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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


bittersten Entbehrungen und Seelenleiden mit solcher Standhaftigkeit ertragen, er jedenfalls anders urtheilen würde. Uebrigens sagte er in seinem „Gutachten“ ausdrücklich: „Als eigentlich ‚wahnsinnig‘ ist Frau von Estorff hier in Werneck nie angesehen und behandelt worden.“ – Actenmäßig ist’s ferner, daß Herr von Estorff in die von den Aerzten angeordnete Entlassung seiner Gattin aus Werneck durchaus nicht einwilligen, sondern sie sofort in eine andere Anstalt bringen wollte, und daß nur das entschiedene Entgegentreten des Wernecker Anstaltsdirectors dies verhinderte.

Mögen diese Mittheilungen genügen, um für Mutter und Kind um die öffentliche Theilnahme zu werben und namentlich Frau von Estorff von den Verdächtigungen zu reinigen, welche sie zu moralischem Tode verurtheilen sollten. Die von einem harten Schicksale so lange verfolgte Frau bedarf des öffentlichen Vertrauens, damit die Bitten, die wir nun für sie – und das Kind aussprechen wollen, thatkräftige Berücksichtigung finden.

Da Frau von Estorff in Folge der österreichischen Gerichtsurtheilssprüche nicht nur ihr Kind, sondern auch das ihr von Herrn von Estorff entrissene und widerrechtlich vorenthaltene Vermögen verloren hat, so tritt nunmehr die Nothwendigkeit an sie heran, aus der Einsamkeit in die Gesellschaft zurückzukehren, um ihre Kenntnisse und Fertigkeiten für sich und die unsichere Zukunft ihres Kindes zu verwerthen. Die passendste Stellung würde für sie die einer Gesellschafterin sein, da sie in derselben durch ihre von Jugend auf in höheren Kreisen (auch am königlichen Hof in Stuttgart) gewonnenen Umgangsformen und ihre Gewandtheit in der französischen Sprache sich ohne Zweifel am nützlichsten machen würde. Die Redaction der „Gartenlaube“ vermittelt gern Anträge dieser Art an Freifrau von Estorff, falls man es nicht vorzieht, sich direct an dieselbe nach Mergentheim in Württemberg zu wenden.

Mit einer andern Bitte wenden wir uns für das Kind vorzugsweise an den deutschen Adel. – Wenn wir auch mit dem Herrn Geistlichen in Laibach glauben möchten, daß der jetzt alternde Herr von Estorff seiner heranwachsenden Tochter noch eine gute weitere Ausbildung geben lassen werde, so sagt uns doch der mitgetheilte Brief, wie schwer das arme Kind, trotz der Liebe zum Vater, die Trennung von der Mutter empfindet, wie das Unglück der Mutter ihm am Herzen nagt. Wie lange kann ein so zartes und schon so tieffühlendes Wesen eine solche Marter ertragen? – Und ist denn wirklich so schwer zu helfen? – Wahrlich nicht, wenn heute noch das Wort gilt: Noblesse oblige! – Im deutschen Adel findet sich gewiß eine Familie, welche dem Kinde eine Heimath bietet, und ein ritterlicher Mann, welcher persönlich die Verhandlungen mit den Eltern in die Hand nimmt. Eine Versöhnung der Eltern ist unmöglich; aber ebenso unmöglich ist die fernere Trennung des Kindes von einem der Eltern: es muß beiden jeden Augenblick zugänglich sein, wenn das Herz die Befriedigung des Wiedersehens verlangt.

Möchte diese Bitte für das Kind die rechten Herzen bald finden! Die Gefahr für dasselbe ist um so größer, als Herr von Estorff sich leicht wieder genöthigt sehen kann, unter fremdem Namen zu leben und dem Kinde jeden Verkehr mit der Mutter abzuschneiden. Schon seit dem letzten April ist Agnes nicht mehr bei dem Herrn Geistlichen in Laibach; ihr Vater nahm sie mit sich nach Oberitalien: Mutter und Kind sind getrennter, als je. Man lasse nicht erst Schmerz und Verzweiflung in dem nun genug gefolterten Herzen dieser Mutter so weit kommen, daß sie selbst das Bild ihres Schicksals, wie es bereits mit erschütternden und empörenden Zügen gezeichnet vorliegt, in die Welt schleudert. Es würde mehr als eine Familie darüber mehr als erröthen müssen und der ganze Stand unter den Schatten desselben fallen. Das muß vermieden werden – und wäre es nur um des Kindes willen, gewiß des unschuldigsten Opfers, das jemals die Schuld der Eltern zu büßen hatte.




Epische Briefe.
Von Wilhelm Jordan.
VIII. Epochen des germanischen Epos. Island und die Edda.

