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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Also die Knochen und Kleider bekannter Personen lagen und liegen noch zerstreut auf diesem angeblichen „Friedhofe“. Die weinende Wittwe sieht an den Kleidern ihres Gatten, daß seine Skelettheile es sind, mit denen muthwillige Knaben spielen. Der bekümmerte Vater erkennt an wohlerhaltenen Resten des Anzuges die von ihnen noch umhüllten Knochenreste seines verstorbenen Lieblings und muß sehen, wie Spaten und Fuß des Todtengräbers sie zertrümmern. Und diese herzlose Barbarei, diese kaum glaubliche Rohheit vollzieht sich inmitten einer paradiesischen Gegend, eines wunderbar schönen Stückleins Erde, vollzieht sich in einem kleinen Orte mit geringer Bevölkerung!

In Schuls sterben jährlich nur etwa zwanzig Personen. Da der Raum um die Kirche nur etwa dreihundertfünfzig Gräber gestattet, so wird in der kurzen Zeit von siebenzehn bis achtzehn Jahren jedes Grab wieder in Gebrauch genommen. Auch diese kurze Zeit hat im Anfange gewiß genügt, die daselbst begrabenen Leichen in „Verwesung“ überzuführen, denn der Begräbnißort ist der Sonne und dem Winde reichlich ausgesetzt, und so lange die Erde noch porös, das heißt für Luft durchgängig war, konnte zur Leiche genügende Menge Luft dringen, deren Sauerstoff sich mit dem Kohlenstoffe und Wasserstoffe der Körperbestandtheile verband, so daß neben Stickstoffgas nur Kohlensäure und Wasserdunst dem Grabe entströmten, und der Vorgang der Zersetzung keine schädlichen Dünste aushauchte. In allen neuen Kirchhöfen ist dies der Fall. Die Zersetzung geht schnell vor sich und hat die Form der „Verwesung“, das heißt einer langsamen Verbrennung unter der Erde.

Allein sobald mehr Leichen rasch hintereinander an derselben Stelle beerdigt werden, ändert sich das Verhältniß. Die Fäulnißstoffe verstopfen zum Theil die Poren der Erde; es kann weniger Sauerstoff eindringen. Ebenso, wie der gährende und theilweise faulende Schnupftabak schwarz wird und Humussäure enthält, so geht auch die Leiche nicht mehr in „Verwesung“, sondern in „Fäulniß“ (das heißt Zersetzung bei wenig Wärme und Sauerstoff, aber genügendem Wasser, oder Zersetzung im Wege der Verjauchung) über und bildet zum Theil aus ihren faulenden Stoffen schwarze Humuserde. Diese letztere nun zersetzt sich weiter und nimmt von dem eindringenden Sauerstoff einen Theil an sich, entzieht ihn also der in diese Humuserde begrabenen Leiche. Schließlich wird die Erde durch faulende Leichenbestandtheile „gesättigt“ und vermag nur noch wenig aufzunehmen. Die frühere poröse, lockere, helle Sanderde ist dann in eine fette, knetbare, dunkle, lehmartige Erdmasse umgewandelt, welche der Luft keinen Zutritt in das Innere gestattet. Deshalb umschließt sie zuletzt die Leichen und läßt sie in eine Art Käse (das sogenannte Leichenfett, Leichenwachs, Adipocire) sich umwandeln, erhält aber die Gestalt derselben und die Theile ihrer Bekleidung, wie man dies in gleicher Weise und aus dem gleichen Grunde in den humushaltigen fetten Torfmooren des hohen Nordens beobachtet hat, welche den Riesenhirsch und seine Jäger seit Jahrtausenden in ihrer Hülle aufbewahrt gehalten haben. Im kleinen Schuls konnte die Sättigung der Erde auf dem Friedhofe trotz günstigster Umgebungen verhältnißmäßig schnell erfolgen, weil die Schicht der Erde nur dünn ist und unter ihr das feste Gestein der Felsen sich breitet. In großen Städten erfolgt sie durch die Masse der Begrabenen unfehlbar; mögen die Bedingungen im Uebrigen so günstige sein, wie sie wollen, schließlich ist die Erde des Kirchhofes „gesättigt“.

Dann verläßt man wohl den Ort und sucht zum Begräbniß einen neuen aus. Aber bleiben deshalb die eklen Dünste für die Nachbarschaft aus, welche die mit Fäulnißstoffen durchsetzte Erde in die Luft haucht und dadurch den Genuß der Luft widerlich und gesundheitswidrig macht? Bleiben die Beimischungen der Fäulnißstoffe, Fäulnißproducte und Fäulnißerreger an das Brunnenwasser aus? Wir haben keine Wahl für Luft und Wasser, sondern wir sind gezwungen, diejenige Luft einzuathmen, welche gerade unseren Athmungsorganen zunächst ist; wir sind gezwungen, dasjenige unterhalb der Erdbodenfläche fließende Wasser (Grundwasser oder Unterwasser genannt) zu trinken, welches gerade dem saugenden Rohre unseres Brunnens oder unserer Wasserleitung zunächst war. Deshalb haben wir alle Mittel anzuwenden, um Luft und Wasser uns „rein“ zu erhalten.

