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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


No. 51.   1873.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Der König auf Besuch.
Historische Novelette.
(Fortsetzung.)

Ein ganz eigenthümlicher Reiz liegt in der Waldruhe. Geist und Sinn fühlen sich durch sie angesprochen. Die tiefe Stille, der Friede drängt zur Rührung; die Empfindungen läutern sich, und das Phlegma sinkt zu Boden; Herz und Gemüth werden gleich frischen Quellen von allem Zusatze entbunden, und für den Geist dient das feierliche Schweigen zur Erhebung; ein heiligender Anhauch bricht die Fessel der ihn für gewöhnlich niederziehenden Außendinge … ein entfesselter, freier Geist hat viel Aehnliches mit einem von der Bogensehne geschnellten Pfeile; er fliegt unaufhaltsam in die Weite.

Das war auch der Fall mit dem Berliner Flautisten. Er dachte, langsam fortschreitend und zuweilen stehen bleibend. Dann und wann zog er ein Buch aus der Tasche und las eine oder die andere Stelle nach, die er durch ein eingelegtes buntes Buchzeichen im Voraus findbar gemacht hatte. Auf dem Einbande trug das Buch den Titel: „Mahomet“. Der Inhalt desselben vereinte ihn mit dem bewundertsten Geiste seiner Zeit, mit Voltaire. Er liebte ihn, und daher beschäftigte er sich vorzugsweise mit den reichen Früchten von dessen Geiste.

Die Luft war so mild und dabei so ruhig, daß von dem in den Septembertagen beginnenden Blätterfalle kaum ein Zeichen auf den Wegen, am Fuße der hohen Stämme zu bemerken war. Hier mußten die Töne der Flöte herrlich klingen. Der Spaziergänger schien Lust zu haben, seinem Instrumente auf dem Wege, den er langsam wandelte, Melodien zu entlocken; aber eine knorrige Kastanienwurzel, die den Pfad uneben machte, hätte ihn, der sie nicht bemerkte, beinahe zu Falle gebracht; darum gab er den Gedanken auf, gehend zu musiciren; es gab ja noch genug Stellen im Parke, wo er sein Vorhaben ausführen konnte. Die immer stärkere Hellung zwischen den hohen Bäumen vor sich machte ihn aufmerksam, daß er dem großen Durchbruche zwischen dem Palais und dem Hasensprunge nahe sei. Dort gab es kleine Partien Gebüsch mit Moosbänken; das wußte er von einem frühern Besuche des Parks her. Er wollte eine Moosbank aufsuchen, und der von ihm eingeschlagene Pfad führte ihn gerade auf eine solche zu; aber als er in deren Nähe war, blieb er überrascht stehen, denn er sah ein blaues Damenkleid von daher schimmern. Auf dem moosigen Boden zwischen den Baumstämmen blieb sein Schritt unhörbar, und als er sich geräuschlos so weit genähert hatte, daß er die daselbst Sitzende von der Seite sehen konnte, erblickte er ein in tiefes Sinnen verlorenes junges Mädchen. Wie ernst auch die Gedanken des Lauschenden für gewöhnlich sein mochten, so fühlte er sich jetzt doch nicht frei von Neugierde. Was konnte Das sein, was so schwer auf diesem jungen Frauenzimmer lastete, das seinem Aeußern nach alle Ursache hatte, frisch und fröhlich in das so sichtbar sich vor ihm erst erschließende Leben zu schauen?

Während sein Blick sich durch das hochaufgeschossene Strauchwerk, das ihn verbarg, auf die Sitzende richtete, welche die Hände nachlässig in den Schooß gelegt und das hübsche Gesicht auf den Busen niedergesenkt hatte, rollte langsam auf dem Wege außerhalb des Parks am Hasensprunge ein Bretterwagen vorbei; aber das durch ihn verursachte Geräusch hörte plötzlich auf, ein Zeichen, daß das Fuhrwerk anhielt.

Sowohl die junge Dame wie auch der hinterm Strauchwerk Lauschende wendeten die Augen dem Hasensprung zu, und was sie da sahen, war ganz geeignet, ihr Erstaunen zum höchsten Grade zu steigern. Zwei Männer zogen ein starkes, sehr langes Brett mit größter Eilfertigkeit hinten vom Wagen herab, dessen Gespann und Vordertheil nicht zu sehen waren, denn die Umgrenzungsmauer deckte sie. Nachdem es kaum heruntergezogen, schoben sie es mit außerordentlicher Schnelligkeit über die in der Breite mehrellige, tiefe Kluft des Hasensprunges, die sie dadurch vollkommen überbrückt haben würden, wenn das starke Eisengeländer des auf der Parkseite befindlichen Kluftmauerrandes das gestattet hätte; aber so konnte das Brett nur eine Auflage von wenigen Zollen gewinnen, und ganz deutlich hörten die voll Erstaunen Zusehenden einen der das Brett Regierenden sagen:

„’s faßt nicht Auflage genug … Was nun?“

„Haltet’s nur fest, Leute! nicht locker lassen … ich komme schon hinüber.“

Der das sprach, ein junger Mann in einem Leinenkittel, einen Dreispitz auf dem Kopfe, trat neben der Mauer hervor, die das Gespann und das Vordertheil des Wagens verdeckte, und schwang sich auf das Brett, das unter seiner Wucht von dem jenseitigen Mauerrande langsam abzurutschen begann.

„Ach Jesus!“ rief Einer der das Brett Haltenden … in diesem Moment wagte der diesen höchst unsichern Steg Passirende einen gewaltigen Sprung und ergriff glücklich mit beiden Händen das Geländer; zugleich aber polterte das Brett in die Tiefe hinunter. Die beiden Männer hatten es nicht von dem Sturze zurückhalten können; der Druck, den der Springende durch seine Körperwucht auf dasselbe bewirkt, war zu stark gewesen; sie mußten es loslassen, wenn sie nicht vom Uebergewicht mit hinabgerissen werden wollten.

„Fort! fort!“ rief der junge Mann, dessen Arme eine so

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_819.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)