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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Meine Kindheit.


Von Gottfried Kinkel.


(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)


III.


Mein Vater galt als ehemaliger Regens zweier höheren Schulen für ein Licht von Gelehrsamkeit, und zum Gelehrten dachte er auch mich zu bilden. Natürlich schwebte mir als Knabe ein beständiger Heiligenschein um sein Haupt, und erst viel später habe ich eingesehen, wie unzureichend seine classische Bildung gewesen ist. Gleich so vielen Philologen sah er die alten Sprachen nicht als ein Mittel, sondern als Selbstzweck an. Nicht um an ihrer Hand in die frühlingstrunkene Welt Ioniens und Athens oder in den Braus römischen Thatensturms einzutreten, nicht um in ihnen den Schlüssel zur Erkenntniß eines durch Freiheit und Bildung erhabenen Menschengeschlechts zu gewinnen, hatte er die Sprachen der hohen Vorwelt erlernt: sondern das Lateinische diente ihm, weil es eine Grammatik hatte und viele theologische Bücher darin geschrieben waren; das Griechische aber hielt er, außer der rein sprachlichen Bedeutung, nur zum Verständniß des neuen Testamentes für wichtig. Auch hat er diese letztgenannte Sprache selbst nie wahrhaft gründlich betrieben, sie überhaupt in ihrer formenschönen Jugend gar nicht kennen gelernt, wie sie aus Platon’s goldenem Munde tönt: er verstand sie blos in ihrer letzten, durch Juden und andere Morgenländer schon entstellten Form, welche sie in den alttestamentlichen Apokryphen und in den Apostelschriften angenommen hat. Einen Blick in hellenisches Leben hat er nie gethan, die großen Ionier und Athenienser gar nicht gekannt; ja so unklar lag ihm der Entwicklungsgang jener erhabenen Literatur da, daß er den Homer für viel jünger als den Apostel Paulus hielt. Dagegen war er wieder im Hebräischen recht fest, und sein altes Testament, das ich noch besitze, trägt Spuren, daß er es von einem Ende bis zum andern in der Ursprache durchstudirt hat, was gar manchem Professor der Exegese gleichfalls zu wünschen wäre. Seine Unterrichtsmethode war trocken und pedantisch, aber die lange Schulübung hatte ihn tactfest gemacht.

Mit sehr sicherem Schritte führte er mich von Stufe zu Stufe hinauf, und in drei Jahren war ich mit einer täglichen Unterrichtsstunde im Lateinischen so weit, daß ich mit ihm über alles Vorkommende ganz fertig in dieser Sprache conversirte, was besonders bei Spaziergängen im Munde eines neunjährigen Kindes die Bauern höchlich wunderte. Uebrigens habe ich seitdem auf dem Gymnasium bis zur Prima nicht mehr nöthig gehabt, mich auf meine lateinischen Stunden vorzubereiten, und so oft ich später auch zu den schwierigeren Schriftstellern Roms zurückkehrte, haben sie sofort vertraulich wie alte Bekannte zu mir geredet. Das Griechische begann ich mit acht Jahren, und im Hebräischen habe ich gleichfalls den Grund noch beim Vater gelegt, welcher dazu die Herbstferien vor meinem Aufsteigen in Secunda benutzte.

Das war aber auch der beste Unterricht, den ich erhielt, denn in allem Uebrigen, soviel auch davon betrieben wurde, fehlte die rechte Methode und die Gründlichkeit. Wie leicht ist es, zumal auf dem Lande, die lebensvolle Anschauung der Naturgesetze einem aufgeweckten Kinde beizubringen! Allein davon erfuhren wir ganz und gar nichts, denn alle Naturkunde meiner Eltern lag im Sechstagewerk der mosaischen Schöpfungssage beschlossen. Man braucht einen Knaben nur auf einen Berg mitzunehmen, um ihm alle Grundbegriffe der Erdbeschreibung einzupflanzen, indem man ihm an sinnlichen Beispielen zeigt, was ein Thal, ein Stromgebiet, eine Wasserscheide und eine Bergkette ist. Daran schließt sich alsdann in der Einbildung des Kindes ganz leicht die Vorstellung von Meer, Vorgebirge, Hafen, Insel und Landenge an. Geht man nun dazu fort, ihm die Erzeugnisse der eigenen Heimath zu zeigen und die Producte fremder Länder damit zu vergleichen, welche der Handel massenweis bei uns einführt, so entsteht ganz von selbst im Denkvermögen des Kindes die Vorstellung vom Unterschied der Himmelsstriche, welche sofort die Belehrung über die Gestalt der Erde, ihren Umlauf und ihr Verhältniß zur Sonne nach sich zieht. So gilt es nun zuerst, dem Kinde die blos natürliche Geographie, die Gestalt und Beschaffenheit der einzelnen Welttheile vor dem Auftreten des Menschengeschlechtes zu schildern und so vor seinem Verstand das Theater aufzubauen, auf dem nun die Geschichte ihr noch unvollendetes Schauspiel anhebt. Freilich gehört dazu ein kenntnißreicher und mit Anschaulichkeit des Vortrags begabter Lehrer. Statt dessen führte uns der Vater sofort vor den uns unverständlichen Atlas, trug uns aus einem Buche die Grenzen, Flüsse und Städte der einzelnen Königreiche vor, deren Entstehung wir doch noch gar nicht begriffen hatten, und ließ uns dann alle im Unterricht vorkommenden Namen auf der Karte aufsuchen und unterstreichen. Die Geographie blieb mir also ein bloßes Gedächtnißwerk und weckte in meiner Seele nicht die allermindeste Anschauung auf.

