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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

des Wirthes, unter dieselbe war der zweite Titel seiner Abschiedsvorstellung geklebt.

Nach vielen Thespisfahrten der schlimmsten Art führte ihn ein glücklicher Moment wieder nach Dresden, wo er Hoffnung hatte, am königlichen Hoftheater angestellt zu werden. Graf Vitzthum, der damalige Intendant, war entschlossen, in Berücksichtigung seines großen Talentes über den schlimmen Ruf Reitzenberg’s hinweg zu sehen. Bei der Antrittsvisite frug ihn der Chef der Hofbühne in vertraulicher Weise, nachdem er ihm über sein Spiel auf der Probe alles Schmeichelhafte gesagt: „ob er nicht fürchte, daß etwas Dialect, den er an dem Künstler zu bemerken glaube, bei seinem projectirten Gastspiel störend einwirken werde?“

„Nein, mein lieber Herr Graf Blitzdumm,“ entgegnet Reitzenberg, „ich bin ganz dialectfrei, Ihnen kommt es nur anders vor, weil sie ein ganz niederträchtiges ‚Sächsisch‘ singen.“

Natürlich hatten hierauf alle Unterhandlungen ein Ende, Reitzenberg erhielt als Abfertigung eine kleine Summe und setzte seinen Stab weiter. Wie der Schatten seines früheren Ich’s taucht er in der Theaterwelt wieder ab und zu auf, um ebenso schnell wieder auf lange Zeit zu verschwinden. Man kann sich denken, welch’ eine Fülle von Noth und Entbehrung bei diesem Treiben über ihn kam, und doch war ihm in keiner geregelten Stellung wohl, die extravagantesten Streiche führte er aus, bis er sich unmöglich gemacht hatte. Eines Abends nach beendigter Vorstellung, ungefähr zehn Uhr, als Moritz, damals in Brünn angestellt, das Theater verließ, hörte er unter dem Thorweg seinen Namen flüstern: „Bruder Moritz–“, vor ihm stand Reitzenberg. Er führte den Ueberraschten unter die düster brennende Oellampe, schob seinen Rock zurück, zeigte diesem den nackten Oberkörper und sprach dumpf: „Ich habe kein Hemd mehr.“ Tief erschüttert nahm Moritz den Unglücklichen in seine Wohnung, sorgte für des Leibes Nothdurft, kleidete den gänzlich Verkommenen neu und sauber und führte ihn dem Theaterdirector Schmidt zu, der ihm ein Gastspiel bewilligte, welches er mit solchem Glück durchführte, daß er sofort engagirt wurde. Die Handlungsweise von Moritz war um so edler, als er wußte, daß ihm in Reitzenberg ein gefährlicher Rivale in seiner künstlerischen Stellung erwachsen müßte.

Kaum warm geworden im neuen Engagementsneste, regte sich der alte Adam wieder in dem unverbesserlichen Gaukler. Moritz borgte ihm zum Hamlet schwarze Tricots und ein Paar Stiefelchen mit Franzen; letztere riß er am anderen Tag ab und trug Beinkleider und Stiefelchen so lange, bis sie ihm im buchstäblichsten Sinne des Wortes vom Leibe fielen. Einst behauptete er vor der Aufführung von Cabale und Liebe, er wolle als Ferdinand den größten Unsinn schwatzen, ohne daß es das gedankenlose Publicum merken würde. In der Scene mit Lady Milford verdrehte er die Stelle: „Umgürte Dich mit allem Stolze Deines Englands, ich verwerfe Dich, ein deutscher Jüngling –“ in folgender Weise: „Umengle Dich mit allem Gurte Deines Stolzlandes, ich verjüngle Dich, ein deutscher Werfling.“ Leider hatte er Recht, außer einigen feiner organisirten Naturen, welche diese Umarbeitung Schiller’s mit starrem Staunen erfüllte, ging der freche Schwank fast unbeachtet von der Menge vorüber. Schlimmeren Ausgang und seine abermalige Entlassung hatte eine andere übermüthige Wette. In heiterer Weinlaune, unbeschäftigt, trieb sich Reitzenberg zwischen den Coulissen herum, während draußen auf den weltbedeutenden Brettern ein Ritterstück gegeben wurde, das einen Mitbürger Brünns zum Verfasser hatte. Eben wurde die Hauptscene des Drama’s gegeben, in welcher der Bösewicht seinem Freunde den Giftbecher verderbenbringend zuwendet. „Was zahlen Sie, lieber Saal,“ fragt plötzlich Reitzenberg den mit ihm hinter der Scene zusehenden Regisseur, „wenn ich jetzt, wie ich da bin, hinaus auf die Bühne gehe und den beiden Kerls den Giftbecher wegsaufe?“

Zehn Flaschen Champagner,“ antwortete Saal, der eher des Himmels Einsturz vermuthete, als die Ausführung dieses Vorschlages.

