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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

traurig dastand, fragte ihn der Lieutenant, ob ihm denn irgend etwas abgehe, was ja nicht wohl sein könne, da er und seine Cameraden in Kleidung, Wohnung, im Essen und Trinken doch gewiß gut versorgt seien. Ismail nickte bejahend, schüttelte aber gleich nachher wieder den Kopf und sagte: „Nix femmes, nix promener, tout nix!“ und schritt still weiter.

Eine der wildesten und verkommensten Erscheinungen der ganzen Truppe war der Vierte im Bilde: Mohamed ben Hannach; maßlos in Allem, in Lust und Unmuth, in Genuß und Gier, mag er sonst im Kampfleben ein wild tapferer Soldat gewesen sein; in der Gefangenschaft war er aber eine Plage für seine Genossen, wie für die Wachen. Dem Kreuze, welches er in der Mitte seiner Stirn tätowirt hatte, war im Kampfe der Hieb eines deutschen Reitersäbels beigefügt worden, so daß die tiefe Narbe dicht an dem Kreuze vorüber über den Schädel unter dem Turban zurücklief. Dagegen war seine femme française, die er auf dem einen Arme tätowirt trug, und seine femme arabe mit untergeschlagenen Beinen, Husarenjäckchen und einem maurischen Fähnlein auf dem Kopfe, welche in die Haut des linken Armes eingeäzt war, noch unversehrt. Wie bald sein heißes Blut – gleich den meisten Anderen kannte natürlich auch er weder Eltern, noch Heimath, noch Lebensalter – in Wallung kommen konnte, zeigte er gelegentlich eines Streites, den er in der letzten Woche der Gefangenschaft aus unbedeutenden Anlaß mit einem Landsmanne, einem olivengrünhäutigen, leibarmen bartlosen Bürschlein, bekam. Er gerieth dabei in namenlose Wuth, riß ein im Gürtel verborgen gehaltenes Messer heraus und wollte nach seinem Gegner stoßen; dieser jedoch riß ihm mit Blitzesschnelle das Messer aus der Hand, schnitt sich hierbei wohl vier Finger halb durch, in der nächsten Secunde stak es aber dem lustigen Hannach so sicher in der Brust, daß, als es herausgezogen ward, der Blutstrahl an der daneben befindlichen Bretterwand bis zur Decke spritzte. Trotzdem wehrte sich die zähe Natur dieses Wilden noch einen ganzen Tag lang gegen den blassen Tod, der aber zuletzt Sieger blieb.

Hannach’s Leib liegt nun im Kirchhofe der schwäbischen Reichsstadt; ob seine Seele die richtige Pforte zum Eingang in das mohamedanische Paradies gefunden hat und nun mit den Houris desselben in schattigen Gängen wandelt, ist uns unbekannt; sicher aber ist, daß wenige Tage nach der Verscharrung seines Leibes die ganze Turcobande unter scharfer deutscher Bewachung die Festung verließ und über die Vogesen und die deutsche Reichsgrenze geführt wurde, um die an der Spitze der Civilisation schreitende Nation von Neuem zu beglücken. Wir aber rufen ihnen mit frohem Herzen nach: „Auf Nimmerwiedersehen!“

R. Heck.




Die Anfänge der Geschwister Rainer.


Von Ludwig Steub.


Es ist etwas mehr als ein Jahr verstrichen, seit diese Blätter (Nr. 48–50, 1870) einen Beitrag unter der Aufschrift: „Eine Zillerthaler Sängerfamilie“ mitgetheilt haben. Dort war auch die Urgeschichte der Rainer besprochen, ihr erster Auszug nämlich und die Art und Weise, wie er zu Stande kam.

Ludwig Rainer, dem wir diese Mittheilung verdankten, schreibt die erste Anregung seinem Oheim Felix zu. Dieser soll als Koppelknecht bei einem reisenden Pferdehändler in der Schweiz mit seiner schönen Stimme manche Abendgesellschaft erheitert, vielen Beifall eingeerntet und dann nach der Rückkehr seinen Geschwistern geweissagt haben, welch große, noch unversuchte Zukunft dem Alpengesang sich öffne. Darauf hätten die Uebungen in ihrem Heimathsdorfe zu Fügen im Zillerthale begonnen, und nach einigen Monaten sei die erste Gesellschaft öffentlich und unter lauter lebendiger Theilnahme der Fügener und ihrer Nachbarn in die Welt gezogen.

