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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


und das heitere Geplauder des jungen Sängers bald keinen Tag mehr entbehren und ernannte ihn zu seinem Kammersänger. Seine Lieder allein vermochten den schwermüthigen König zu zerstreuen, seine düsteren Gedanken zu verscheuchen.

„Ich habe einen zweiten königlichen Vater gefunden,“ schrieb Francesco nach Kopenhagen, „aber mein geliebter König in der Heimath Dänemark ist doch der rechte und mein hiesiger Gönner nur ein gütiger Stiefvater. Meine Narbe trage ich mit Stolz, und wenn mich auch die Frauen leider um ihretwillen noch nicht hassen, so fühle ich doch, daß ich noch etwas Rechtes werden kann, um meinem theuren Lehrmeister Ehre zu machen.“

Der König Friedrich hatte längst seinem Liebling die anscheinende Treulosigkeit verziehen und schickte sogar dann und wann ein Geschenk für ihn nach Gothenburg, unter Anderem ein Paar kostbare, mit Perlen besetzte Armbänder. Erst nach des Königs Tode verließ de Minde Schweden; es zog ihn nach Deutschland, er wollte lernen und hören. Hamburg war zunächst das Ziel seiner Wünsche. So wanderte er denn fort mit einem schmalen Bündelchen und wenig Geld, denn Schätze zu sammeln lag nicht in seiner Natur, er gab von jeher mit vollen Händen, so lange er selber etwas zu geben hatte, und pflegte über dem Heute stets das Morgen zu vergessen, unbekümmert genoß er die Gegenwart. Da war es wohl kein Wunder, daß er sich in Wismar plötzlich mit leerem Beutel wiederfand, sein letztes Goldstück hatte er draußen vor den Thoren einem Bettler in den Hut geworfen. Etwas beklommenen Herzens trat er, die Laute auf dem Rücken, ein echter fahrender Sänger, in den ersten Gasthof der Stadt und bat um ein Nachtquartier. Es war ein Glück, daß die vorgerückte Dämmerung den Zustand seiner Reisekleider mitleidig verschleierte, trotzdem war aber der Wirth im Begriff, den unscheinbaren Wanderer abzuweisen, da er „vornehme Fremde“ beherberge, die in „Carossen“ vorgefahren, und sich mit Fußgängern nicht einzulassen Lust habe.

In der Wirthsstube brannten ein paar Kerzen, und der Schein des Lichtes fiel auf das schöne Gesicht Francesco’s und auf die leichtgebräunte Stirn mit der Narbe, und das frische, hübsche Wirthstöchterlein hinter dem Schenktisch sah das Alles, und ihre braunen Schelmenaugen begegneten den blauen des jungen Gastes und – sein Geschick war entschieden. Leise bat sie den Vater für ihn, und er durfte bleiben.

Da zog er sich denn seinen Schemel in die Nähe seiner Schützerin und begann mit ihr so heiter und anmuthig zu plaudern, daß das Mädchen oft hell auflachte und meinte, nie einen fröhlicheren Gesellen gesehen zu haben.

„Ihr würdet der Rechte sein für die vornehme Frau dort oben, die einen Diener sucht für die Reise nach Hamburg und Paris,“ sagte sie im Laufe des Gesprächs. „Ihr scheint überall zu Hause und habt die Welt gesehen. Freilich müsse ihr Begleiter etwas von der Musik verstehen, hat die Dame gesagt,“ schloß sie seufzend, „und davon werdet Ihr wohl nicht viel wissen, ich hätte Euch sonst bei ihr gern das Wort geredet!“

„Wer weiß, ob ich nicht davon so viel verstehe wie jene Donna,“ lachte Francesco, „aber das Wort möchte ich mir am liebsten gleich selber reden! Wo wohnt sie?“

„Ich will Euch hingeleiten! Kommt!“

Und sie führte ihn mit leisen Schritten eine Treppe hinauf in einen matterleuchteten Gang. Der Weg war etwas lang, die Stufen steil, und die niedliche Führerin gebot ihm oftmals, ihre Hand recht festzuhalten. Das that er denn auch so treulich und neigte sich sogar sehr oft mit den Lippen auf die warmen vollen Finger, um sich zu versichern, daß die kleine Hand ihm nicht entschlüpfe und wirklich noch seine Gefangene sei.

„Hier ist die Thür,“ sagte sie endlich zögernd. „Ich wünsche Euch Glück!“

„Bleibt noch einen Augenblick,“ bat er – „das Glück verläßt mich, wenn Ihr geht!“

Sie blieb denn auch, und er nahm seine Laute in den Arm und stimmte ein Lied an zum Preise der Frauen, das er selber in Musik gesetzt. Wie ein Lichtstrom quoll die unvergleichliche Stimme durch den dunkeln Raum – athemlos, zitternd, wie im Traum lauschte das Wirthstöchterlein. Solche Töne waren noch nie hier laut geworden! Welch’ ein Gesang! Hinreißender hatte Francesco selbst vor dem Zelte Wrangel’s nicht gesungen.

