „Rauche unaufhörlich Tabak und trinke beständig Thee oder im Nothfall Kaffee und bediene Dich des Opiums, so oft Dir etwas fehlt.“ Sie gesundeten, als schweißtreibende, Brech- und Purgirmittel und Aderlässe als die hauptsächlichsten Heilmittel in Mode waren; ebenso aber auch als die ausleerende Methode verworfen und tonische Mittel angewendet wurden; ebenso als man die Krankheiten entweder entzündungswidrig oder aber erregend, mit Opium und China, behandelte; ebenso als fast jede Krankheit für eine Entzündung angesehen und als solche mit Aderlässen und Blutegeln tractirt wurde. Sie gesunden noch jetzt bei der dem gesunden Menschenverstande Hohn sprechenden homöopathischen und bei der geradezu verrückten und gefährlichen, aus blindem Zugreifen und Durchprobiren von wirksamen Arzneistoffen am kranken Menschenkörper bestehenden Rademacher’schen Heilkünstelei, ebenso aber auch bei den Rathschlägen des Dr. Ringseis in München, nach welchem die Krankheiten von der Erbsünde und dem Schlangensamen herkommen und zu ihrer Heilung durchaus der Rückkehr zur Frömmigkeit, der Buße und des Gebetes bedürfen. – Das Komische bei diesem fortwährenden Wechseln der Heilmethoden ist nun aber, daß die Anhänger einer jeden sich für die Richtigkeit der ihrigen todt schlagen lassen und meinen, sie allein hätten den wahren Stein der Weisen entdeckt und wüßten die Kranken richtig zu heilen. Ja, sie behaupten wohl gar im Ernste, daß die Anhänger der früheren und anderer Heilmethoden Narren und Mörder seien. Wäre dem so, die Welt müßte längst ausgestorben sein, da nach dieser Behauptung alle Aerzte bis auf die neueste Zeit Giftmischer und Todtschläger gewesen wären.[1] (Steudel.)

Sehen wir uns nun nach den Heilmitteln um, welche die Jetztzeit gegen die Krankheiten in’s Feld zu schicken hat und die sie aus allen

  1. Wer ausführlicher über die Heilkünstelei und Heilkunde unterrichtet sein will, dem empfehlen wir „Die medizinische Praxis, ihre Illusionen und ihr Streben nach Gewißheit. Von Dr. Steudel.“
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_366.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)