Dieser Erzählung steht eine andere gegenüber, welche mir Josef Rainer, einer von der Urgesellschaft, damals Gastgeber im Hackelthurm zu Fügen, schon im Jahre 1842 mittheilte. Darnach wäre zuerst über ihn der Geist gekommen und er selbst der Urheber und erste Führer der Rainer’schen Sängerfahrten gewesen. Er habe nämlich als ein junger, wandernder Viehhändler eines Tags zu Leipzig vier angebliche Tiroler Kinder singen hören, und da dies traurige Häuflein trotz seines schlechten Gesanges vielen Beifall gefunden, so habe er seinen Geschwistern geschrieben, jetzt sei die Zeit gekommen, als echte Tiroler in alle Welt zu gehen und zu jodeln und das Glück zu erjagen. Sie sollten sich aufmachen und ihm entgegenreisen, aber zum Schein etwas Leder und Handschuhe mitnehmen, damit ihre wahre Absicht nicht errathen werde. So seien sie zu Freising an der Isar zusammengekommen und dort zum ersten Male aufgetreten, dann aber weiter gegangen und, wie weltbekannt, überall mit stets wachsendem Beifall aufgenommen worden etc.

Man sieht auf den ersten Blick, daß dieser Bericht mit der Erzählung, welche Ludwig Rainer in seinen handschriftlichen Memoiren als Ueberlieferung seiner Mutter aufstellt, keineswegs zusammenstimmt. Letzten September bin ich nun wieder nach dem schönen Flecken Schwaz im Innthale gekommen und auf der Post bei Herrn Franz Rainer eingekehrt. Herr Franz Rainer ist der Sohn des Herrn Anton Rainer, welcher der ersten Gesellschaft angehört hatte, aber schon vor längerer Zeit gestorben ist. Beim Abendtrunk kam auch seine Schwester Marie heran und begann von der Gartenlaube zu sprechen und von jenem Artikel über die Zillerthaler Sängerfamilie.

Hier ist nun zu bemerken, daß im vorigen Jahre zu Fügen noch zwei alte Herren lebten, Franz Rainer, der Posthalter, und Simon, sein Bruder, ein wohlhabender Bauersmann. Franz Rainer war ein Sänger und auch bei der ersten Gesellschaft gewesen, Simon dagegen hatte immer lieber zugehört, als selbst gesungen, war daher, als die Anderen in die große Welt gezogen, zu Hause geblieben und seinem bürgerlichen Berufe nachgegangen. Seinem Bruder Franz war er aber innigst zugethan, und als dieser im vorigen Jahre gestorben, sagte er offen, jetzt wolle er auch nicht länger leben, legte sich hin und starb auch seinerseits nach wenigen Wochen.

Marie erzählte nun, wie sie diesen ihren Oheim, als er auf seinem letzten Lager lag, noch einmal besucht und ihm die Gartenlaube, vielmehr den besagten Artikel über die Gebrüder Rainer vorgelesen habe. Der Kranke habe darüber noch ein heiteres Stündlein verlebt und sei in der Hauptsache damit zufrieden gewesen. Nur die Geschichte von der ersten Ausfahrt verhalte sich anders, als sie dort vorgetragen sei. Nicht Felix Rainer habe den ersten Anstoß zu ihren Wanderfahrten gegeben, sondern der Kaiser von Rußland.

Eines Tages sei nämlich Kaiser Alexander in’s Zillerthal gekommen und zu Fügen im Schlosse, bei seinem Bekannten, dem Grafen Ludwig von Dönhoff, abgestiegen. Der Graf habe nun seinem hohen Gastfreunde eine kleine Ueberraschung bieten wollen, nach den Rainerkindern geschickt und sie bedeutet, daß sie am treffenden Abend im Schlosse singen sollten. Diese hätten sich dessen nicht geweigert, aber die Bedingung gesetzt, daß sie sich nur hinter einem Vorhange produciren dürften, denn sie fürchteten, der Anblick der kaiserlichen Majestät möchte sie leichtlich außer Fassung bringen und das ganze Unternehmen scheitern lassen. Also hätten sie denn an jenem Abend in ihrem Versteck ein paar Stücklein („Jetzt kommt die schöne Frühlingszeit“ und „Auf d’ Alma gehn mer aufi“) schüchtern, aber lieblich gesungen, und diese hätten dem Selbstherrscher aller Reußen dermaßen gefallen, daß er gegen die Verabredung hinter den Vorhang getreten sei, sie ermunternd hervorgezogen, höchlich belobt und an seinem eigenen Tische zu sitzen eingeladen habe. Sie hätten ihm dann versprechen müssen, ihn in Petersburg zu besuchen, und er habe ihnen zugleich für diesen Fall seine allerhöchste Gnade und Protection in Aussicht gestellt.

So haben wir denn jetzt drei Berichte, sämmtlich aus der Familie, die sie betreffen, über eine Thatsache, die noch keine fünfzig Jahre hinter uns liegt, drei Berichte, von denen keiner zum andern paßt und die sich auch durch keine Exegese vereinbaren lassen. Mir fielen, als mir Fräulein Marie diese dritte Lesart mittheilte, zunächst David Friedrich Strauß und Professor Renan ein und ich fragte mich, wie sie, die berühmten Mythenforscher,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_091.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)