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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

als solche buchstäbliche Uebertragung dieser meist verblümten arabischen Phrasen. Eigentlich kommen sie dadurch viel unverständlicher heraus, aber die Diplomatie hat ihren Willen erfüllt gesehen und das ist die Hauptsache.

Dies sind die glänzenden Augenblicke des tunesischen Hofes. Hinter dieser Pracht lauert aber eine entsetzliche Misère, verursacht durch die beständige Geldklemme, in welcher Groß und Klein vom Bey bis zum untersten Beamten (den einzigen ersten Minister ausgenommen) steckt. Nicht selten offenbart sich diese Geldklemme in einer für den Hof sehr ungünstigen Weise. Als z. B. vor einigen Jahren ein deutscher Prinz den Bey besuchte und dieser ihm zur Abreise sein Dampfschiff zur Verfügung stellte, weigerten sich die europäischen Maschinisten auf offenem Meer, weiter zu fahren, wenn sie nicht ihren rückständigen Gehalt bekämen. Ein englischer Prinz, den man im Stadtpalast von Tunis beherbergte, mußte die Miethe der für ihn geliehenen Möbel bezahlen; daß einem Prinzen der Wagen oder sonst ein Gegenstand, welchen er nicht bezahlen konnte, auf offener Straße weggenommen wird, daß man in den europäischen Läden dem Bey selbst allen Credit verweigert, kommt täglich vor. So wechselt Glanz und Elend, Heiterkeit und namenloser Jammer tagtäglich an einem orientalischen Hofe.



Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
II.

Als, auf des Daseins Gipfel angelangt, der sechzigjährige Goethe seine Erinnerungen niederzuschreiben unternahm, da gestaltete sich das Buch derselben „Aus meinem Leben“ unter seiner schaffenden Hand zu einem Kunstwerke, welchem er feinfühlig den Titel „Dichtung und Wahrheit“ vorsetzte. Er wollte damit andeuten, daß diese Geschichte seiner Jugend – denn das Buch reicht bekanntlich nur bis zur Uebersiedelung des Dichters nach Weimar – blos im dichterischen Sinne eine wahrhafte sei. Damit traf er das Richtige. Ueber diese Denkwürdigkeiten ist

„Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit,
der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit“

hingebreitet. Dem sechzigjährigen Dichterkönig erschien beim Rückblick auf seine Jugend dieselbe da in verschönerndem Lichte, dort in verhäßlichendem Schatten. Personen, Ereignisse und Zeitbestimmungen verschoben sich in seinem Gedächtnisse oder wurden auch wohl ganz willkürlich zurechtgerückt und Thatsachen den Bedürfnissen und Forderungen der künstlerischen Auffassung und Darstellung anbequemt. So verdampfte nicht selten das Wirkliche auf dem Herde der Phantasie, wandelte sich blos Gewünschtes und Gewolltes zum deutlich geschauten Fata-Morgana-Bild und steigerten sich Lust und Leid aus dem ursprünglich Naiven zum reflectirt Pathetischen. Damit will nicht gesagt sein, daß einzelnes, manches, vieles sogar in „Dichtung und Wahrheit“ der Verläßlichkeit entbehrte oder daß am Ende gar nichts für buchstäblich wahr zu halten wäre; nein, sondern vielmehr nur, daß die Selbstbiographie im Ganzen und Großen uns zwar die jugendliche Entwicklungsgeschichte des Dichters, nicht aber die Lebensgeschichte des Knaben und Jünglings Goethe authentisch erzähle. Fehlgehen würde demnach, wer alles das, was der Verfasser symbolisch gemeint hat, substantiell nehmen und als Thatsächliches verwenden wollte. Als Material zu Goethe’s wirklicher Jugendgeschichte angesehen, verlangt das Buch „Aus meinem Leben“ eine unablässige und genaue Controle mittels der Acten, und ich möchte sagen, der Inhalt von diesen verhalte sich zu des Dichters selbstbiographischer Darstellung etwa so, wie sich die Thatsache, daß der kleine Wolfgang zur Weihnacht von 1753 von seiner Großmutter Cornelia mit einem Puppenspiel beschenkt wurde, zu alledem verhält, was im ersten Buch vom „Wilhelm Meister“ dieser der Marianne von den Puppenspiel-Freuden und Leiden seiner Knabenjahre zu erzählen weiß. Im Uebrigen muß man das Buch nehmen, wie es Goethe gegeben, und muß es genießen und bewundern. Den Inhalt nacherzählen zu wollen, wäre nicht nur unnütz, sondern auch lächerlich-anmaßlich. Ich werde mich daher begnügen, bündig-thatsächlich zu skizziren, wie unser junger Titan vom Knaben zum Jüngling aufgewachsen ist.

