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verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

zur Einladung, ja zu einer Nöthigung zum Verbrechen. Sie sagen: was soll ich für wenige Schillinge wöchentlich arbeiten, da ich mir durch Stehlen leicht fünf Pfund Sterling erwerben kann? Sie helfen ihren Kranken, begraben ihre Todten, sorgen für die hinterlassenen Kinder eingesperrter oder verstorbener Freunde. Unter sich halten sie einen gewissen Codex der Ehre aufrecht und opfern den Regeln desselben unter Umständen das Leben. Thaten der Liebe und Aufopferung sind unter ihnen nicht selten. Ihr Dasein verfließt unter beständiger Furcht und Aufregung, weil sie sich niemals sicher fühlen. Daher wechseln sie auch immer mit ihren Quartieren, namentlich wenn in einem, das sie bewohnen, ein Verbrechen vorgefallen ist.

Die Zeit, wo sie nicht auf ihre Arbeit ausgehen, verbringen sie mit Spielen, Rauchen, Trinken und Anhören der Abenteuer ihrer Cameraden. Der professionsmäßige Dieb aber betrinkt sich selten, weil er weiß, daß sein Gewerbe die größte Vorsicht und Thatkraft erheischt. Viele von ihnen sind das Opfer der Verhältnisse, wenige haben ein verbrecherisches Leben aus eigener Wahl angenommen; denn schon als Kinder wurden sie auf diese Bahn geführt. Verlassen von ihren Eltern, fielen sie nicht selten in die Hände sogenannter Diebszüchter, welche sie anfänglich erhielten, im Stehlen unterrichteten und dann auf Beute ausschickten. Aber auch Eltern selbst geben nicht selten ihren Kindern Anleitung zum Verbrechen und Laster, indem sie dieselben auf die Straßen jagen und nicht eher wieder zu Hause einlassen, als bis sie eine gewisse Summe Geldes mitbringen. Bei der eben erwähnten gewerbsmäßigen Ausbildung der Kinder zum Diebstahl durch ältere Diebe sollen jenen zuerst angekleidete Puppen, gleich den Modellpuppen der Maler, vorgestellt werden, um daran ihre ersten Uebungen zu machen; dann lassen die Meister an sich selbst die eingelehrten Diebskünste vornehmen, und erscheinen nun die Kinder gewandt genug, so müssen sie endlich dieselben auf den Straßen prakticiren, wobei sie die erste Zeit von ihren Lehrern überwacht werden, denen sie auch für ihren Unterhalt den Löwentheil der Beute abzuliefern haben.

Dickens hat im Oliver Twist, wo er von solchen unglücklichen Knaben erzählt, die im Dienst eines alten Gauners stehlen müssen, nur wirkliche Verhältnisse dargestellt. So wachsen manche Kinder ganz in verbrecherischen Anschauungen, Neigungen und Thaten heran als ein Material für das Gefängniß und Schaffot. Alle ihre Gefühle sind verwildert; der Geistliche, der sich ihrer annehmen will, erscheint ihnen als Heuchler, die Richter und Obrigkeit als Tyrannen, die anständige Menschheit als ihr ärgster Feind. Dieser traurige Skepticismus an der Wahrheit, Ehrenhaftigkeit und Güte der menschlichen Natur ist von höchstem Einfluß auf ihr verbrecherisches Treiben und kaum zu besiegen. Er stachelt sie zu einem wilden Zorn gegen alle Besitzenden. Hat aber ein Geistlicher einmal das Vertrauen und die Liebe dieser Elenden gewonnen, weil er ihrer Noth und Verzweiflung sich werkthätig angenommen, dann würden sie Alles eher ertragen, als daß ihm unter ihnen ein Leid geschähe.

„Niemals,“ erzählt der oben erwähnte Geistliche, „habe ich von einem Diebe, selbst wenn er betrunken war, ein unschönes Wort erhalten. Im Gegentheil, wenn ich mitten in der Nacht durch ihre Gassen wanderte, so wäre ich vollkommen sicher und würde es mir von allen Seiten entgegentönen: Dort geht unser Freund, der Diener Gottes, unser Pfarrer – Gott segne ihn! Und selbst wenn ein Dieb, der mich nicht kennt, mich berauben würde, die anderen würden mir alsbald mein Eigenthum wieder zurückstellen.“

Die Londoner Diebe haben unter sich das Princip der Arbeitstheilung aufgenommen, so daß jede Classe derselben nur einen bestimmten Zweig des großen und alten Handwerks cultivirt, worin sie es aber dann auch zur höchsten Virtuosität bringt. In dem Lande, wo z. B. das Uhrmachergewerbe sich in einhundertundzwei Abtheilungen spaltet, von denen jede besondere Arbeiter beschäftigt, kann es wohl nicht anders sein. Die Mitglieder einer einzelnen Diebssection sind mit einander genau bekannt und haben innerhalb der allgemeinen Gaunersprache wieder ihre besonderen Idiome. Machen wir uns mit diesen Sectionen etwas bekannt.

