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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


hingegeben hatte. Er verfolgte die juristische Beamtencarrière, wie Immermann und Uechtritz, uneingedenk des Platen’schen Ausspruchs:

Niemand gehe, wenn er einen Lorbeer tragen will, davon,
Morgens auf’s Gericht mit Acten, Abends auf den Helikon.

Doch da die Spaziergänge auf den Helikon, wenn sie den ganzen Tag über fortgesetzt werden, zu wenig einträglich sind, so gehört der „Pegasus im Joche“ nach wie vor als Vignette in die deutsche Literaturgeschichte. Hat doch unser großer Dichter Schiller lange Jahre seines Lebens auf dem Katheder und als Redacteur von Zeitschriften verbracht, und war seinem wahrhaften Berufe, für die deutsche Bühne zu schaffen, ungetreu geworden, nur um sich eine noch dazu klägliche bürgerliche Existenz zu gründen. Wichert wurde, nach kurzer Beschäftigung bei dem Kreisgerichte zu Memel, im Jahre 1860 als Kreisrichter nach Prokuls, einem lithauischen Marktflecken, versetzt. Wie es Pastorenidyllen giebt, so giebt es auch Kreisrichteridyllen, die bisher noch nicht in geflügelten Hexametern geschildert worden sind. Ein Kreisrichter in einem entlegenen Städtchen hat aber das gleiche Recht, von der idyllischen Muse verherrlicht zu werden, wie irgend einer jener ehrwürdigen Hirten auf der Insel Ithaka. Wichert hatte sich seine Idylle noch dazu sehr poetisch ausgeschmückt; schon früher verlobt, heirathete er gleich nach seiner festen Anstellung und verlebte nach seinem eigenen Bekenntniß in dem weltverlassenen Prokuls eine sehr glückliche Zeit. Im Herbste 1863 wurde er an das Königsberger Stadtgericht versetzt, wo er noch jetzt als Rath amtirt.

Sie sehen, verehrte Freundin, das ist ein einfacher Lebenslauf ohne alle abenteuerliche Romantik, bürgerlich schlicht – und dies ist auch der Grundzug der Wichert’schen Lustspiele und Romane. Mit Vorliebe wählt er sogar kleinstädtische Motive; doch wer wollte gering davon denken, nachdem Jean Paul in vielen seiner besten Romane ähnliche Motive behandelt hat? Es kommt nur darauf an, ob der Dichter aus dem Engen in’s Tiefe zu schaffen weiß, während manche aus dem Weiten heraus in’s Flache verfallen.

Die poetische Begabung regte sich indeß schon früh in Wichert. Zu einer Zeit, wo Sie, verehrte Freundin, noch im Flügelkleide der Unschuld Muscheln am Meeresstrande suchten und nur die Verse kannten, welche unter den schönen Bildern in den Kinderbüchern stehen, gab ich in Königsberg „Baltische Blätter“ heraus; es war dies ein sehr gewagtes Unternehmen; denn der Journalismus findet in Ostpreußen stets nur einen stiefmütterlichen Boden. Doch damals, wo die Wogen der politischen Bewegung hoch gingen und man nach den baltischen Küsten wie nach einem Lande der Verheißung blickte, schien ein günstiger Erfolg nicht außer der Berechnung zu liegen. Verleger dieser Blätter war damals Herr Samter, der jetzt als einer der ersten Banquiers in der Stadt der reinen Vernunft und als nationalökonomischer Reformschriftsteller mit neuen und fruchtbaren Gesichtspunkten viel genannt wird. Wir brachten philosophische Aufsätze, Kritiken, Gedichte. Ein junger Gymnasiast, der den Pegasus nicht ohne Glück gesattelt hatte, sandte einige lyrische Ergüsse für die Zeitschrift ein, die auch Aufnahme fanden; es war Ernst Wichert. Die Gedichte hatten den freiheitlichen Schwung, der damals Mode war; stand doch der Ruf eines Herwegh, Prutz und Freiligrath damals in vollster Blüthe. Die politische Bewegung in Ostpreußen hatte mit ihrem Wogenschlage auch die Bänke der Prima und Secunda überfluthet. Auch an der freien Gemeinde des Dr. Rupp und an den philosophischen Abenden, welche der freigemeindliche Seelsorger veranstaltete, betheiligte sich der junge Dichter. Rupp war ein geborener Sectirer. Die hohe Gestalt mit den dunkeln Zügen und den langen schwarzen Haaren imponirte; er hatte in seinem Wesen etwas fanatisch Festes; sein Einfluß auf junge Gemüther war nicht gering. Entsprechend dem Ernst der Richtung huldigte Wichert zuerst der tragischen Muse, welche für die jüngeren Zöglinge der Dichtung etwas sehr Anziehendes hat; er dichtete schon auf den Schulbänken unter dem Einflusse der Rupp’schen Gemeinde und der Jacoby-Walesrodischen Freiheitsära einen „Huß“ und „Washington“. Im Grunde ist Wichert seiner Neigung für die Tragödie immer treu geblieben; er hat ihr bis in die jüngste Zeit gehuldigt, aber das Trauerspiel ist einmal das Stiefkind der deutschen Bühne, und wer sein Herz an reichen Erfolgen erquicken will, wird der spröden Muse der Tragödie gewiß untreu. Auf „Huß“ und „Washington“ folgte „Kaiser Otto der Dritte“, der später umgearbeitet und unter dem Titel: „Das Grab der Deutschen“ veröffentlicht wurde; es ist derselbe Stoff, den Mosen und Klein behandelt haben. In die neuere Zeit griff der Dichter, als er sein Schauspiel: „Unser General York“ (1857) schrieb; das Stück wurde auch an einigen Bühnen, in Königsberg, Breslau und Stettin, zur Aufführung gebracht. Ungehorsam und freie Selbstthat aus glühender Vaterlandsliebe giebt solchen Stoffen wie „York“ und „Schill“ einen echt dramatischen Conflict. Das Stück hatte nicht nur patriotisches Interesse, sondern auch einzelne wirksame Scenen, war aber im Ganzen zu historienhaft gehalten.