Der Boden seines Wachsthums war eine der bevorzugtesten Stellen im damaligen Deutschland. Die Bürgerschaft von Städten wie Hamburg, Leipzig und Frankfurt durften geradezu als der Kern der Nation, als die Bewahrer und Förderer alles Tüchtigen, Guten und Besten vom deutschen Wesen angesehen werden. Residenzen wie Wien, Berlin, München etc. übten auf die nationale Cultur nicht nur keinen wohlthätigen, sondern vielmehr einen geradezu schädlichen Einfluß. Die deutsche Aristokratie, ihre Spitzen, die Fürsten, inbegriffen, war vollständig entnationalisirt, verfranzos’t bis in die Knochen. Am Rhein, Main, in Baiern, in Oesterreich ein stupides Pfaffenregiment in höchster Instanz alles entscheidend. Im protestantischen Deutschland der aufgeklärte Despotismus, wo er nach dem Vorgange Preußens platzgegriffen, sclavisch die französische Schablone nachpinselnd. Der Zusammenhang des Bewußtsteins unseres Volkes mit seiner historischen Vergangenheit zerstört und die Erinnerung an die Errungenschaften früherer Bildungsepochen der Nation vergessen und verschollen. An allen Höfen, in allen vornehmen Kreisen das Heimische hintenangesetzt, das Vaterländische verachtet. In Berlin, wohin sich aus der hülf- und trostlosen Reichsverwaltung heraus die Blicke der Patrioten allenfalls wenden konnten und mochten, ein erleuchteter Despot genial-energisch sein Stockscepter handhabend und unter ungeheuren Schwierigkeiten das Fundament der deutschen Zukunft legend, aber daneben ein „Fremdling im Heimischen“, wahrhaft äffisch für die Franzoserei eingenommen, allem Deutschen absichtlich aus dem Wege gehend und verschmähend, von dem Reformator der nationalen Literatur, von Lessing, auch nur Notiz zu nehmen, selbst dann noch diesen großen Culturheros schnöde übersehend, als das Erscheinen der „Minna von Barnhelm“ das Anbrechen eines neuen Geisterfrühlings schon ganz zweifellos signalisirt hatte.

Nicht von oben herab also kam die Erlösung unseres Volkes von fremden Geistesfesseln und ausländischen Bildungsformen. Auch nicht ganz von unten herauf, sondern aus der Mitte, d. h. aus dem deutschen Bürgerthume, welches ja überhaupt seit dem Aufblühen der Städte der eigentliche Träger aller gesunden und nachhaltigen Culturarbeit gewesen war. Mit in der ersten Reihe der deutschen Städte aber stand Frankfurt am Main, althergebrachten Ansehens und Wohlstandes froh, von regsamer Gewerkigkeit, blühend durch weitreichende Handelsthätigkeit, belebt durch reichen Fremdenverkehr, als kaiserliche Wahl- und Krönungsstadt der Schauplatz von mancherlei Haupt- und Staatsactionen mit ihrem mittelalterlich-romantischen Apparat und Pomp, geistigen Interessen mit Theilnahme zugewandt, in Förderung von Wissenschaft und Kunst nach Maßgabe der Zeit und der Kräfte nicht karg, bewohnt von echten Main- und Rheingaumenschen, welche, dem auch hier nicht fehlenden äußerlich französischen Zuschnitt des geselligen Thuns und Treibens zum Trotz eine kernhaft deutsche Fühl- und Denkweise besaßen und mit bürgerlicher Tüchtigkeit, Rührigkeit und Ehrenhaftigkeit eine bewegliche, frohsinnige und leichtlebige Führung des Daseins verbanden. Zu alledem kam noch, daß in Frankfurt die Gegensätze des Jahrhunderts so merkbar zu Trage traten wie irgendwo und gerade auch im elterlichen Hause unseres Dichters häufig genug sich kreuzten. Auch in religiöser Beziehung; denn wenn Herr Johann Kaspar in seiner trockenen Verständigkeit für einen richtigen Rationalisten gelten konnte, so war Frau Katharina Elisabeth ihrerseits zu Zeiten nicht abgeneigt, die gemüthlichere Auffassung des Christenthums, wie sie in den frommen Kreisen der Stadt heimisch, auf das eigene reiche Gemüthsleben wirken zu lassen. Hatte sich doch hier in Frankfurt, wo der Gründer oder wenigstens der Organisator des Pietismus, Philipp Jakob Spener, zuerst (im Jahre 1670) seine „Collegia pietatis“ aufgethan, die pietistische Ueberlieferung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_080.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)