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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Eine Verkehrtheit ist es, dem Epos streng antiquarische Gewissenhaftigkeit in der Zeichnung der Waffen, Geräthe, Trachten und Lebensgewohnheiten eines bestimmten Zeitalters zuzumuthen. Was es erzählt, hat gar kein bestimmtes Zeitalter. Es kann auf die Frage, in welcher Zeit es spiele, nicht besser antworten als mit Hebbel: „In der poetischen.“ Wer es für Geschichte nimmt, der versteht nichts von seinem Wesen und seinem Zwecke. Es ist eine seiner wichtigsten Aufgaben, zeitlos zu sein. Mit der Geschichte unmittelbar hat es gar nichts zu thun. Von ihr kann es in den Bereich seiner Darstellung nur hineinziehen, was schon selbst wieder Sage geworden ist, und dann allemal unter äußerster Rücksichtslosigkeit gegen alle Chronologie; wie z. B. die deutsche Sage Attila und Theodorich als Etzel und Dietrich von Bern zu Zeitgenossen macht, obgleich der Erstere zwei Jahre vor der Geburt des Letzteren gestorben. Gleichwohl hat diese Forderung noch einige Berechtigung. Ob man sich schon der Armbrust oder nur des Bogens bedient zur Zeit eines Stücks Geschichte, das die Sage umverdaut hat, darum braucht sich der Epiker nicht zu kümmern. Allerdings aber wird er nicht, wie Shakespeare, die römischen Legionen gerade nach der Trommel marschiren oder gar die Nibelunge mit Flinten und Kanonen schießen lassen.

Immer aber bleibt es ein größerer Mißverstand, wenn man dem Epiker Vorwürfe macht wegen Erfüllung seiner obersten Pflicht: in seinem alten Stoffe neue Gedanken darzustellen. Der Dichter überhaupt vermag auf seine Zeitgenossen und ihre Nachkommen nur zu wirken als ein Sohn seiner Zeit, welcher dem Wissen und Glauben seiner Epoche treffenden Ausdruck zu geben weiß. Die besondere Aufgabe des Dichters des Epos ist es, diesen jüngsten Geistesinhalt seiner Nation während einer weltgeschichtlich großen Phase ihrer Entwickelung zu erkennen und aufzuzeigen als im Keime schon vorhanden in ihrem alten Glauben, ihren alten Sagen von Helden der Vorzeit. Er hat das echt Menschliche und daher Ewige dieses Neuen zur Darstellung zu bringen in der Vermählung mit dem echt Menschlichen und Ewigen im Glauben und in den Thaten der Vorfahren.




Ein Werk der Menschenliebe in Amerika.


Von Udo Brachvogel.


Der Amerikaner liebt es, „in Wohlthätigkeit zu machen“. Vielleicht ist er sogar wohlthätig. Ja, wenn man nur die Thatsachen sprechen läßt, ist er es gewiß. Diese Thatsachen in Gestalt nackter Zahlen und statistischer Daten sprechen Außerordentliches. Dabei braucht man noch nicht einmal an die Girard, Cooper, Peabody und Lick zu denken. Sie sind nur die Marschälle der amerikanischen „charity“. Im Großen und Ganzen ist sie Gemeingut einer wohlorganisirten riesigen Armee, aus der Jene nur durch besondere Heldenthaten hervorragen und die sich im Uebrigen fast aus dem gesammten besitzenden Angloamerikanerthum recrutirt. Daß dabei eine Masse von Pharisäerthum und rein weltlicher Eitelkeit mit unterläuft, daß Pietismus und jene Beschränktheit, welche die helfende That nicht um der helfenden That, sondern um ihrer erhofften Eintragung in eine höhere Buchhaltung willen thut, zur Triebfeder des Erbarmens werden, daß die kirchliche Gesellschaft oder, wenn man lieber will, die gesellschaftliche Kirchlichkeit, welche in den Vereinigten Staaten herrschermächtig ist, dabei eine Art Zwang übt – das Alles kann die praktischen Ergebnisse in unsern Augen nicht schädigen. Diese praktischen Ergebnisse aber – es wurde dies bereits gesagt – sind enorm. Es würde sich der Mühe lohnen, einmal auszurechnen, wie viel regierende europäische Familien man mit dem Eigenthume der öffentlichen Wohlthätigkeits-Anstalten Amerikas auskaufen, wie viele Civillisten man mit den von ihnen verausgabten Jahressummen decken könnte. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß bei der Probe noch ein Ueberschuß im Lande bleiben würde.

