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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Beflissener, „dieses Plätzchen ist mit Golde nicht zu bezahlen. Ich schaute die Alpen in ihrer Herrlichkeit und Majestät, lauschte des Rheinstroms ahnungsreichem, märchenseligem Rauschen, durchirrte Thüringens buchenschattende Waldpracht, Schlesiens gesegnete, lachende Fluren, vernahm das Branden des deutschen Meeres an Arkonas sturmgewohnten Felsen – aber die vollendete Anmuth und Lieblichkeit der Landschaft haben wir im vorliegenden augenerquickenden Bilde. O mein deutsches Vaterland, wie reich und schön bist du!“

Reinhold, der Jurist und der Jüngere, dessen Herz sofort überwallte, so er des Vaterlandes gedacht, erwiderte: „Ja, reich, unermeßlich reich und schön, aber ein gebrochen, polizeibewachtes und polizeidressirtes Volk trotz der Weck- und Mahnrufe eines Schiller und Körner, die dort von dem Nachbarberge wie wir die schöne Gotteswelt überschauten.“

„Laß uns diese Stunde,“ mahnte Bernhard, „nicht durch das alte Weh verkümmern. Sieh, wie die sinkende Sonne das Thal mehr und mehr mit ihrem Golde belegt! Fürwahr, die Götter des Olymp müssen uns beneiden.“

Man hatte sich eine Flasche Wein vom besten Jahrgange und eine Schüssel frischer frühlingduftender Erdbeeren bringen lassen und schaute in holdester Seelenstimmung das kostbare Abendbild. Die Landschaft verklärte sich immer himmlischer. Die Sonne glühte nur noch eine Hand breit über dem Erdrande. Berg, Thal und Wald standen in flammendem Golde. Jetzt entzündeten sich auch die Fenster einiger Weinberghäuser auf den Morgenbergen und strahlten als Brillantsterne daher. Dabei heilige, erhabene Stille. Kein Blättchen regte sich. Die Vögel gingen nach vollbrachtem Tagesconcert in ihre Waldesheimath zur Ruhe. Nur eine vereinsamte Lerche sang noch ihr Abendlied über einem Weizenfelde. Weiße Segel, auf der Elbe von Abend daher kommend, zogen wie Schwäne langsam vorüber und verschwanden hinter den Wald- und Rebenbergen im Morgen.

Jetzt noch ein letzter Blick der Sonne, ein goldner Funken in Smaragdgrün. Auch er erlosch und die Herrliche versank, um andern glücklichern Geschlechtern als junge Morgenfürstin aufzugehen. Mit ihr verglühten auch die Brillantsterne auf den Morgenbergen, und das Abendroth belegte Berg und Thal mit seinem tiefsten Purpur. Reinhold recitirte leise:

In tiefem Frieden ruht das Thal,
In purpurrothem Abendtraume,
Es tropfen Blüthen ohne Zahl
Hernieder von dem Apfelbaume.

Der Abendhorizont umkränzte sich jetzt mit goldumränderten Wölkchen, die, leise aufwärts steigend, hoch am Himmel in violetten Duft zerflossen. Wälder und Niederungen begannen sich dämmernd zu umschleiern und die bisher einem weißen Wölkchen vergleichbare Mondsichel trat immer siegender hervor.

„Gott, welch’ ein Abend!“ sagte Bernhard, „das ist ein Sabbathstündlein, wie es nur selten einkehrt im Leben.“

„Nur die von der Poesie gerötheten Stunden hat man gelebt,“ sprach Reinhold. Plötzlich frug er: „Bernhard, hörst Du?“

Vom Thale herauf erklang Gesang. Ein Kahn mit einem Männerquartett der Dreißig’schen Singakademie hielt eine Abendfahrt. Mit verhaltenem Athem lauschten die Freunde entzückt den Tönen, die über die dunkler werdenden Wellen und im ersterbenden Abendrothe himmlisch heraufklangen.

„Sie singen das ‚Aennchen von Tharau‘,“ rief Reinhold begeistert.

Der Kahn fuhr weiter. Die Töne wurden schwächer und schwächer. Endlich verstummten sie. Tiefe Stille. Da erhoben sie sich von Neuem, die Gondel hatte gewendet, und halb verweht und vom Abendhauche daher getragen, vernahmen die Freunde: ‚Was ist des Deutschen Vaterland?‘

Beglückt und verständnißinnig reichten sich Bernhard und Reinhold die Hand, und als der Vers kam: ‚Das ganze Deutschland soll es sein!‘ fielen sie laut und jubelnd und gläserklingend ein.

Aber als ob der Genius der Poesie es darauf abgesehen gehabt, unsere Freunde mit seinen reichsten Blumen zu überschütten, brach plötzlich von den Thürmen Dresdens festliches Geläute, den morgenden ersten Pfingsttag verkündend. Wie ein erhabenes Gebet tönten diese Glocken durch die Stille des Frühlingsabends und das Geläute der nah und fern gelegenen Dörfer fiel harmonisch ein.