Wer vermag aber sein Entsetzen zu schildern, als Reitzenberg mit den Worten: „Ein Schuft, der nicht Wort hält!“ bereits aus den Coulissen und im Straßencostüm zwischen die beiden Ritter an den Zechtisch schreitet, gravitätisch den Becher ergreift, diesen langsam austrinkt und sich mit feierlichem Schritte auf der anderen Seite entfernt.

Wer kann ermessen, auf wessen Seite das Erstaunen und dann die maßlose Entrüstung größer war, ob beim Publicum, ob unter den Mitspielenden, ob endlich bei dem unglücklichen verzweiflungsvollen Dichter. Anfangs glaubte man, Reitzenberg sei plötzlich wahnsinnig geworden, bis der schuldlose Mitschuldige, Herr Saal, die Sache aufklärte.

Reitzenberg wurde von der Direction sofort entlassen, von der Polizei aber gefaßt. Nachdem man ihm vierzehn Tage unter Schloß und Riegel, fern vom Weltgetriebe, Zeit gelassen, über seinen frechen Streich nachzudenken, finden wir seine Spur in Leipzig wieder, wo er auf dem Theaterzettel den Namen Koch las. Ohne sich zu besinnen, geht er in die Wohnung des ihm gänzlich fremden Collegen und versichert das Dienstmädchen, er sei ein alter Freund des Herrn, sie möge ihm nur das Zimmer aufschließen und Rum bringen.

Bei der Rückkehr in seine Wohnung fand der erstaunte Koch einen fremden Menschen, welcher in seinen, das heißt Koch’s, Schlafrock gehüllt und aus seiner Pfeife rauchend, es sich mehr als bequem gemacht hat. Mit dem Ruf: „Alter Freund, lieber Junge, wie freut sich Reitzenberg Dich zu sehen!“ Der joviale junge Künstler, der, bei den: Rufe Reitzenberg’s, gleich die ganze Geschichte durchschaute, ging auf den derben Spaß ein und behielt den aufgedrungenen Gast einige Tage bei sich. Glänzende Engagements in Braunschweig, Hamburg und an anderen großen Bühnen erwiesen sich immer nur für kurze Zeit möglich. Seine unverbesserliche Trunksucht hatte stets Scandale zur Folge, nach welchen er schlechterdings „unmöglich“ wurde.

In dem nahen Altona gab er, von Hamburg aus, eine Gastrolle in dem bereits erwähnten Stück: „Die Kreuzfahrer“ oder „die ringemauerte Nonn“, oder: „Der dankbare Türke“, wie es hier hieß. Reitzenberg sagte vor Beginn der Vorstellung: „Gebt heute Acht auf mich, Kinder, heute ist Freitag, der Freitag war von jeher mein Unglückstag, heute passirt mir ein Malheur.“ Die Probe war vortrefflich gegangen, mehrere Rollen wurden, wie an kleinen Bühnen gewöhnlich, gestrichen oder in eine zusammengezogen. Unter den Darstellern der Nebenrollen befand sich ein junger Dilettant, seines Zeichens ein Leineweber, der in seinen freien Stunden mit glühender Leidenschaft Komödie spielte und sich die Garderobestücke z. B. Helme, Harnische etc. sehr zierlich aus Pappe selbst verfertigte. Er übernahm alle zu besetzenden kleinen Partien, Ritter, Boten, stummer Apothekerbursche etc. etc.

Als er nun an diesem verhängnisvollen Abend eine Meldung zu bringen hatte, war er, in den Coulissen stehend, so tief in fanatische Bewunderung der Leistung Reitzenberg’s versunken, daß er sein eigenes Auftreten vergaß und alle Winke des gereizten Künstlers übersah. Da plötzlich packt derselbe den zum Tode Erschrockenen bei dem Pappdeckel Brustharnisch und schleudert ihn mit den Worten auf die Bühne: „Wird Er herauskommen, verfluchter Leineweber!“ Der sauber gearbeitete Harnisch war auseinander gerissen bei der gewaltsamen Procedur, und das Silberpapier hing dem armen Kunstenthusiasten über den Bauch herab.

Im Laufe der Vorstellung wurde Reitzenberg immer betrunkener; im vierten Act, als er die Aebtissin um die Freilassung der jungen Nonne bittet, konnte er nicht mehr, fest auf den Beinen stehen; er stützt sich auf sein Schwert, welches unglücklicher Weise in eine Bretterspalte des Podiums durchrutscht, und unser Held fällt in voller Länge lang, rasselnd im Harnisch, zu Boden. Dort, im vergeblichen Bemühen sich aufzurichten, brüllte er der Aebtissin entgegen: „Weib, mache mich nicht rasend, ich stürme diese Mauern, ich fürchte nichts, nichts auf der Welt, nicht einmal das Lachen dieser erbärmlichen Philister da unten, die nicht wissen, daß sie den großen Reitzenberg verhöhnen.“

Ein furchtbarer Tumult entstand, man wollte die Bühne stürmen, um den Trunkenbold zu züchtigen, der sich indeß durch eine Hinterthür entfernt und in einen Fiaker geworfen hatte, mit welchem er in vollem Costüm nach Hamburg zurück fuhr.

Dies war die letzte Heldenthat, welche von ihm in der

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