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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


trostlosen Verfall nun zu Zwecken, denen es ehedem unendlich fern war, erneuert wird, mahnt unter Anderem an jenes siebenjährige Märchen, während dessen der Faschingsjubel des Königs „Morken wieder lustik“ die Straßen der Stadt Kassel und die sonst so stillen Baumgänge der Aue und Wilhelmshöhe erfüllte, um dann, ebenso plötzlich wie er gekommen, gleich einem Walpurgis-Nachtspuk vom Schauplatz zu verschwinden, als der (gallische) Hahn geschrieen hatte, nämlich unter den Schlägen, die ihn in der Leipziger Ebene auf den hochgeschwollenen Kamm trafen. In dem Orangerieschloß nahm König Jérome am Neujahrstag 1808 die Huldigung der westphälischen Reichsstände entgegen und ließ sich bei dieser Gelegenheit eine Rede vortragen, bei deren elenden Kämmerlingsphrasen er selbst hätte erröthen müssen, wenn dazu seine aus Sanct Domingo gelb gebrannten Wangen noch im Stande gewesen wären. Diese Rede stammte aus der Feder eines Mannes, der viel von der Freiheit geschrieben und wenig für die Freiheit gelebt hat: des großen Gelehrten und kleinen Menschen Johannes von Müller. In den prächtigen Parkanlagen der Karlsaue erlustigte zuweilen der kleinste unter den Napoleoniden seine Hofdamen und sonstigen Freundinnen mit dem echt weiblichen Vergnügen einer Parforcejagd, für welche Hirsche und Sauen, im Reinhardswald gefangen, zu Wagen in die Aue geschafft wurden. Die Kasseler Tradition fabelt auch, daß im nördlichen Nebenpavillon des Schlosses, in dem berühmten „Marmorbad“, welches Stephan Monnot’s Meißel mit classischen Gestalten erfüllte, der westphälische Landesvater seinen durch Ausschweifungen entnervten Leib in Bädern von Rothwein gestärkt habe, der dann um Billiges an seine armen Kasseler Landeskinder verkauft sein soll.

Vom Mittelbau der Orangerie aus schweift der Blick über die herrlichen Baumgänge der Aue. Kassels Parkumgebungen sind besonders ausgezeichnet durch die wundervolle Gesundheit und Schönheit ihrer Baumgestalten. Als Ernst Koch, der viel umhergetriebene Verfasser des „Prinz Rosa Stramin“, dieses außerhalb Kurhessen zu wenig bekannt gewordenen köstlichen Erzeugnisses echtestem Humors, die Heimath vor Jahren einmal wieder besuchte und mit dem Schreiber dieser Zeilen einen Erinnerungsgang durch die Aue machte, sagte er in seiner unvergleichlichen treuherzig schalkhaften Weise: „Von allen Schlägen, die ich im Leben kennen gelernt, sind und bleiben mir doch die liebsten die Kasseler ‚Baumschläge‘.“

Der Name Ernst Koch’s ruft eine Reihe von anderen Namen ausgezeichneter Männer in’s Gedächtniß, welche weiland in den Prachtalleen, um die stillen Weiher und unter den mächtigen Rothbuchen und Steineichen in der Karlsaue lustgewandelt sind. Außer dem schon genannten Johannes von Müller, Georg Forster, der „Naturforscher des Volkes“, der lustige Knigge, der hier auf einsamen Wegen manchen Gedankem zu seinem „Umgang mit Menschen“ gesammelt haben mag, der langfingerige Erich Raspe, dem wir Münchhausen’s unsterbliches Lügenbuch verdanken; aus späteren Tagen Ludwig Spohr, der edle Tonmeister, Franz Dingelstedt, der in weltschmerzlichen Träumereien die berühmten Fortschrittsbeine oft bewegt hat, und Andere mehr.

Von der Höhe gen Westen grüßt zum Ausstellungsgebäude herab aus der Bellevuestraße das Haus, in welchem die Brüder Grimm einen Theil ihrer großen Wissenschaftsthaten vollbracht haben und in welchem unter Anderm auch der Plan zu ihrem deutschen Wörterbuche, diesem unvergleichlichen Nationalwerke, festgestellt und in Angriff genommen worden ist.