Unten im Gasthofe lief man zusammen bei den Tönen des modernen Orpheus, aus allen Winkeln kroch es hervor, man drängte sich auf die Treppe, daß die alten Stufen ächzten, das ganze Haus war in nie gesehener Aufregung. Aber als der letzte Ton verhallt war, da wurden wie mit einem Schlage zwei Thüren nebeneinander mit Gewalt aufgestoßen. Auf der Schwelle des einen Gemachs, den silbernen Leuchter mit der brennenden Kerze in der schönen Hand, im weißen spitzenbesetzten Gewande, unter dessen leichtgeschürztem Saum der kleine Fuß im rothen Hackenschuh sichtbar wurde, das leichtgepuderte Haar lose auf die blendenden Schultern herabhängend, das Lächeln einer Circe auf den Lippen, erschien, noch immer reizend, noch immer verführerisch – Angelique la Barre.

„Her zu mir, Francesco de Minde!“ rief ihre Silberstimme.

Da aber umfaßten ihn zwei Riesenarme, da fühlte er ein bärtiges Gesicht an seiner Wange, eine übermächtige Kraft drückte ihn an eine breite Brust und die Stimme eines Löwen donnerte in sein Ohr:

„Her zu mir, mein Sohn! Ihr seid auf gutem Wege! Ein Glück, daß ich Euch gefunden! Bei mir geblieben, wenn Ihr ein ganzer Sänger werden wollt!“ rief der Capellmeister von Kopenhagen, Caspar Förster. –

Wie die beiden Feinde, die ohne ihr Wissen und Willen seit wenigen Stunden unter einem Dache weilten, über den Gegenstand ihrer gemeinsamen Neigung sich einigten, kann Niemand erzählen. Das aber weiß jedes Tonkünstlerlerikon zu erzählen, daß eben Francesco Minde der größte Sänger geworden. Man nannte ihn den Engel. Ob Caspar Förster oder Angelique la Barre an seinem Ruhme den größeren Theil hat – wer kann es sagen? – Bekannt aber ist, daß Franciscus de Minde, welcher um das Jahr 1640 in Brabant geboren war, später durch seine herrliche Stimme und ganz vortreffliche Singkunst, wohin er auch kam, das größte Aufsehen erregte. Nach den hier erzählten Abenteuern wandte er sich nach Hamburg, wo man ohne ihn kaum ein Concert mehr veranstalten mochte und wo namentlich auch sein Gesangunterricht bald überaus gesucht wurde. In Hamburg starb er auch, nachdem er vorher zum Protestantismus übergetreten, und ward im Dome beigesetzt. Seine Stimme hat in allen ihren Wandelungen, in dem Klange des Discant wie in dem Timbre des Alt und endlich als unvergleichlicher Tenor die höchste Bewunderung aller Zeitgenossen erregt. Er gehörte zu jenen Glücklichen, denen Könige und schöne Frauen ihre Gunst bewahrten bis an ihr Ende.




Aus dem englischen Rechtsleben.

Zwischen den hundert englischen Geviertmeilen hügeligen Bodens, welche jetzt London bedeckt, verbergen sich unzählige Merkwürdigkeiten, die der Fremde auch während eines langen Aufenthaltes entweder nie entdeckt, oder die er mühsam aufsuchen muß. Dazu gehört ganz entschieden ein eigenthümlicher grüner Platz mit geheimnißvoll alten Gebäuden ringsum, der zwischen die beiden Hauptverkehrsstraßen eingekeilt ist, welche sich von Süd-und Nordwest her citywärts zuspitzen. Die nordwestliche Straße, Oxfordstreet, welche jetzt über eine prachtvolle, massive, vierzehnhundert Fuß lange Brücke gradlinig das Holbornthal ebnet, ist durch mehrere enge Querstraßen mit der südwestlichen Hauptader des Verkehrs verbunden. Zwischen zwei derselben breitet sich der lachende grüne Platz aus, dessen wunderliche Gebäude ringsum den Fremden ganz besonders räthselhaft anstarren, zumal wenn er die Menge von schwarzmänteligen Männern mit grauweißen Perrücken durch Thüren und Corridore geschäftig hin- und herflitzen sieht. Was mag das für eine wunderbare Welt sein? Chancery. Aber was heißt Chancery? Das beste Lexikon wird hier nichts helfen; denn auch „Canzlei-Gerichtshof“ ist uns nur ein ziemlich unbekanntes Wort für eine ganz räthselhafte Sache. Wer freilich Dickens ordentlich gelesen hat, wird sich erinnern, welche Mördergrube von Hoffnungen und Rechtssprüchen damit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_236.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)