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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Holz, Maurer und Zimmerleute. Verdammen Sie ihn, immer nur zeichnen und seine Risse höchstens etwa lithographiren, aber sie niemals ausführen zu dürfen. Enthoben der Rücksicht auf Raum und Stoff, auf das Gesetz der Schwere und die Bedürfnisse des Lebens, müßte er sich verirren in theoretische Spielereien und zuletzt den Sinn verlieren für das Natürliche und Schöne. Oder verweigern Sie einem Componisten Orchester und Sänger und gestatten ihm einzig den Druck seiner Partituren. In der dauernden Unmöglichkeit, seine Tonschöpfungen verwirklicht zu hören, müßte er auch bei hoher Begabung mindestens starke Einbuße leiden an maßvoller Klarheit – wovon ja selbst das Riesengenie eines Beethoven nicht ganz verschont blieb, als ihm Taubheit die Selbstkritik der ausgeführten Composition versagt hatte.

In solcher widernatürlichen Lage hat sich die deutsche Poesie geraume Zeit wirklich befunden. Denn abgesehen von gesungenen Liedern, deren denn auch ein schöner Blüthenflor gediehen ist, und von etwa anderthalb oder zwei Dutzend solcher Dramen, die noch zur Poesie gerechnet werden dürfen, wurden ihre Schöpfungen fast niemals ausgeführt. Was konnte sie, dennoch unermüdlich weiterschaffend in dieser Absperrung von den Bedingungen ihres Lebens, anderes erzeugen, als blasse Studirstubengedichte, denen die Ausführbarkeit fehlt, die sich, so wie sie sind, mit äußerst seltenen Ausnahmen durchaus nicht eignen, mit Wohlklang vorgetragen zu werden und dabei zu spannen, zu unterhalten und zu erbauen; Gebilde, vergleichbar jenen Kellerpflanzen, die sich in langen Fäden nach dem Dämmerschein am Fenster hinrecken, den eingeborenen Maßen und Formen entgeilen, statt der Blätter nur Stummel treiben und schließlich auch im besten Boden rettungslos verwelken, wenn der erschöpfte Wurzelknollen mit dem gelben Gefilz endlich an Luft und Sonne gebracht wird.

Was für den Baumeister Stein und Holz, für den Bildhauer Erz und Marmor, für den Maler Leinwand und Farbe, für den Componisten Stimmen und Instrumentalton, das ist für den Poeten, den Künstler in darstellender Sprachmusik, nicht etwa Papier und Druckerschwärze, sondern das gehörte Wort. Nur durch lauten Vortrag kommt sein Werk zur vollen Existenz; ohne ihn verzichtet es auf das wesentliche Merkmal jedes Kunstwerkes, Verwirklichung für die Sinne. Gedichte zu machen blos um sie drucken zu lassen, ist bestenfalls eine Spielerei mit Kunstformen, keine Ausübung wahrer Kunst. Augenpoesie zum Gesehenwerden ist ein ähnlicher Widersinn wie ein Mittagessen, das bestimmt wäre nicht zum Gegessenwerden mit dem Munde, sondern lediglich zum Gerochenwerden mit der Nase.

Also gesetzt auch, ich meinte mit jener Werkstatt des Epos nur etwa, beispielsweise, meine Arbeitsstätte: auch dann würde ich nicht mein Studirzimmer mit seiner Bibliothek bezeichnen dürfen als den Ort, an welchem die für das Epos charakteristische Hauptarbeit gethan werde. Denn das zu werden, was sie geworden ist, hat meine Dichtung erst in mehreren Hundert über die Hälfte des Erdumfangs vertheilten Sälen und unter Beobachtung ihrer Wirkung auf Hunderttausende von Zuhörern gelernt.

An einem andern Orte habe ich angedeutet, wie ich das dunkel und unvollkommen geahnte Gesetz des Stiles und Baues des Epos erst allmählich wieder entdeckt habe in der Ausübung des Rhapsodenberufes.*[1] Von den ersten achtzehn Gesängen meiner Sigfridsage, mit denen ich meine Reisevorträge begann, ließen die Erfahrungen eines Lustrums keine Zeile unverwandelt, und weniger noch, als vom ersten Text, ist von seiner ersten Anordnung übrig geblieben. Nur durch die lebendige Wechselwirkung zwischen dem vortragenden Poeten und seinen Hörern kann das Epos seine richtige Gestalt gewinnen. Die Eigenschaften zur rechten Wirkung auf die Nation vermag es nur zu schöpfen aus ihrer Mitarbeit.

Wie die Erfüllung der Gesetze der Form nur von dieser Mitarbeit, so kann der Dichter des Epos dessen Stoff einzig und allein empfangen von der Vorarbeit längst vergangener Geschlechter seiner Nation und ihrer Ahnenvölker.

Weit weniger als ein anderer Dichter ist der des Epos ein schaffendes Einzelwesen.

