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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Arm in Arm mit zwei Burschen seines Alters. Einen Augenblick traute ich meinen Augen nicht. Das in den fünf Wochen langgewachsene Haar und der feine modische Anzug entstellten den jungen zu seinem Vortheil. Im nächsten Augenblick jedoch hatte ich ihn erkannt. Mich durchzuckte es ganz eigenthümlich. Obwohl ich mich freute, der Anstalt einen Dienst erweisen zu können, überwog doch das unheimliche Gefühl meiner halbpolizeilichen Mission. Enfin – es galt den Burschen zu fassen! Ich drehte mich nicht gleich um, sondern ließ die Drei, welche ganz und gar mit ihren Cigarren beschäftigt schienen, fast bis zur Ecke kommen. Sie schwenkten ab, um die Jägerstraße rechtwinklig zu schneiden und der Oberwallstraße zu folgen. In demselben Augenblick sah und erkannte mich Matthias, ließ seine Begleiter los und war pfeilschnell in der Wallstraße verschwunden. Ich ihm nach. Er gebrauchte die Schlauheit, auf dem Trottoir zwischen den Menschen zu bleiben, so daß ich ihn aus den Augen verlieren mußte. Ich wählte mit mehr Vortheil das Pflaster, wo ich nicht auszuweichen hatte. In der Nähe des jetzigen Telegraphen-Amtes erreichte ich ihn. Sogleich suchte ich seine rechte Hand zu fassen, weil mich eine verdächtige Bewegung derselben nach der Tasche auf eine Messer-Vertheidigung gefaßt machte. Ein kurzer Kampf entspann sich. Matthias befreite seine rechte Hand, fuhr damit in die Tasche und – hob sie einen Augenblick darauf mit allerlei Silbermünzen gefüllt schreiend in die Höhe: „Das Geld habe ich gestohlen! Ein Schutzmann soll mich arretiren!“

Die ganze Scene hatte genügt, einen Knäuel von etwa zweihundert Menschen um uns zu versammeln. Wie auf ein gegebenes Zeichen drängten sich unheimliche Gestalten in unsere unmittelbare Nähe und suchten unter Drohungen den Knaben meiner Hand zu entwinden. Aber diese saß wie eine eiserne Klammer am linken Handgelenk meines Gefangenen. Mit wenigen Worten hatte ich einige anständige Herren in’s Interesse gezogen, diese bildeten eine schmale Gasse durch die Menge, ich ließ plötzlich die Hand des Knaben los, umklammerte aber in demselben Augenblicke seinen Nacken, schob ihn vor mir her, setzte mich, als Raum gewonnen war, mit ihm in schnelle Gangart und stürmte das Endstück der Französischen Straße entlang dem Werder’schen Markte zu. Hier standen Droschken. Einer der Kutscher hatte die Scene von Weitem beobachtet, merkte, als ich ihm zuwinkte, meine Absicht, öffnete den Wagenschlag und saß zum Abfahren bereit, als ich mit Matthias ankam. Kopfüber warf ich diesen in den Wagen, sprang hinterdrein, und fort ging es durch die gaffende Menge hindurch dem Rettungshause zu. Das Ganze war das Werk weniger Minuten und Matthias durch die überraschende Schnelle des Vorgangs etwas verblüfft. Aber bald hatte er die Situation erkannt, stürzte mir zu Füßen und bat mich weinend und händeringend, ihn nicht in die Anstalt, sondern zur Stadtvoigtei zu bringen, vorher aber ihm sein Geld abzunehmen. Auf die letzte Forderung ging ich ein. Er mußte mir Alles zuzählen. Aus großen und kleinen Silbermünzen wurden bald gegen dreißig Thaler. Er gestand ohne Weiteres, daß er dieses Geld gestohlen und zwar nur aus Damentaschen. Mit gleicher Offenheit beschrieb er die ganze Manipulation.[1] Mit größerer Dringlichkeit kam er auf seine erste Bitte zurück. Als ich unerbittlich blieb, wurde er still. Ich blieb ebenfalls still, denn die eben gemachte Erfahrung nahm mir jede Hoffnung, den bald vierzehnjährigen Knaben im Rettungshause zu halten und zu bessern: er war schon jetzt für eine Correctionsanstalt reif.

