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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

den Privatunterricht eines geistvollen und gelehrten Juden. Dann folgte als Vorbereitung zur Confirmation der protestantische Religionsunterricht. War es nicht, als habe das Schicksal sie durch diese confessionslose Vorschule für den Mann heranbilden wollen, der später ihr Gatte werden sollte, für den Mann, der auf allen Gebieten seines Wirkens, auch auf dem religiösen, für das Recht der Freiheit und Humanität eintrat? Nachdem die Schulzeit Eugeniens mit der Confirmation abgeschlossen, fuhr sie noch eifrig fort, die Lücken ihres Wissens auszufüllen, und namentlich war es die Ferienzeit des Bruders, welche ihr eine Zeit des Lernens und Studirens wurde. Mit ihm, der solche freie Wochen im Elternhause zu verleben pflegte, wußte sie in den ihr sonst fremden wissenschaftlichen Werken manches Goldkorn der Bildung aufzuspüren, das ihr im späteren Leben oft reiche Früchte getragen hat.

Nachdem sich nunmehr die Lage der Familie schnell gebessert, übernahm der Vater wieder ein selbstständiges Geschäft. Seine Fabrik blühte rasch auf. Da er in seiner Tochter Eugenie einen klaren, schnell arbeitenden Geist wußte, so nahm er sie in sein Comptoir auf. Sie trat mit großem Eifer in diesen neuen Wirkungskreis und fand sich schnell zurecht in einfacher und doppelter Buchführung. Bald vereinigten sich in ihren Büchern, in ihrem Kopfe alle Zahlenverhältnisse des immer schöner sich entfaltenden Geschäftes. Der ganze Bekanntenkreis staunte. Sie hatten zwar immer „Günther’s Jenny“ für eine halbe Gelehrte gehalten, obgleich man wußte, daß sie bisher regelmäßig ihre „Kochwoche“ gehabt, wie die andern Schwestern, und daß es zu Mittag niemals besser schmeckte, als wenn sie Küchenregentin war, aber daß ein Mädchen auch Buchhalter werden und seine Stellung ausfüllen könnte, trotz einem Mann, das war damals noch unerhört und gab Anlaß zu großer Verwunderung.

Aber in ihre fröhliche Arbeit sollte sich bald schwere Sorge mischen. Der Vater begann zu kränkeln und sichtbar schwächer und hinfälliger zu werden – am 21. October 1834 weinten Mutter und Kinder an seinem Sarge. Eugenie war damals vierundzwanzig Jahre alt; es war ihr erster Schmerz und sie meinte, die ganze Welt sei ihr genommen mit dem Vater. Die letzten Jahre gemeinsamer Arbeit hatten sie noch inniger zusammengeführt, und jetzt empfand sie die Verwaisung doppelt bitter. Neue Sorgen von außen zwangen sie bald, sich aus dem dumpfen Schmerz aufzuraffen. Das junge Geschäft war erfreulich vorwärts gegangen, aber sein ganzes Gedeihen hatte in der Hand gelegen, die es geleitet.

Jetzt fehlte diese Hand, und dem Bruder, den das Familienunglück von Leipzig weggerufen, wo er sich auf eine Professur der Geschichte vorbereitete, dem Gelehrten, der elf Sprachen kannte, der sich in die Geschichte aller Völker versenkt hatte, mußte nothwendig der rein praktische und technische Geschäftsgang fremd sein. Die Familie sah sich bald genöthigt, einen Vergleich mit den Gläubigern zu suchen, und hier war es, wo Eugenie mit so klarem Ueberblicke, mit so muthiger Ausdauer die Unterhandlungen leitete, daß die Fabrik zwar geschlossen werden mußte – aber sie konnte ehrenvoll geschlossen werden.

Jetzt suchte Jenny eine Stellung als Erzieherin und fand sie sofort in einem Kaufmannshause, das früher mit ihrem Vater in Geschäftsverbindung gestanden hatte. „Nie vorher war ich so stolz gewesen,“ erzählte sie, „wie damals, als ich meiner Mutter die ersten selbstverdienten Gulden bringen konnte.“

Die Mutter überlebte den Fall ihres Hauses nicht lange. Als der Vater gestorben, hatte sie an seinem Sarge gesprochen: „In zwei Jahren folge ich Dir,“ und genau zwei Jahre und zwei Tage später, am 23. October 1836 starb sie, und die drei noch unverheiratheten Schwestern standen nun ganz allein.

Unterdessen hatte ihr Bruder Georg die Redaction der in Leipzig bei Brockhaus erscheinenden „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ übernommen. Er bot den Schwestern eine Heimath, und im November des Jahres 1837 kam Jenny mit einer ältern Schwester in Leipzig an.

Leipzig war damals, wie heute noch, der Sammelpunkt vieler geistig anregender Bestrebungen. Der Bruder konnte durch seine Stellung den Schwestern schnell einen Kreis eröffnen, in dem sie neben gemüthlicher Geselligkeit ein reges politisches und literarisches Leben fanden.

