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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

hübsche Mädchen, schade, daß sie etwas schielt und mit der Zunge anstößt. Wir wußten factisch noch Alles, Alles bis in die kleinsten Details, vor Allem Ihr Duell mit Karl Brandow –“

„Bei welchem doch, so viel ich mich erinnere, keine von den genannten Damen zugegen war,“ sagte Gotthold.

„Sehr gut!“ rief Herr Wollnow.

„Gar nicht gut,“ sagte Ottilie schmollend, „gar nicht gut und gar nicht hübsch von Herrn Gotthold, die treue Freundschaft, die man ihm so lange Jahre bewahrt hat, zu verspotten.“

„Das sei fern von mir,“ erwiderte Gotthold. „Im Gegentheil, ich fühle mich hoch geehrt und sehr geschmeichelt, daß mein armes Selbst so liebenswürdigen Frauen – und wäre es auch nur für wenige Minuten – den Stoff der Unterhaltung hat abgeben können.“

„Spotten Sie nur weiter –“

„Ich versichere Sie noch einmal, daß ich es ganz ehrlich meine.“

„Wollen Sie mir einen Beweis geben?“

„Ganz gewiß, wenn ich kann.“

„Nun denn,“ sagte Ottilie hocherröthend, „so erzählen Sie mir, wie es sich mit dem Duell verhielt, – denn, daß ich es nur gestehe, die Eine sagte, es sei so gewesen, und die Andere, so, und schließlich fanden wir, daß wir es Alle nicht wußten. Wollen Sie?“

„Sehr gern,“ sagte Gotthold.

Er hatte Herrn Wollnow’s wiederholte Versuche, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, wohl bemerkt und glaubte annehmen zu dürfen, daß das frühere Gespräch von Seiten seines Wirthes keineswegs so absichtslos gewesen sei, als es ihm anfänglich geschienen. Hatte Frau Wollnow ihrem Gatten einen Roman nach ihrem Geschmacke erzählt und dabei ihn selbst, der Himmel weiß, welche alberne Rolle spielen lassen? Er mußte solchem Gerede ein Ende zu machen suchen; er glaubte es am besten dadurch zu können, daß er Frau Wollnow’s Wunsch sofort erfüllte und die Geschichte, als ob sie einem Dritten begegnet wäre, mit möglichster Unbefangenheit erzählte.

Diese Gedanken schossen durch seine Seele, während er das Glas langsam an seine Lippen führte. Er nippte daran und sagte, indem er sich lächelnd zu Frau Wollnow wandte:

„Wie gern, verehrte Frau, hübe ich meine Geschichte mit dem Schillerschen Aeneas an: ‚O Königin, Du weckst der alten Wunde unnennbar schmerzliches Gefühl;‘ aber es geht nicht, verehrte Frau, es geht wahrlich nicht. Ich habe allerdings in der Wunde bei starkem Witterungswechsel eine Empfindung, aber auch dann ist dieselbe keineswegs unnennbar schmerzlich, und jedenfalls empfinde ich in diesem Augenblicke gar nichts, als die tiefe Wahrheit des alten Wortes, daß Jungen eben Jungen sind, die Jungenstreiche ausüben, und manchmal recht dumme. Zur Kategorie dieser letzteren gehört ohne Zweifel mein Streit mit Karl Brandow, der aber nicht, wie Sie glauben, verehrte Frau, in der Tanzstunde entstand, sondern dort nur zum Austrag gebracht wurde, nachdem er schon lange vorher unter der Asche geglüht und einmal sogar schon in lichte Flammen auszuschlagen gedroht hatte. Die erste Veranlassung war aber diese. In unserer Secunda galt es als altes und immer heilig geachtetes Herkommen, daß ein offner Raum zwischen der ersten Bank und dem Katheder für die ‚Alten‘ reservirt war und von einem ‚Neuen‘ vor Ablauf des ersten Semesters bei schwerer Strafe nicht betreten werden durfte. Nun gehörte Karl Brandow zwar zu den Alten, und den sehr Alten, denn er saß bereits im dritten Jahr in der Secunda, aber immer nur da, wo der Bänke letzte sind, trotzdem er, wenn ich mich recht erinnere, bereits sein achtzehntes Jahr zurückgelegt hatte. Ich gehörte zu den ‚Jungen‘ und sehr Jungen; denn ich war eben erst, ein Vierzehnjähriger, zu Michaelis in die Classe eingetreten, zum nicht geringen Verdruß meines Vaters, der mich ganz allein vorbereitet und erwartet hatte, daß man mich sofort in die Prima einreihen würde. Nicht ohne Grund, denn als, der Sitte gemäß, nach den ersten acht Tagen die Reihenfolge der Schüler nach dem Ausfall gewisser Arbeiten, die wir Extemporalia nannten, bestimmt werden sollte, erwiesen sich die meinen ohne Fehl und Tadel, und ich wurde mit einer gewissen Feierlichkeit in meine verdiente Würde als Primus omnium eingesetzt. Und nun dennoch nicht den Platz vor der ersten Bank beschreiten zu dürfen! Ich hatte dieses Verbot vom ersten Augenblick an als eine Schmach empfunden, jetzt erklärte ich dies offen, und daß ich mich nicht länger fügen würde, im Gegentheil die Aufhebung des brutalen Gesetzes verlangte und zwar nicht blos für mich, sondern für alle Neuen, als deren Vorkämpfer ich mich betrachtete.