Die drei vorigen Briefe haben Ihnen die Geschichte des Epos bei unseren drei epischen Geschwistervölkern, den Indiern, Persern und Griechen, wie mit einfachen Holzschnittlinien zu zeichnen versucht.

Unser germanisches Epos werden wir eine Art von Dreieinigkeit dieser drei so verschiedenen Schicksale durchleiden und ersiegen sehen, wenn auch nicht in derselben Zeitfolge. Wenn es erlaubt ist, seine Epochen nach ihrer Aehnlichkeit kurzweg zu benennen, dürften wie ihm eine griechische, eine indische, eine persische und zu guterletzt eine gemischt persisch-griechische zuschreiben.

Vom Epos auf der Liederstufe werden wir die Reste bei den Germanen zahlreicher und unvermischter bewahrt finden, als bei jenen Geschwistervölkern. Denn von den Liedern, welche dem Kunstepos vorangegangen waren und ihm zur Grundlage gedient hatten, ist bei den Indiern in der umgefälschten Kunstgestalt für uns jede Spur verwischt. Bei den Griechen sind sie theils eben nur zu spüren als Vorlagen Homer’s, theils nur ihrem Titel und Hauptinhalte nach als einst vorhanden zu erkennen aus den Anführungen der Odyssee, theils allerdings mit ziemlicher Sicherheit, namentlich in der Ilias, zu unterscheiden als nachträglich wieder eingeschaltete ältere Stücke, welche der Dichter von seinem Kunstwerke aus guten Gründen ausgeschlossen hatte. Das persische Epos endlich ist zwar, wie wir gesehen haben, die gesammte Liederchronik selbst, von Firdusi zur Kunstgestalt erhoben, eben deswegen aber von ihm auch so gleichmäßig eingeschmolzen, daß wir von der Abgrenzung und ursprünglichen Form der Lieder keine Vorstellung mehr gewinnen können, obwohl wir überzeugt sein dürfen, in seinem Werke wenigstens den Sageninhalt auch jener Gesänge erhalten zu sehen, welche nach Xenophon’s Zeugniß einen Hauptgegenstand des Unterrichts der altpersischen Jugend bildeten.

In allen drei Fällen hat eben das Kunstepos die Lieder der Vorstufe aufgesogen. Die Ursache ihrer Erhaltung bei den Germanen, in nicht unbeträchtlicher Zahl, wenn auch in mehr oder minder fragmentarischer Gestalt, ist schon daraus ersichtlich. Sie sind bei uns nicht aufgesogen worden, weil unser Epos nicht das Glück hatte, wie das indische und griechische, die Stufe der Kunstgestalt schon zu ersteigen, während der unverminderten Fülle des Liederschatzes noch die lebendige Wechselwirkung zwischen vortragenden Sängern und lauschenden Hörern zu gute kam, weil wir mit dieser Leistung hinter den Indiern um achtundzwanzig, hinter den Griechen um sechsundzwanzig und hinter den Persern um neun Jahrhunderte zurückbleiben sollten. Wir verdanken also den kleinen Vortheil dieses Besitzes einer weit größeren Einbuße: dem Unglücke, daß das germanische Epos durch fremde Gewalt in seinen innersten Lebensnerven gelähmt und wieder zerrissen wurde, als es eben im Begriffe stand, zur Kunstgestalt zu erwachsen.

Daß es wirklich schon einer homerischen Blüthenzeit entgegenknospete, daß seine Lieder schon den Krystallisationskern zur künstlerischen Einheit in einer nationalen Hauptsage und der Gestalt ihres Haupthelden gewonnen hatten, ja, daß es sich bereits einen Poeten von vollendeter Sprachkunst und homerischem Genie erzogen hatte, und zwar einen deutschen: davon hoffe ich Sie überzeugen zu können. Dies ist die Epoche, welche ich als die griechische unseres Epos bezeichne.

Ihr folgt die indische. Denselben geistigen Giftmord, den die indische Priesterkaste mit ihrer lebensfeindlichen Bußeromantik am eigenen Volke wirklich vollbracht hatte; unternahm eine fremdländische Hierarchie auch an den Germanen zu verüben. Mit schlauer Berechnung, gewissenloser Verruchtheit in der Wahl ihrer Mittel, unermüdlicher Ausdauer und unbeirrter Consequenz, ist sie dem Siege wenigstens über den deutschen Stamm der Germanen und dieser Stamm dem nationalen Tode sehr nahe gekommen. Auch würde sie wahrscheinlich triumphirt haben, wenn ihr die ernstlich erstrebte Verdrängung auch unserer Sprache durch ein lateinisches Idiom gelungen wäre. Aber an der unverwüstlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_474.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)