Der schönste Zug der amerikanischen „public charity“ ist ihre Vielseitigkeit. Sie ist wirklich bemüht, für Alle und Alles zu sorgen, was in die Classe der Mühseligen und Beladenen, der Hülfebedürftigen und Bedrängten gehört. Für jede Art von Noth, für jegliche Form der Verlassenheit hat sie helfende und rettende Anstalten. Mit dem ungeborenen Kinde beginnt sie und hört mit Werken der Pietät gegen die verwahrlosten Ruhestätten längst Geschiedener auf. Das verdiente Elend gehört ihr, wie das unverschuldete Unheil. Weder das Thier noch der Mörder sind von ihrer Sorge ausgeschlossen. Aber wie verschieden auch die Gegenstände sind, auf welche sie sich erstreckt, und wie mannigfaltig die Ziele, die sie verfolgt, überall fordert das System, nach dem sie verfährt, überall die Planmäßigkeit, welche ihre Arbeiten regelt, die gleiche Bewunderung heraus. Und läßt sich ein schöneres Bündniß denken, als das zwischen Mitleid und Besonnenheit? Kann es ein fruchtbringenderes Zusammenwirken geben, als dasjenige, zu dem sich reine Menschlichkeit und vorsichtige Weisheit – sei sie nun staatlicher oder gesellschaftlicher Natur – vereinigen? Welch ein Segen, wenn die beiden immer und überall Hand in Hand gingen! Und sie sollten es, sollten es wenigstens versuchen. Nie sollte die Letztere ihren Geboten Folge geben, ohne der milden Stimme der ersteren Gehör zu geben, nie jene einen ihrer großen auf das Allgemeine gehenden Pläne entwerfen, ohne den Anforderungen dieser Rechnung zu tragen. Nur wo sie gemeinsame Sache machen, entsteht wahrhaft Förderliches, über den Moment hinaus Wirkendes für Beide, werden Thaten im Dienste der echten Civilisation gethan.

Eine solche That im Dienste der echten Civilisation ist es, von der hier die Rede sein soll. Mit dem liebenswürdigsten Worte des Gründers der christlichen Cultur, jenem den Kindern geltenden „Lasset sie zu mir kommen!“ als Wahlspruch, trat sie in’s Leben. Mildthätigkeit und Menschlichkeit waren ihre Triebfeder; Förderung, Reinigung und Sicherstellung des öffentlichen Lebens war ihr Endzweck, ihr Schauplatz aber New-York und das Material, welches sie sich ersah, die Kinderwelt seiner Armen und Elenden, seiner gefährlichen und verkommenen Schichten, seiner Gesetzlosen und Ausgestoßenen – mit einem Worte die Jugend jenes Bodensatzes weltstädtischer Menschheit, der vor zwanzig Jahren zu einer Macht erwachsen war, welche der amerikanischen Metropole selbst vor ihren doppelt so großen Schwesterhauptstädten der alten Welt zu ebenso unbestrittener wie unheimlicher Berühmtheit verhalf.

In jene Blüthezeit des New-Yorker Verbrecherthums und der Armuth fällt die civilisatorische That, von der hier die Rede ist, in Gestalt der Gründung der „Children’s Aid Society of New-York“, der New-Yorker Hülfsgesellschaft für Kinder. Es war kaum mehr als ein Versuch zu nennen, zu dem sich in den letzten Tagen des Jahres 1852 eine Anzahl von Menschenfreunden verband, welche seit einigen Jahren das immer wüster und breiter in den Vordergrund sich drängende Unwesen und Treiben der gefährlicher Classen beobachtet hatte und, auf Gegenmittel gegen die drohende Sündfluth sinnend, eines derselben in der Gründung der genannten Gesellschaft gefunden zu haben glaubte. Ein Versuch! Aber was ist seitdem aus diesem Versuche geworden, dessen Grundgedanke „das Unheil bei der Wurzel zu fassen und der Verbrecherwelt ihren jugendlichen Zuwachs abzuschneiden“ nichts Anderes war, als die Uebertragung des großen Princips der Gesundheitslehre vom medicinischen auf das sociale Gebiet!

Mit ein paar hundert Thalern und einem oder zwei Dutzend zusammengefangener Straßenwildlinge begann das Werk, als dessen eigentliche Seele schon damals derselbe Mann zu betrachten war, der noch heute unter dem bescheidenen Titel eines Secretärs der Gesellschaft Kopf und Hand der zu so mächtigen Dimensionen erwachsenen Institution ist: Charles L. Brace von New-York. Er ist einer jener Typen, wie sie das öffentliche Leben in den Vereinigten Staaten vorwiegend vor dem anderer Länder, wenn nicht nahezu ausschließlich, hervorbringt, einer jener praktischen Schwärmer, deren Dasein in einer Idee, oder richtiger, in der Begeisterung für eine Idee und in den Bemühungen wurzelt, dieselbe in das Gebiet des Wirklichen zu übertragen. Ihre Einseitigkeit ist ihre Hauptstärke. Unempfindlich und abwehrend gegen alles Uebrige, sind sie in Dem, was ihr werkthätiges Dogma bildet, Riesen, Märtyrer und Heroen. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_742.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)