„Pfingstheiligerabend!“ sagte Bernhard tief bewegt; „ja, diese Glocken, die den morgenden Pfingsttag verkünden, sind die prophetischen Wahrsager, daß auch dem deutschen Volke sein Pfingstmorgen nicht verloren ist und daß der Traum unserer Jugend dereinst zur goldenen Wahrheit werden wird.“

Reinhold, ganz hingerissen von der Poesie des Abends und den heiligen Klängen, rief glaubensfreudig: „Ja, er wird zur Wahrheit werden. Die Stimme im reinen deutschen Herzen kann nimmer lügen, denn sie ist die Stimme Gottes.“

Und gleich darauf rief er poesietrunken:

„Bruder, es ist überirdisch schön, fülle darum nochmals die Gläser, klinge an und gelobe: daß wir uns heut’ über zehn Jahr, so wir noch im Erdenthale wandeln, auf diesem Berge wieder finden wollen. Denn dieser Abend fürwahr verdient es, daß wir ihn im tiefsten Herzkämmerlein treu bewahren bis auf die spätesten Zeiten.“

„Ich gelobe es,“ rief Bernhard, und man leerte unter dem Geläute des Pfingstheiligenabends die Gläser bis zum Grunde.

Nachdem man vom gefälligen Winzer auf das Herzlichste Abschied genommen, reichte Reinhold letzterm nochmals die Hand mit den Worten: „So Gott will, kommen wir heut’ über zehn Jahre wieder. Möge Euch bis dahin der Himmel recht gesegnete Weinjahre bescheeren!“

Bereits am andern Tage befanden sich Bernhard und Reinhold auf dem Wege nach der Heimath. –

Und zehn Jahre waren vorüber. Bernhard lebte als armer Privatdocent auf seiner Universität und viele, viele Meilen davon Reinhold als karg besoldeter Assessor in einer obscuren Grenzstadt. Man hatte sich trotz der langen Zeit seit obiger Ferienwanderung nicht wiedergesehen, aber ununterbrochen in freundschaftlichem Briefwechsel gestanden.

Als der zehnte Jahrestag nahte, gedachten wohl Beide ihres Gelöbnisses; aber wie es in diesem sublunarischen Leben zu gehen pflegt, die prosaische Wirklichkeit läßt das in begeisterter Stunde Versprochene selten zur Ausführung kommen. So auch bei unsern Freunden. Beiden fehlte es, als der Pfingstheiligeabend nahte, an Zeit und auch für die viele Meilen lange Reise an – nöthiger Baarschaft.

Und so zog ein Frühling nach dem andern, ja ein Jahrzehnt nach dem andern über die Berge von Loschwitz und immer stellten sich, zumal bei der großen Entfernung der beiderseitigen Wohnorte – Bernhard docirte als hochgeachteter Professor an einer rheinischen Universität, während Reinhold Gerichtsrath im fernsten deutschen Osten war – einer persönlichen Zusammenkunft Hindernisse hemmend in den Weg.

Da erhielt, als der vierzigste Pfingstheiligeabend nahte, Reinhold von wohlbekannter Hand folgende Zeilen:

          „Mein alter, theurer Freund!

Du weißt, daß es heuer vierzig Jahre werden, wo wir auf dem Burgberge bei Loschwitz den Pfingstheiligenabend feierten. Auch erinnerst Du Dich unseres Gelöbnisses. Vierzig Frühlinge sind dahingegangen, und immer ließ es ein neidisch Geschick nicht dazu kommen, dasselbe zu erfüllen. Unser Loschwitzer Winzer hat vergebens gewartet.

Alter, theurer Freund! mich hat der Himmel in dieser langen Zeit manche schöne und erhebende Stunde erleben lassen, aber eine poesiereichere als an jenem Pfingstheiligenabend nicht wieder.

Da halte ich denn dafür, daß wir als Männer am Abend unseres Lebens erfüllen, was wir uns im holden Jugendtraume gelobten. Jene Stunde verdient es. Auch drängt es mich, je älter ich werde, dem Jugendfreund noch einmal in’s treue Auge zu blicken, bevor sich das meine schließt für dieses Erdenleben.

Ich kenne Deine Verhältnisse und lasse jetzt keine Entschuldigung mehr gelten. Aber alle unsere Lieben müssen mit. Ich komme mit meiner Frau Marie und drei Töchtern, der verheiratheten Amalie (deren Gatte leider durch sein Geschäft an seinen Wohnort gefesselt ist), ihrer fünfjährigen Anna und ihrem dreijährigen Ernst, sowie mit Gertrud und Elsbeth. Bringe darum auch Deine treffliche Elisabeth mit und trommle Deine Jungen, den Erich und den Adolph, zusammen. Wir müssen Alle mitsammen sein. Das Rendezvous im schönen Dresden überlasse ich Dir. Wie ich überhaupt alles Uebrige in dieser Angelegenheit in Deine Hand lege.

Mit Gott auf Wiedersehen nach vierzig Jahren!

„Dein Bernhard.“


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