Ich war, indem ich meine Forderung so formulirte, wirklich nur meinem eingebornen Gerechtigkeitsgefühl ohne alle Nebengedanken gefolgt; aber es erwies sich, daß ich nicht besser hätte operiren können, wenn ich der schlaueste demagogische Agitator gewesen wäre. Alleinstehend hätte ich gar keine Chance gehabt, meine kühne Neuerung durchzuführen, jetzt war meine Sache die Sache Aller, das heißt aller ‚Neuen‘, und der Zufall wollte, daß wir den Alten an Zahl genau gleich waren. Auch hinsichtlich der Körperkraft, die Knaben von dem Alter so gut zu taxiren wissen, hätten wir uns wohl mit ihnen messen können, und das etwa Fehlende hätte die Begeisterung für die gerechte Sachte, die ich unablässig zu schüren bemüht war, wohl ersetzt – wenn nicht Karl Brandow gewesen wäre. Wer sollte diesem achtzehnjährigen, wie eine junge Tanne schlanken und kraftvollen Heros widerstehen! Er würde zwischen uns wüthen, wie Achill zwischen den Troern, und das Blachfeld – einen heimlichen Platz im Tannenwäldchen hinter dem Pädagogium – mit den Leibern seiner zu Boden geworfenen Feinde besäen. Denn es war ausgemacht, daß, wer im Ringen mit dem Rücken den Boden berührte, als besiegt zu erachten sei und vom Kampfe abzustehen habe, der auf diese Weise entschieden werden sollte, vor den Augen von sechs ehrenwerthen Primanern, die mit anerkennenswerther Bereitwilligkeit das Schiedsrichteramt übernommen.

Indessen ein Zurück gab es nicht mehr, wenn wir, was wahrlich nicht der Fall, an ein solches gedacht hätten. Die Stunde kam, – eine Sonnabendnachmittagsstunde, für welche wir uns der Aufsicht der Lehrer zu entziehen gewußt hatten, – und ich glaube, daß Kriegern, die zum Angriff auf eine Tod und Verderben speiende Batterie commandirt werden, nicht ernster und feierlicher zu Muthe sein kann, als uns. Ich darf wohl sagen: mir vor allem. Ich hatte den Streit entfacht, ich hatte alle die braven Jungen darein verwickelt; ich fühlte mich für den Ausgang verantwortlich, und für die Schande im Falle des Unterliegens, einem Fall, der mir mit jedem Moment wahrscheinlicher vorkam. Daß ich entschlossen war, für meinen Theil das Aeußerste zu thun und jeden Nerv anzuspannen, versteht sich von selbst. Ich hoffte und betete zu den Göttern, daß sie mir Karl Brandow zuertheilen möchten, – denn die Gegner sollten ausgeloost werden, und nur wer seinen Gegner besiegt, durfte unter denen, die ihren Gegner besiegt, frei wählen, bis Alles entschieden war. Ich erinnere mich nicht, ob die Primaner, welche diese sinnreichen Gesetze entworfen, ihren Walter Scott copirt hatten; ich weiß nur, daß ich die berühmte Schilderung des Turniers von Asby im Ivanhoe später niemals habe lesen können, ohne an diesen Sommernachmittag und den schattigen Platz im Walde und die von Muth und Kampfeseifer glühenden Knabengesichter erinnert zu werden.

Und wie im Turniere von Asby ein ganz unvorhergesehener Zufall in der Gestalt des schwarzen Ritters, des noir fainéant, die sonst unrettbar verlorene Sache des Helden gewinnen macht, so auch hier.

Unter den Neuen war ein Knabe von sechszehn Jahren, mit einem offenen, ehrlichen Gesicht, das schön gewesen sein würde, wenn es nur etwas mehr Leben gehabt und die großen blauen, treuen Augen etwas weniger träumerisch geblickt hätten. Er war nicht von hohem, aber kräftigem Wuchs, und wir würden auf ihn etwas gerechnet haben, nur daß seine Indolenz uns entschieden sehr viel größer schien als die Kraft, die er etwa besitzen mochte; denn niemals hatte er eine Probe derselben abgelegt, und auf unsere dringende Frage, wie er sich selbst taxire, hatte er schweigend die breiten Schultern gezuckt.“

„Curt Wenhof!“ rief hier Frau Wollnow.

„Ja, Curt Wenhof, mein lieber armer Curt,“ fuhr Gotthold fort, dessen Stimme bei der Erinnerung an den geliebten Jugendfreund zitterte. „Ich sehe ihn, wie er dastand, lässig, als ginge ihn die Sache nun weiter nichts an, nachdem er seinen Gegner mit leichter Mühe zu Boden geschleudert, wie ein Binder die Garbe hinter sich wirft. Auch ich hatte den meinen niedergerungen und richtete mich eben athemlos und keuchend auf, als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_561.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)