Noch schlimmer stand es mit dem Geschichtsunterricht. Da in diesem Fache Niemand im Hause Etwas verstand, so mußte das Buch aushelfen. Wie glücklich hätte mich damals ein Werk wie Becker’s Weltgeschichte gemacht! Allein die Wahl der Mutter, welche diesen Gegenstand übernahm, fiel auf das allerunglücklichste Buch, nämlich auf Kohlrausch’s Tabellen. In diesen ist der geschichtliche Stoff wie gerippartig zusammengestellt, so daß davon keine Seele das Mindeste verstehen kann, die nicht schon Geschichtskenntnisse mitbringt. Während also beim Kinde die Geschichte gerade in rechter Fülle und Breite als Lebenserzählung großer Männer beginnen soll, fing man sie mit mir am Schlußende an, nämlich da, wo es gilt, die Gleichzeitigkeit oder Reihenfolge der Begebenheiten kennen zu lernen. Denn dies zu begreifen, wie in der Weltentfaltung Alles streng aneinander hängt und mit Nothwendigkeit Eins aus dem Andern hervorgeht, das ist des reifen Mannes, aber nicht eines armen Kindes Sache. Da saß ich nun mit Thränen bitterer Verzweiflung vor dem unseligen Buche der Qual, dessen für mich so vollkommen seelenlose Namen und Jahreszahlen ich seitenweis auswendig lernen, ja zuletzt gar abschreiben mußte, und das begeisterndste aller Lernfächer, dem ich später die Forschung meines ganzen Lebens zugewendet habe, wurde mir durch diese schreckliche Methode vor allen übrigen zum Gräuel.

Auch in der Mathematik wurde der Grund bei mir schlecht gelegt. Da hierin Keiner im Hause sich zum Unterricht fähig fühlte, ging meine Mutter wöchentlich mit mir nach Bonn und ließ mir dort von einem Studenten Unterricht ertheilen. Dieser verstand zwar selbst das Fach gehörig, aber ich war sein erster Schüler, und die werden stets das Opfer für die Bildung der Lehrer. Ohne die ersten Elemente, worauf bei der Mathematik Alles und Alles ankommt, mir recht klar zu machen, schritt er rasch zu schweren Aufgaben fort, die ich nun nicht mehr lösen konnte. Zahlen vermag ich ohnehin nicht zu behalten, und von allem Erlernbaren hat einzig das Einmaleins nie in meinen Kopf gewollt. So habe ich denn dieses Fach immer nur stümperhaft durch die Gymnasialclassen mit fortgeschleppt, bis ich es nach dem Abgangsexamen kurzweg über Bord werfen durfte.

Von Künsten war in unserm Hause nur die Musik erlaubt, weil man mit Rücksicht auf meine Schwester annahm, daß jedes Mädchen von Bildung ein paar Clavierstücke müsse abspielen können. Ob musikalische Anlage da sei, danach fragte man damals so wenig wie heutzutage: die Musik war und ist eben die Modekunst. Zu diesem Zwecke war ein geringes Instrument angeschafft und ein Clavierlehrer aus der Stadt angenommen worden. Dieser brachte auch meiner Schwester eine ansehnliche Fingerfertigkeit bei und hat ihr später sogar bis zum Generalbaß hinauf Unterricht ertheilt. Allein sein Beginn in der Musik war stets nur auf die technische Ausübung, niemals auf die Grundbegriffe und obersten Gesetze dieser wunderwürdigen Kunst gerichtet. Von dem, was Musik eigentlich sei, erfuhr man bei ihm Nichts. Meine Natur ist nun die, daß Nichts mich anzieht oder fesselt, dessen Grund ich nicht erkenne, und als ich somit unter demselben Lehrer später auch zum Clavier herangezogen wurde, habe ich neun volle Jahre Spielunterricht gehabt und stets daneben mich geübt, habe es aber in den neun Jahren nicht dazu gebracht, auch nur einen einzigen Walzer richtig und schön zu spielen, bis ich endlich ergrimmt diese ganze Fingerquälerei und Geistabtödtung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_500.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)