Im Sommer 1858, gerade als der Dichter in Berlin sein Staatsexamen machte, schrieb er ein bürgerliches Schauspiel, dessen Stoff er einem eigenen Erlebnisse entnahm: „Licht und Schatten“. Er hatte, wie er selbst erzählt, in Königsberg einen ältlichen Candidaten der Theologie kennen und schätzen gelernt, der sich sein Brod als Hauslehrer verdiente, weil das Consistorium ihm wegen seiner freisinnigen Richtung kein Amt anvertraute. Als ihn jedoch die Patronin einer Dorfkirche zu einer sehr gut dotirten Pfarrstelle berief, konnte man ihm kein anderes Hinderniß in den Weg legen, als daß man ihn beim Collegium sehr scharf, besonders auch in Bezug auf seinen Glauben an den Teufel, befragte. Seine Antworten mußten wohl insoweit befriedigend ausgefallen sein, daß man seine Anstellung ausfertigen konnte, die dem armen Theologen plötzlich eine Einnahme von mehreren tausend Thalern jährlich sicherte. Nun aber fing seine Gewissenhaftigkeit an, sich mit dem quälenden Gedanken zu beunruhigen, ob er bei seiner religiösen Gesinnung als ehrlicher Mann den vorgeschriebenen Kirchenglauben predigen dürfe. Die Idee, daß er die Pfarrstelle nicht annehmen dürfe, fixirte sich in ihm mehr und mehr und trieb ihn zum Wahnsinn. Gerade als Wichert die Examenreise nach Berlin machte, wurde der Freund in eine Irrenanstalt gebracht, und der Dichter fuhr mit ihm in demselben Coupé. Auch in Wichert’s Stück, dessen Spitze gegen die kirchliche Orthodoxie gerichtet ist, geht ein braver Mensch an der Anforderung zu Grunde, sich zum Teufelsglauben bekennen zu müssen. Sie sehen, verehrte Freundin, der Roman liegt auf der Straße und fährt in den Waggons; man braucht ihn blos mit geschickter Hand aufzugreifen. Auch Ihr Schloß weiß ja viel zu erzählen; die Schönheit hat immer ihre Romane, und wer im Besitze Ihrer Tagebücher wäre, brauchte Friedrich Spielhagen nicht um seine Erfindungen zu beneiden.

Im Jahre 1860 schrieb Wichert seine historische, auf dem Boden der heimathlichen Ostseeprovinz spielende Tragödie: „Der Withing von Samland“, ein Trauerspiel von kunstgerechtem Aufbau und gediegener Haltung, und noch vor zwei Jahren, als er schon durch seine Lustspiele auf allen deutschen Bühnen heimisch war, seinen „Moritz von Sachsen“. Gewiß beeilten sich doch alle Theater, auch das ernste Drama eines so beliebten Lustspieldichters zur Aufführung zu bringen, umsomehr als dasselbe von bühnengerechter Fassung war, sich nirgends in die Historie verlief und dem Geschmack des großen Publicums, welches auch im geschichtlichen Drama das rührende Familiengemälde nicht vermissen will, Zugeständnisse machte? Nein, verehrte Freundin. Keine einzige Bühne brachte das Stück zur Darstellung; Sie ersehen daraus die Ungunst, in welcher die Tragödie bei den deutschen Bühnenleitern steht. Die großen Hoftheater haben jährlich kaum mehr als eine neue Tragödie auf ihrem Repertoire, und die kleineren Bühnen folgen meistens dem Vorgang der großen. Rafft sich einmal ein kleines Theater zu dem kühnen Entschlusse auf, ein Trauerspiel zuerst in Scene gehen zu lassen, so ist dies in der Regel nur ein Schlag in’s Wasser. Die Kräfte reichen nicht aus zu würdiger Darstellung, und das Publicum kommt nicht mit dem rechten Glauben in’s Theater, der an kleineren Orten nur durch den weitverbreiteten Ruf eines Stückes hervorgerufen wird.

Die meisten Erfolge hat Wichert als Lustspieldichter davongetragen; sein erstes größeres Lustspiel, „Der Narr des Glücks“, erhielt den zweiten Preis bei der Wiener Preisausschreibung;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_818.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)