Da stehen in erster Reihe diejenigen, welche mit Gewalt plündern, indem sie entweder in die Häuser einbrechen (cracksmen) oder die Leute auf offener Straße (rampsmen) oder in Gemeinschaft mit schlechten Weibspersonen ausrauben (bludgers oder stick-slingers). In die zweite Classe dieser Section gehören die Garotters, welche vor einigen Jahren ganz London in Schrecken versetzten, jetzt aber nicht mehr so brutal auftreten. Sie überfielen gewöhnlich zu drei Mann, jeder bewaffnet und mit einer Kreppmaske verhüllt, den Wanderer bei Tag und Nacht. Der erste betäubte ihn durch einen Schlag, der andere hielt ihm die Kehle zu, daß er nicht Lärm machen konnte, der dritte bemächtigte sich rasch seiner Werthsachen. Aber ein solch’ unerbetenes Kleeblatt erschien oft auch mitten in der Nacht vor dem Bette eines sorglosen Schläfers, schlug und knebelte ihn und raubte dann seine Wohnung aus. Selbst in den ersten Hôtels sollen sich solche Besucher bei den Fremden eingefunden haben. Die Diebe dieser ersten Section müssen kräftige Männer sein. Darauf kommen die, welche denen, die ausgeraubt werden sollen, zuerst starkes Getränke beibringen und dann die Berauschten ausplündern (drummers und bug hunters). Zu diesem Zweig des Geschäfts bedarf es vor Allem einer gewissen vertrauenerweckenden Umgänglichkeit und Suada. Die dritte Section, die sich wieder in mehrere Classen sondert, wird von denen gebildet, welche heimlich stehlen. Für sie ist vor Allem Schlauheit, Geschicklichkeit und Schnelligkeit der Hand ein Erforderniß.

Hieher gehören nun die mobsmen oder swell-mobsmen, welche bei einem Menschengedränge, wie in einer Kirche, in einem Omnibus etc. stehlen und wovon die einen, die buzzers oder buz-nappers, die Taschen der Herren, die andern, wires, die der Frauen auf’s Korn nehmen. Diejenigen, welche es vorzugsweise auf Nadeln und Brochen oder auf Taschenuhren abgesehen haben, begründen wieder neue Unterabtheilungen, die prop-nailers und thumble-screwers. Die zweite Classe der dritten Section sind die shop-lifters, welche aus Gold- und Silber- und Juwelenläden stehlen; die dritte bilden die sneaksmen, kleine Diebe, die sich mit irgend einem Gegenstande fortschleichen. Wenn sie sich mit Gütern, die auf Karren und Kutschen liegen, wegschleichen, heißen sie drag-sneaks; wenn sie unter dem Thor eines Hôtels schlafen, um am nächsten Morgen mit dem Gepäck eines Reisenden, das vielleicht einen Moment unbewacht blieb, zu verschwinden, sind es die snoozers etc. Diese Classe verzweigt sich sehr, denn sie umfaßt Alle, die etwas wegstibitzen, seien es Kleider, die an Zäunen aufgehängt sind, seien es Nahrungsmittel aus den Verkaufsbuden, seien es Thiere, Hunde, Katzen, Vögel u. dgl. – Auch die Weiber und Buben, welche den Kindern anständiger Leute ihre Kleider, ihre Ohrringe und was sie sonst Werthvolles bei sich tragen, abnehmen, gehören hieher. Eine vierte Section sind die sogenannten Vertrauensbrecher, d. h. diejenigen, welche anvertraute Gegenstände veruntreuen, z. B. unehrliche Dienstboten, welche Diebe in die Wohnung der Herrschaft einlassen; Leute, welche Geldbriefe unterschlagen etc. Eine fünfte Section besteht aus den sho-ful-men, denjenigen, die durch Copien stehlen, wie die Falschmünzer, die Betrüger in Wechseln und Noten. Und endlich die sechste Section bilden diejenigen, die von den Dieben leben, indem sie, wie die fences, gestohlenes Gut kaufen oder, wie die coiners, falsches Geld ausgeben.

Diese Theilung ihrer Arbeit mag wohl die Ursache sein, daß die Londoner Diebe die ersten der Welt sind; es giebt kaum eine Unternehmung, die sie nicht wagten, kaum eine Sicherung, die sie nicht illusorisch machten. Sie bilden ihre Geschäftszweige mit derselben Feinheit aus, wie die ehrlichen Leute die ihrigen, und erwägen mir gleicher Umsicht wie diese alle Chancen des Gewinns. Die sogenannten ticket of leave-men, d. h. jene Verbrecher, die nach einigen Jahren guter Aufführung in den Strafcolonien einen Nachlaß ihrer Strafzeit erlangen und in die Heimath zurückkehren dürfen, verstärken besonders das Contingent der gewaltsamen Diebe. Da sie schwer Arbeit finden, sind sie gewöhnlich genöthigt, ihr altes Gewerbe wieder aufzunehmen. Aber nicht nur Männer, auch Weiber betheiligen sich an Verbrechen und zwar nicht selten an den allerschwersten. –

Mayhew, welcher nicht blos um die Erforschung der Nachtseiten der Londoner Gesellschaft, sondern auch um die Hebung des materiellen und moralischen Zustandes der niederen Classen viele Verdienste sich erworben hat, veranstaltete einmal ein Diebsmeeting. Er miethete zu diesem Zweck ein großes Schulzimmer und ließ an junge Diebe und Vaganten Eintrittbillets vertheilen. Bedingung für die Zulassung war, daß sie Vaganten und nicht über zwanzig Jahre alt seien. Es kamen ihrer hundertfünfzig. Sie waren

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verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1869, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_202.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)