So drängen sich in bunter Reihe Gestalten, Schatten und Lichter aus vergangenen Zeiten heran an den sinnenden Besucher der Karlsaue. Nicht lange aber, so wird hier die Gegenwart so gebieterisch lebendig und fesselnd ihre Rechte geltend machen, daß das Ernste daneben nur mit Mühe Gedankenraum behalten mag. Noch wenige Monate und die Wallfahrt aus Nähe und Ferne beginnt zu der Stätte des großartigen Wettkampfes um die Palme des Kunstfleißes und der gewerblichen Erfindungsgabe, zu den Hallen, wo ein olympisches Spiel vor sich gehen wird, wie es dem Genius des neunzehnten Jahrhunderts behagt. Da wird zu schauen sein in mustergültigen Werken, was in’s Haus und zum Hause gehört, was dem Bedürfniß der Nothdurft und was dem üppigsten Schmucke des Ueberflusses dient, was der Mensch zum Schutze gegen Wind und Wetter, zur treulichen Auskleidung seiner Heimstätte bedarf, Schönes und Zweckmäßiges, Nöthiges und Ueberflüssiges. Die Hausfrau und Mutter für Küche und Keller, für Salon und Kinderstube, der Gelehrte für seine Wissenschafts-, der Geschäftsmann für seine Geldwerkstatt, der Rentier und der Arbeiter, vor Allen auch die Braut, die sich das häusliche Nestlein behaglich ausbauen will – sie Alle werden in der Karlsaue zu Kassel finden können, was ihr Sinn begehrt und ihr Geldbeutel erlaubt. Auch Wiege und Grab, das erste und das letzte enge Haus des sterblichen Menschen, haben ihre Vertretung in den weiten Räumen der Ausstellung „für’s Haus“. Kommet und schauet! Gußstahlkanonen und sonstige Mordwerkzeuge trefft ihr zwar nicht an, wohl aber Alles, was zur friedlichen Ausstattung des heimischen Heerdes und seiner Umgebung nützlich und erfreulich ist.

Die Gartenlaube wird die Kunde von diesem Friedenswerke auch in die weite Ferne, über den Ocean tragen zu den vielen Söhnen des Hessenlandes, welche unter fremdem Himmel wohnen. Sie werden mit wehmüthigen Heimathgedanken das Bild in diesen Blättern betrachten, aber freuen werden sie sich doch an dem Zeugniß des neuen Lebens in der alten Fuldastadt, welches ihnen aus diesem Bilde entgegentritt. Seid mir gegrüßt!




Vom deutschen „Cantor-Fritz“ in Ungarn.

Der Dorfschulmeister hatte seine Augen zum letzten Schlummer geschlossen. Die alte Wittwe mit ihrem zwölfjährigen Jungen mußte heraus. Sie zog also über eine torfschwarzstaubige Straße und eine hohe Brücke in die benachbarte Schul- und Universitätsstadt. Einige Möbels und Kleidungsstücke, der helläugige, schwarzhaarige Junge und Aussicht auf sechszig Thaler – jährlichen Wittwengehalt – damit rüstete sie ein kleines Zimmer unweit der Franke’schen Stiftungen in Halle und ihre Hoffnungen für die Zukunft aus. Mit Hülfe des Vormundes fand der Knabe Aufnahme in der Bürgerschule des Waisenhauses. Aber bald hieß es: der dumme Dorfjunge sollte lieber ein Handwerk lernen. Er läuft zum braven „Alten“, dem ehrwürdig-weißhaarigen Director der Franke’schen Stiftungen Diek, der ihn nach kurzer Prüfung in die letzte Classe der lateinischen Schule aufnimmt. Von da rückt er, der Tolpatsch, mit uns anderen dummen Jungen und unseren dummen Streichen bis nach Quinta, wo wir in der Geschichte von Preußens Noth unter Napoleon hören und für dessen Ermordung mit Dolchen im Gewande eine Verschwörung stiften, sie gründlich vorbereiten und am Vorabende der Ausführung endlich noch erfahren, daß er sehr weit weg wohne und außerdem schon längst todt sei.

Unser „Cantorfritz“ war nun um so fleißiger und sparte sehr oft seine Frühstücksdreier, um sich Bücher dafür zu kaufen. Freilich waren einige so dick und theuer, daß er sie sich Tage und Nächte lang borgte und abschrieb. Er wollte durchaus „studiren“; aber bei den sechszig Thalern Wittwengehalt erschien dies unmöglich. Der Vormund wollte also einen Dorfschulmeister aus ihm machen und nahm ihn aus Secunda zu einem frommen Geistlichen, dem er aber bald wieder entlief, um auf eigene Faust und nach eigenem Kopfe zu studiren. Dies that er auch redlich bei der Mutter zu Hause, nachdem er sie jeden Morgen angekleidet, gekämmt und gewaschen, für das Mittagsessen eingeholt und den Topf zum Kochen gebracht hatte; denn die arme gelähmte Mutter war endlich ganz hülflos geworden. Sehr oft legte er den Horaz, Sophokles oder Plato weg, um Strümpfe zu stopfen oder Hemden zu flicken. Endlich saß er eines Nachts allein neben der sterbenden Mutter, entsetzte sich über ihre Todeskämpfe und trug dann die Leiche in’s Nebenzimmer. – Lebte, studirte, kochte und wirthschaftete dann zwei Jahre allein, meldete sich bei Niemeyer, dem er zwei Foliobände Gedichte vorlegte, am königlichen Pädagogium zum Abiturientenexamen und erhielt gerade im Hebräischen, das er durchaus ohne Lehrer gelernt, die beste Censur, erbte fünfzig Thaler und studirte damit fünf Jahre auf der Universität. Tholuck wollte einen Geistlichen, Fouqué einen Poeten oder Officier aus ihm machen; er aber zog es vor, aus sich selbst etwas ganz Anderes zu machen. Doch seien wir auch dankbar für die dreißiger

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_174.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)