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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

verhalten sich wie 1 : 1,9 und 3,7. Es geht aus der Vergleichung dieser Zahlen bis zur Evidenz hervor, daß die Gefährlichkeit der Eisenbahnfahrt durchaus nicht im Verhältniß zu der Schnelligkeit derselben steht. Die Schnelligkeit wird in der That nur da verhängnißvoll, wo sie zu groß für die Construction und den Dienstorganismus einer Bahn ist.

Unter Dichte des Verkehrs einer Eisenbahn versteht man die Häufigkeit, mit der jeder Theil derselben von Zügen befahren wird, unter Form des Verkehrs die Art, in der dies geschieht.

Der Verkehr zweier Bahnen kann, obgleich von gleicher Dichte, doch von sehr verschiedener Gefährlichkeit sein, wenn die Form der beiden verschieden ist.

Die Dichte würde z. B., obwohl vielleicht sehr groß, doch ohne alle Gefahr sein, wenn sich alle Züge auf einer Bahn mit gleicher Geschwindigkeit bewegten; hingegen kann ein nicht sehr dichter Verkehr sehr gefährlich sein, wenn er eine complicirte Form hat, worauf wir sofort zurückkommen.

Es üben hier noch eine Menge Verhältnisse Einfluß, deren Erwähnung in den Rahmen dieser Skizze nicht paßt. Hier läßt sich nur die in Zahlen auszudrückende Dichte der Verkehre in Rechnung ziehen.

Nun wurde jeder Punkt der Bahnen im Jahre 1869 befahren:

in England 18000 Mal,
in Preußen 6000 "
in Oesterreich 4600 "

Trotz der großen Dichte dieses Verkehrs in England, die dreimal stärker ist als in Preußen, viermal stärker als in Oesterreich, war der Gesammtverlust an Leib und Leben dort verhältnißmäßig geringer als hier, und nur die Zahl der Verletzungen der Passagiere durchbricht abnorm, für England ungünstig, die betreffenden Verhältnisse. Die Dichte des Verkehrs allein macht daher denselben im Allgemeinen auch nicht unsicherer und scheint nur, fast im Extrem auftretend wie in England, die Sicherheit der Fahrt selbst in gewisser Weise abzumindern.

Der Ausdruck „Form des Verkehrs“ umfaßt einen weitern Begriff. Diese Form wird gebildet durch die Art und Weise, wie sich Züge von sehr verschiedener Geschwindigkeit und Natur (Expreß-, Eil-, gemischte, Güter-, Arbeitszüge etc.) auf der Bahn bewegen, wie sie einander folgen, sich kreuzen, überholen, aufeinander warten, auf den Stationen expedirt werden, auf ihnen Wagen absetzen und von ihnen mitführen, wie sie Züge oder Theile von Zügen von einmündenden Bahnen aufnehmen und an diese abgeben, wie sie sich aus Durchgangs- und Localverkehrswagen combiniren, sich auf Knotenpunkten auflösen und neu zusammensetzen, wie sie Zweigbahnen in größerer und kleinerer Anzahl mit mehr oder minderer Frequenz zu bedienen haben, wie sie ihre Wagenparke auf den Stationen rangiren, wie oft sie halten, Wasser nehmen, wie sie von den Signalen etc. beeinflußt werden etc. etc.

Außerdem wirkt auf die Form des Verkehrs einer Bahn vor Allem der Umstand, ob sie ein- oder zweigleisig ist, ferner die Richtung, in der sich die Hauptmassen bewegen, die Steigungen und Gefälle der Bahn, das Klima, die meteorologischen Einflüsse und eine Menge Verhältnisse, deren Aufführung hier zu weit führen würde. Es ist einleuchtend, daß die Gefährlichkeit des Verkehrs sehr mit der Complication dieser Verhältnisse steigen muß, und in der That wird ein doppelt so complicirter Verkehr mindestens viermal gefährlicher sein.

Das Maximum der Complication der Verkehre wird in England erreicht, wo (1869) 6840 Stationen in Wechselwirkung treten, mithin 2 auf jede deutsche Meile Bahn kommen, während in Preußen (1276 Stationen) und in Oesterreich (1064 Stationen) fast genau 1 sich auf jeder Meile fand. Das Netz der Bahnen ist in England so dicht, daß eine Einmündung oder Kreuzung sich durchschnittlich immer auf 3 Meilen Bahnlänge befand. Die Züge sind hier kleiner, folgen sich rasch in großer Anzahl und überholen einander auf unglaublich vielen Punkten. Die Frequenz der großen Stationen und Kreuzpunkte ist bis zu einer auf dem Continent noch ungeahnten Höhe gestiegen. So fahren z. B. in jeder der beiden Londoner Stationen Cannon-Street und Charing-Croß täglich über 600 Züge ein und aus; die große Kreuzung bei Clapham Junction passirten am Derby-Renntage 1871 volle 1023 Züge in 24 Stunden, während die Frequenz keiner deutschen und österreichischen Station 200, beziehentlich 120 Züge täglich übersteigt.