Wenn wir aber faulende Leichen ihre Dünste in die Luft und ihre lösbaren oder abspülbaren Stoffe in das vorbeifließende Wasser abgeben lassen, so verpesten wir uns Luft und Wasser – und zwar verpesten wir uns dieselben durch Fäulnißerreger, welche zugleich für den lebenden Organismus Krankheitserreger sind.

Noch im Jahre 1840 konnte der geistvolle Arzt Professor Henle in Göttingen diese Krankheitserreger nicht direct nachweisen. Heute vermögen wir dies, und zahlreiche tüchtige Beobachter haben das Leben und Treiben dieser winzigen Unholde, sowie ihre Einwirkung auf den gesunden und kranken Menschen erforscht. Es besteht für Denjenigen, welcher diese Einzelheiten kennt, kein Zweifel über Macht und Einfluß dieser uns feindlichen kleinsten Organismen, über welche ich vielleicht später Mittheilungen bringe. Wenn trotz der feststehenden Thatsachen gelegentlich noch Zweifel laut werden, so liegt dies daran, daß die bisherige Schulbildung auf classisch-philosophischer Grundlage sich nicht günstig erweist für das naturwissenschaftlich geschulte Denken. „Thatsachen“, welche nicht in die gewohnten Vorstellungen sich ohne Weiteres einfügen lassen, werden von Manchem wie eine willkürliche „Annahme“ betrachtet und – zurückgewiesen. Aber nicht durch Folgerungen und Speculationen können Beobachtung und Thatsache widerlegt werden, sondern nur durch den Nachweis von Beobachtungsfehlern und von factischen Irrthümern. Dieser Nachweis kann eben nur durch neue Beobachtungen und Thatsachen geführt werden. Sind diese Unterlagen des neuen Beweises nicht vorhanden, so ist der hochmüthige Zweifel nur ein Denkfehler, oder ist, historisch betrachtet, ein ohnmächtiges Ankämpfen der alten lateinischen Mönchsschule, aus welcher unser classisch-philosophisches Gymnasium hervorging, gegen den frischen und vorurtheilslosen Geist der beobachtenden und experimentirenden Naturforschung.

Wer aber nicht gewaltsam Auge und Ohr verschließt, der erkennt die gewaltige Macht der Fäulnißerreger ebenso in den Typhusepidemien zu Islington (im Jahre 1870) und zu Armley (1872), wie in der Uebertragung des Milzbrandblutes und des Leichengiftes – der weiß, daß schon viele Epidemien, viele Tausende von Erkrankungen und Sterbefällen und unsagbares Elend, unsagbare Noth hervorgerufen wurden durch die Fäulnißerreger, vor denen eben der Einzelne sich nicht zu schützen vermag, weil er nicht freie Wahl hat in Bezug auf Wasser und Luft. Deshalb verlangt die öffentliche Gesundheitspflege, daß Wasser und Luft rein erhalten werden. Eines der hierzu anzuwendenden Mittel ist: die Leichen nicht langsam in der Erde faulen und Gift entwickeln zu lassen, sondern sie schnell durch Verbrennung zu zersetzen und unschädlich zu machen.

Die Leichenverbrennung ist kein neuer Gedanke. Bis zu den ältesten Tagen der Geschichte und bis zur vorhistorischen Zeit reicht die Sitte, die Körper der Geschiedenen dem Feuer zu überantworten. Eine der ältesten Nachrichten einer Leichenverbrennung liefert uns zugleich ein Beispiel treuester Gattenliebe. Artemisia, Gemahlin des Königs Mausolus von Carien, suchte ihren Schmerz über den Verlust des geliebten Lebensgefährten dadurch zu sänftigen, daß sie von seiner in Wein gestreuten Asche genoß, und daß sie für die Aschenurne eine prächtige Tempelhalle bauen ließ; letztere bekam nach dem Namen des Königs die Benennung „Mausoleum“ (das heißt: dem Mausolus zugehörig) und hält durch diese jetzt allgemein gewordene Bezeichnung für ein schönes Grabgewölbe die Erinnerung an jene Liebesthat fest bis auf unsere Tage. Während bei den Juden die Verbrennung der Leiche nur für Könige als besondere Ehrenbezeigung üblich war (1. Buch Samuel 31, V. 12, Jeremias 34, V. 5, und 2. Buch der Chron. 21, V. 19), war in Italien schon früh diese königliche Ehre Gemeingut aller Bürger geworden. Im alten Latium fand man unter der Lava eines vorhistorischen Ausbruchs des Berges Albanus noch in der Tiefe rohe Aschenurnen. Wie allgemein verbreitet die Verbrennung bei den Griechen war, erkennt man nicht nur aus den Schilderungen der Ilias über die Feuerbestattung des Patroklus und des Hektor, sondern mehr noch aus der Waffenruhe, welche Agamemnon und Priamus sich gegenseitig nach der Schlacht zum Verbrennen der Gefallenen zugestanden, wie dies in den heutigen Kriegen zum Zwecke der Beerdigung geschieht, und besonders aus den Worten des Nestor, der zur Verbrennung der Todten mahnt, um den Kindern die Asche heimzubringen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_309.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)