Der Wagen hielt. Der Kutscher zog die Anstaltsglocke. Es war gerade die Zeit des Arbeitsschlusses. Alle Knaben waren auf dem Hofe oder in der Nähe desselben. Als ich mit Matthias erschien, erhob sich von allen Seiten ein jubelndes Rufen: „Matthias ist wieder da! Herr K. hat ihn gefangen!“ Die Knaben wußten, wie sehr uns die Sache interessire, so war ihr Interesse mit erwacht, allerdings aus ganz verschiedenen Beweggründen. Einige Wenige zeigten aufrichtiges Bedauern, daß uns der Junge so viel Arbeit mache –; Andere hielten es für ehrenrührig und schändend für’s Haus, wenn Matthias ferner unter uns lebe, wieder Andere hatten nur die Frage erwogen, ob es uns gelingen würde, ihn zu fangen oder nicht; die Letzten endlich freuten sich unverhohlen über die Bravour ihres Cameraden und stellten neue, schlimmere Streiche in Aussicht. Allen aber imponirte es, daß ich Mittag ein Uhr mit der ausgesprochenen Absicht, Matthias zu fangen, die Anstalt verlassen und nun mein Versprechen gelöst hatte. Sie glaubten mich mit der geheimen Polizei in Verbindung, und mit dieser Annahme war manches Project zum „Ausrücken^ aufgegeben.

Matthias blieb ganz gegen Erwarten ruhig in der Anstalt. Er hatte seinen Plan geändert und machte eine besondere Aufsicht nach und nach überflüssig. Ein halbes Jahr hielt er aus, dann wurde er auf sein Drängen von seinen Verwandten reclamirt und entlassen. Er ist mir nicht aus den Augen gekommen. Noch Anfang December sprach ich ihn – im Zellengefängniß, wo er für Theilnahme am Raubmord eine fünfzehnjährige Einzelhaft verbüßt. Ein von ihm geschnitzter Brodteller mit der Randschrift: „Unser täglich Brod gieb uns heute!“ steht täglich vor mir.




Ein Tag in den Höhlen Westphalens.

Von Prof. Karl Vogt.
(Schluß.)

In einigen der größeren Kammern hat Baumeister Sebald mit trefflichem Verständniß tiefe Gräben ausgeworfen und die darin gefundenen Schätze auf Tafeln ausbreiten lassen. Denn dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse und Untersuchungen nach bilden die Tropfsteine nur den architektonischen Schmuck und die Decke der riesigen Sarkophage, als welche sich die Höhlen darstellen. Unter dem Tropfsteinboden liegen, in Modererde eingehüllt, die zum Theil riesigen Knochen von Thieren, welche früher die Gegend bevölkerten, die Kieselwerkzeuge, die Instrumente, die Mahlzeitreste, welche beweisen, daß der Mensch mit diesen ausgestorbenen Thierarten zusammen auf der Erde lebte und mit ihnen, ein Wilder, den harten Kampf um das Dasein stritt, in dem manches Individuum zu Grunde gegangen sein mag, während das Geschlecht aus demselben siegreich hervorging. Wenn man früher die Höhlen mehr auf diejenigen Einschlüsse untersuchte, die von Thieren herrührten, und besonderen Werth auf die Erhaltung der einzelnen Stücke legte, aus denen man die ausgestorbene Thierart mit ihren Eigenthümlichkeiten wieder construiren konnte, so hat sich die neuere Forschung, ohne diesen Punkt zu vernachlässigen, mehr denjenigen Fragen zugewandt, welche mit dem Menschen in näherer Beziehung stehen. In den Händen von Lartet, Dupont, Steenstrup, Falconer hat das kleinste Knochenstückchen, das ärmlichste Bruchstück, eine Bedeutung erlangt, die man früher nicht hätte ahnen können, und wir dürfen mit Stolz sagen, daß keine Wissenschaft so glänzende Beweise tiefeindringender Untersuchungen und scharfsinniger Schlußfolgerungen aufzuweisen hat.

Zu ähnlichen Forschungen können die westphälischen Höhlen Gelegenheit geben, denn die meisten derselben sind noch völlig unbetreten und die anderen wurden fast alle zu Zeiten untersucht, wo die jetzigen Fragen der Wissenschaft noch nicht vollständig aufgestellt waren.

Die meisten, sage ich, sind noch ununtersucht. Lottner in seiner trefflichen „Geognostischen Skizze des Westphälischen Steinkohlengebirges“ führt höchstens ein Dutzend von bekannteren Höhlen auf, von denen einige in den vierziger Jahren „unter Verwendung amtlicher Mittel“ untersucht wurden – der Anblick des Gebirges überzeugt leicht, daß die Zahl der Höhlen, Grotten und Spalten,

welche Ausbeute liefern können, weit in die Hunderte gehen muß.

  1. Die beiden anderen Knaben waren seine Compagnons. Der erste geht dicht an einer schon vorrher beim Einkauf beobachteten Dame vorüber und überzeugt sich durch schnelles, leises Betasten, daß das Portemonnaie etwa in der rechten Kleidtasche ist. Der zweite drangt jetzt unter irgend einem Vorwande von der andern Seite gegen die Dame, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Im gleichen Moment escamotirt der dritte das Portemonnaie und steckt es dem zurückkehrenden ersten blitzschnell zu. Dieses letzte Manövre hat für den Fall der Ertappung in flagranti den Vortheil, daß das corpus delicti nicht gefunden wird. Matthias hatte als der Gewandteste stets die Rolle des Dritten gehabt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_155.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)