Die Gefährlichkeit der Form des Verkehrs wird wesentlich erhöht, wenn derselbe hin und her auf demselben Gleise erfolgen muß, mit andern Worten: wenn die Bahn eingleisig ist. Der Umstand, daß von 3331 Meilen englischer Bahnen (1869) 2680 Meilen doppelgleisig waren, ist ein Hauptmotiv dafür, daß auf ihnen ein verhältnißmäßig so geringer Gesammtverlust an Leib und Leben stattfindet. Von den preußischen Bahnen war im genannten Jahre noch nicht die Hälfte, von den österreichischen noch nicht ein Sechstheil mit Doppelgleisen versehen.

(Schluß folgt.)


Bühnen-Erinnerungen.
3. Linden-Müller in New-York als Theaterdirector.

„Die Bühne kann viel zur Volksbildung und Volksveredelung beitragen.“ Dieser Satz war lange Zeit ein unumstößlicher. Für seine Wahrheit trat ein Lessing in die Schranken und bekämpfte siegreich, ein zweiter Achilles, die Gegner, in deren vordersten Reihen natürlich ein Hauptpastor stritt. Der moderne Staat scheint die Ueberzeugungen Lessing’s und unserer Besten für irrig zu halten. Als Gesetzgeber hat er durch sein Vorgehen bewiesen, daß er die Bühne nur als eine Art Vergnügungsinstitut – wenn auch vielleicht im höheren Sinne – hält. Der moderne Staat hat die Bühne „freigegeben“, er hat ihr den Stempel des Gewerbes aufgeprägt, und logischer Weise wird die Kunst mehr und mehr zerknetet und zerstampft in der Tretmühle des handwerksmäßigen Gewerbebetriebes.

Es ist doch nicht ganz uninteressant, darauf hinzuweisen, daß die sogenannte Theaterfreiheit eine Erfindung des zweiten französischen Kaiserreiches ist und Anfang der sechsziger Jahre von Louis Napoleon mit einem gewissen Pomp in der Presse verkündigt wurde. Nicht minder verdient Beachtung, daß der Imperator nicht lange darauf sich gezwungen sah, die bedeutenderen Pariser Theater durch ungewöhnlich große Zuschußgelder zu unterstützen. Die Extreme berührten sich auch hier. Und doch hat das Volk – und speciell das deutsche – ein tiefwurzelndes, instinctives Verständniß für den großen Gedanken, dem ein Lessing sein die Nacht durchblitzendes Schwert weihte. Die Liebhabertheater – und ihre Zahl ist Legion – sind unbewußt aus diesem Verständniß hervorgegangen.

Während meines Aufenthaltes in der Union waren sie für mich eine hochinteressante Erscheinung, diese deutschen Liebhabertheater. Vor ein, zwei Decennien waren die „legitimen“ deutschen Theaterverhältnisse in den Vereinigten Staaten von der traurigsten Art. Selbst New-York vermochte kaum ein einigermaßen genießbares deutsches „Stadttheater“ zu unterhalten. Brauchbare Kräfte von Beruf waren nur äußerst wenige vorhanden und die deutsche dramatische Kunst vermochte darum nur schwer sich etwas in Achtung zu bringen. Der reiche Deutsche wie der reiche Yankee konnten nur durch die magnetische Anziehungskraft einer Maretzek’schen italienischen Oper dem Theater zugänglich gemacht werden. Die Matadore der fünften Avenue schworen bei Edwin Booth, dem einzigen amerikanischen Schauspieler von kosmopolitischer Bedeutung. Dazu hatten sie auch volles Recht. Edwin Booth – der Bruder von Wilkes Booth, dem Mörder Lincoln’s – ist ein großer Künstler und verdient einen Ehrenplatz neben Garrick, Kemble, Kean und Ludwig Devrient. Wie bitter hat es Dawison bereut, neben ihm als Jago den Othello gespielt zu haben! Dawison soll geistig ungemein durch die Niederlage gelitten haben, welche ihm Booth beibrachte.

Die legitime, deutsche dramatische Kunst, d. h. die von Künstlern von Beruf ausgeübte, war also vor einigen Decennien

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_260.JPG&oldid=- (Version vom 25.6.2018)