Zwar überkommt auch der Dramatiker von seinen Vorgängern ein Kunstgesetz, von der zeitlichen Einrichtung der Bühne das Maß, die Anordnung und Vorführungsweise seiner Gebilde, von der Sitte und herrschenden Empfindung seiner Epoche die Farbe der Leidenschaften, die Natur der Kämpfe, mit deren Darstellung er hoffen darf, die Gemüther zu ergreifen. Im Uebrigen aber genießt er große Freiheit in der Wahl seiner Stoffe; ja, er darf dieselben unter Umständen sogar frei erfinden. Eine überlieferte, erlebte oder ersonnene Handlung senkt er als wohlgewähltes Samenkorn in das fruchtbare Beet seines Talentes und erzieht daraus eine selbstständige Blüthenpflanze.

Der Dichter des Epos kann nur selbst ein Knospenauge sein an dem Blüthenschafte, den der Baum seines Volkes, vergleichbar jener gefabelten hundertjährigen Aloë, nach langen Epochen treibt, wenn das Weltenjahr dieses Volkes wieder einmal in seinen Frühling eintritt. Auf diesem Schafte entfaltet sich zu Blüthen nichts Anderes, als der Saft und Stoff, den die uralten Wurzeln seit Jahrtausenden emporsaugen. Auch sind es nothwendig Blüthen von gleicher Form und Färbung, wie sie nach dem eingeborenen Gesetze des Baumes schon einmal geprangt haben in einem längst vergangenen Frühlinge.

Jenes Beet des Dramatikers kann eine Menge verschiedener Blumen, dieser Baum des Epos nur eine Blüthendolde tragen. Geeignet für das Drama sind unzählige Stoffe; für das Epos durchaus nur ein einziger. Dramatische Dichter können sich, wie die Geschichte der Poesie beweist, in jeder Culturnation zu hoher Leistungsfähigkeit entfalten. Zum Dichter des Epos hingegen kann sich auch der höchstbegabte Poet niemals ausbilden, wenn sein Volk nicht eines der wenigen epischen Völker ist. Italienern, Spaniern, Franzosen z. B. wird, wie bisher, das wahre Epos immerdar versagt bleiben.

Aber selbst innerhalb eines epischen Volkes kann das Epos nur zu Stande kommen unter überaus seltener Schicksalsgunst, deren Herbeiführung auch der gewaltigsten Einzelkraft gerade so unmöglich ist, wie etwa dem Menschengeschlechte überhaupt eine Aenderung in den Bewegungen des Sonnensystems. Es gehört dazu die in einem Lebensalter zusammentreffende Erfüllung einer ganzen Reihe von Vorbedingungen, wie sie bisher kaum je einmal im Laufe eines Jahrtausends eingetreten ist.

Und welches sind die Bedingungen des Aufblühens dieser Tausendjahrblume?

Erstlich, wie gesagt, muß das Volk ein episches Volk sein; das heißt, es muß sich befinden im erblichen Besitze uralter Sagen. Dieser Besitz darf nicht aufgehört haben, ein lebendiger zu sein. Es genügt nicht, daß solche Sage in Schriften und Büchern vorhanden geblieben. Sie muß sich auch von Geschlecht zu Geschlecht in mündlicher Ueberlieferung und Fortbildung erhalten haben. Das Volk muß beständig auch die Haupterlebnisse seiner weiteren Geschichte verschmolzen haben mit den Gestalten, Bildern und Mären seines alten Sagenschatzes. Endlich muß unter diesen Sagen eine seit Urzeiten allbeherrschend in der Mitte stehen und, wenn auch nicht gerade im klaren Bewußtsein, so doch im Herzen des Volkes den verborgenen Einheits- und Ausstrahlungspunkt aller anderen bilden, indem sie, als die reichste und beliebteste, vor Allen dazu gedient hat, ihren Gestalten, als heiligen Erbgefäßen der Poesie, alle höchsten und tiefsten Vorstellungen der Nation von Mannesherrlichkeit und Niedertracht, von Frauentugend und Frauenfrevel einzuverleiben und in ihren Begebenheiten das Walten einer göttlichen Ordnung erscheinen zu lassen.

Nur in solchem Volke und nur aus einer solchen Sage kann ein Epos werden. Ja, ich denke so groß von der zeugenden Kraft eines solchen Volkes und so klein vom individuellen Talente und seiner Unentbehrlichkeit, daß ich sage: in solchem Volke muß aus einer solchen Sage unfehlbar ein Epos werden, sobald die Epoche noch zwei andere Bedingungen erfüllt. Denn dann ist allemal auch die Fülle der Talente so groß, daß eines derselben unausbleiblich auf den rechten Weg gedrängt wird, auf dem es leisten lernt, was eintrittsreif geworden ist. Ich meine, beispielsweise, daß die Nibelungensage auch ohne mich kein Jahrzehnt mehr als jetzt gebraucht haben würde, einen Poeten in die Rhapsodenlaufbahn zu drängen, um durch ihn auf diesem einzig möglichen Wege zum Epos zu werden. Denn jene beiden anderen Bedingungen waren eben im Begriffe, sich zu erfüllen.

Zweitens nämlich kann das Epos nur erblühen, wenn die Nation sich befindet in einem Hauptknotenpunkte ihrer Entfaltung

  1. * Siehe meine Schrift über „das Kunstgesetz Homer’s und die Rhapsodik.“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 565. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_565.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)