Eines Nachmittags erwachte Jenny aus einem kurzen Schlafe, den sie sich wegen heftiger Kopfschmerzen gegönnt hatte, und sah durch das Glasfenster der Thür, wie im Nebenzimmer Bruder und Schwester einen ihr fremden Herrn zur Ausgangsthür begleiteten. Der Fremde kehrte ihr den Rücken; sie sah nur eine kräftige untersetzte Gestalt und dunkelblondes gelocktes Haar. Alle Drei gingen auf den Fußspitzen, um die Leidende im Nebenzimmer nicht zu wecken. Als später die Schwester zu ihr hereintrat, erfuhr Jenny, daß der Besuchende Robert Blum gewesen, ein Freund, dessen der Bruder schon öfter erwähnt. Er war gekommen, um mit Freund Günther über den Empfang der erwarteten sieben Göttinger Professoren zu berathen. Robert Blum war damals Secretär am Stadttheater und mit der lieblichen, erst achtzehnjährigen Adelheid Mai verlobt. Er kam öfter und machte die beiden Schwestern seines Freundes mit seiner jungen Braut bekannt. Es entstand eine herzliche Freundschaft zwischen der ältern Eugenie, die das Schicksal schon durch eine so harte Schule geführt hatte, und der jungen anspruchslosen Adelheid, die im Elternhause noch das gehegte, gehütete Kind war, im Elternhause, das sie so bald schon verlassen sollte, um sich einen eigenen Herd zu gründen.

Und diese Freundschaft hatte Bestand. Die zweite Frau ehrte und pflegte das Andenken der ersten. Sie war es, die in den letzten Jahren ihrer Ehe den vielbeschäftigten und daher oft zerstreueten Gatten erinnerte, daß der Geburts- oder Todestag der Frühverstorbenen gekommen; sie war es, die dann für die Bekränzung des Grabes sorgte, ja, die alte, schon schwer leidende Frau ist noch am letzten Johannistage, den sie erlebte, hinaus auf den alten Friedhof gepilgert, den Hügel von Der zu schmücken, die der Gatte vor ihr geliebt.

Am 21. Mai 1838 wurde Robert Blum mit Adelheid Mai getraut; vier Monate später starb die junge Frau an den Folgen einer Erkältung, die sie sich auf einer Reise nach Berlin zugezogen.

Unterdessen hatte sich Eugenie Günther schnell und leicht in der neuen Heimath eingelebt. In des Bruders Hause sammelten sich geistig bedeutende Männer; politische Bestrebungen, literarische Unternehmungen wurden dort besprochen. Die Freiheitsbewegung, die in der 1848er Revolution gipfelte, regte sich damals schon und führte Alles, was nach Befreiung und Unabhängigkeit strebte, wie durch Nothwendigkeit zusammen. Dieses stille Gähren, dieses rastlose Vorwärtsstreben, das alle aufgeklärten Geister ergriff, war es, was Robert Blum dem tiefen Schmerze um die junge anmuthige Frau entriß. Er lebte wieder dem Freundeskreise und wurde ungesucht der Führer ihrer stillen Pläne.

In Eugenie fand er einen begeisterten Nachhall seiner Freiheitsideen. Sie aber trat jetzt zum ersten Male einem Manne näher, dessen starker willenskräftiger Geist den ihrigen noch beherrschte. War sie doch auch mit einem guten Theile Energie und Thatkraft bedacht, hatte sie doch diese ihr von der Natur verliehene Gabe durch sorgsames Arbeiten an sich selbst zu entwickeln gewußt, hatte sie sich doch in harter Zeit Gemüthsruhe und Geistesgegenwart bewahrt – aber hier war ein Charakter, der noch mächtiger seinen Willen geschult hatte, der aus Armuth und Unwissenheit sich emporgerungen zum Führer wissenschaftlich gebildeter Geister. Und dazu die Verwandtschaft ihrer Neigungen und Interessen! Eugenie fühlte immer mächtiger den neuen Einfluß, aber das geistig selbstständige Mädchen glaubte ihn abschütteln zu müssen um jeden Preis. Um für sich den Bann zu brechen, in dem sie sich befangen wähnte, beschwor sie unter Thränen den Bruder, sich von diesem Freunde loszusagen. Sie redete sich selber ein, er, der Freund, meine es nicht redlich, er biete nur allen Einfluß auf, um die Anderen für seine Plätte auszunützen. Es half nichts; der Bruder vertheidigte den Freund: sie solle doch nur in seine ehrlichen klaren Augen sehen. – Als ob sie das nicht schon längst gethan hätte!

Im Juni 1839 besuchte Jenny ihre in Kappel bei Chemnitz verheirathete jüngste Schwester; wenige Tage nach ihrer Ankunft hatte sie den Brief Robert Blum’s in Händen, in dem er sie bat, die Seine zu werden. Sie gab ihr schriftliches Ja; den Sonntag darauf kam er, sich auch das mündliche zu holen.

Das Brautpaar erstieg eine Höhe bei Chemnitz; sie sahen auf das grünende Land hinab, aber auch in Glück, Liebe und Sonnenschein sprach doch sein hoher Beruf zu dem Kämpfer für

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_727.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)