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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Schiller’s letztes Kind.


Es muß etwas Erhebendes sein um das Bewußtsein: ich bin Blut vom Blute, Geist vom Geiste eines großen Mannes. Anders und in einem höheren Lichte als dem niedrig Geborenen erscheint dem so Geweiheten die Achtung vor seinem eigenen Selbst; anders und mit gesteigerten Forderungen tritt an ihn die Welt heran. Dies hat, wenn irgend Jemand, die jüngste Tochter Schiller’s, die am 25. November 1874 verstorbene Emilie Freifrau von Gleichen-Rußwurm, ein langes Leben hindurch in

Emilie Freifrau von Gleichen-Rußwurm.
Im Juni 1872 nach dem Leben gemalt von F. Wolf in Frankfurt a. M.

vollem Umfange empfunden; führte dieses lange Leben sie doch immer und immer wieder auf den Gedanken ihrer erhabenen Abkunft hin, denn unter den Kindern unseres großen Dichters wurde wohl keines so oft genannt und so hoch gefeiert, wie sie, eine Auszeichnung vor ihren übrigen Geschwistern, welche sie nicht sowohl dem Umstande verdankt, daß sie das den Vater am längsten überlebende Kind war, wie vielmehr dem freundlich waltenden Geschicke, welches, wie man allgemein und wohl mit Recht annimmt, ihr aus der geistigen Erbschaft des Vaters einen reicheren und schöneren Antheil gewährte, als den übrigen Kindern Schiller’s.

Emilie lebte nur in ihrem Vater; denn der Gedanke der Propaganda für die geistige Saat, die er ausgestreut, war der Gedanke ihres Lebens. All die wechselnden Schicksale, welche der Schiller’sche Genius in der Würdigung durch die deutsche Nation erfuhr, die mannigfachen Schwankungen, welche seine Werke auf der steigenden und fallenden Woge der Beurtheilung des Jahrhunderts erlebten, zuerst die aus Mißgunst geborenen Angriffe einer lorbeerzerpflückenden Kritik, dann die aus ehernen Denkmalen redende Begeisterung des gesammten deutschen Volkes – alles Das hat Emilie miterlebt und mitempfunden. Und wenn ihr Leben ganz dem Gedächtnisse ihres großen Vaters geweiht war, wenn Ehrfurcht vor seiner erhabenen Mission der Mittelpunkt all ihres Fühlens und Denkens war – und so war es in der That – welch’ eine Genugthuung muß sie empfunden haben, als jener unvergeßliche November des Jahres 1859 die Fahnen entfaltete und eine Fülle von Festen und Ehren, ein Meer von Blumen und Kränzen ausgoß, um die Jahrhundertfeier von Schiller’s Geburt zu begehen!

Einmüthig, in gehobener Festesstimmung, feierte das deutsche Volk jene großen Erinnerungstage, und von dem Herzen Deutschlands, dem freundlichen, poesieumhauchten Schwaben, aus zog sich überallhin, wo die deutsche Sprache klingt, eine Kette begeisterter Kundgebungen zu Ehren unsers geliebtesten Dichtergenius; das deutsche Mutterland einte mit den Schwesterstämmen in Amerika und Australien seine Jubelrufe, und das geistigste Fest, das wir je gefeiert, es war zugleich der höchste und schönste Ausdruck des wiedererwachenden Nationalbewußtseins. Der Mittelpunkt aber all dieser festlichen Kundgebungen, gewissermaßen der Altar, an dem ein ganzes Volk seinem größten Todten huldigte, es waren die Hände seiner noch im Leben wandelnden Tochter; denn in diese Hände legten wir die schönsten Festesgaben nieder. Die in jenen Tagen Emilie v. Gleichen-Rußwurm in der blumengeschmückten Neckarstadt Stuttgart gesehen, sie wollen in ihren freudedurchleuchteten Zügen, in denen schon Schiller sein Abbild zu erkennen glaubte, einen Hauch vom Geiste ihres Vaters begrüßt haben.

In der That soll Emilie auch bezüglich ihrer äußeren Erscheinung unter den Schiller-Kindern dasjenige gewesen sein, welches dem großen Vater am meisten glich. Das diesen Zeilen beigegebene vortreffliche Portrait der edlen Frau, welches im Juni 1872, also wenige Monate vor ihrem Tode von dem kunstgewandten Maler F. Wolf in Frankfurt aufgenommen wurde und für das ähnlichste Bildniß derselben gilt, bestätigt diese allgemein angenommene Ansicht vollkommen. In diesem ruhig und tief blickenden Auge lebt etwas vom milden Ernste Schiller’s, während der gekniffene Mund und das markirte Kinn Zeugniß dafür ablegen, daß die ausharrende Energie des Vaters nicht zu den geringsten Vermächtnissen gehörte, welche er der Tochter hinterließ. Bei dem wieder herannahenden Geburtstage Schiller’s dürfte der gegenwärtige Zeitpunkt zur Veröffentlichung des Portraits seiner Tochter sowie einiger Worte über ihr Leben und Wirken besonders geeignet erscheinen.

Als Emilie in’s Leben trat – es war am 25. Juli 1804 in Jena – waren die Tage Schiller’s bereits gezählt, und als er für immer die Augen schloß, hatte sie den zehnten Monat noch nicht zurückgelegt. So konnte das Bild des verewigten Vaters kraft eigener Anschauung nicht in ihr leben, aber mit hingebender Pietät pflegte die zartsinnige Mutter, Charlotte von Schiller, in dem Kinde das Andenken Schiller’s. Sie, die in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_691.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)