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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

die aber jetzt unsererseits schon bedeutend exacter erwidert wurden. Der Zug entfernte sich nun wieder unter gleichem Ceremoniell, und die Volksmasse verlief sich allmählich. Am Tage des Phänomens aber, am 9. December Morgens, als wir erwartungsvoll dem Ereignisse entgegensahen, hatte sich unser Towtei nach dem höchsten Gipfel des Berges tragen lassen und dort, auf die Kniee sinkend, die strahlende Sonne um Gelingen unserer Beobachtungen angebetet, die ja auch vollständig glückten.




Louise.


Zur hundertjährigen Geburtstagsfeier der Mutter unseres Kaisers.


(Schluß.)


Bekanntlich gestalteten sich die Verhältnisse noch weit trauriger, als die Königin gefürchtet hatte. Napoleon kannte keine Schonung mit dem besiegten Preußen und legte dem bereits erschöpften Lande neue, unerschwingliche Lasten auf, taub für alle Bitten und gerechten Vorstellungen. Zu allem Unglück mußte auch durch Unvorsichtigkeit ein vertraulicher Brief des Ministers Stein über die Nothwendigkeit eines gemeinsamen Widerstandes der beiden deutschen Hauptmächte und die dazu nöthigen Hülfsmittel in die Hände der französischen Behörden fallen. Napoleon benutzte sogleich die Gelegenheit, um durch seine Drohungen eine Erläuterung zu dem Frieden von Tilsit zu erpressen, wodurch er die ohnmächtige Regierung fast zur Verzweiflung trieb. Außer den geleisteten Contributionen forderte er noch hundertvierzig Millionen Franken und als Unterpfand für diese Schuld die Festungen Glogau, Küstrin und Stettin mit einer Besatzung von zehntausend Franzosen und deren Unterhalt; außerdem mußte sich Preußen verpflichten, ihm sieben Militärstraßen frei zu geben, nie mehr als zweiundvierzigtausend Mann eigene Truppen zu halten, die Bildung der Landwehr und der Volksbewaffnung einzustellen und für den drohenden Krieg mit Oesterreich ein Hülfscorps ihm abzugeben.

Das Traurigste aber war, daß die Friedenspartei am Hofe wieder das Uebergewicht erhielt und die von Stein und Scharnhorst angebahnten Reformen in’s Stocken geriethen oder ganz unterblieben. Stein selbst mußte entlassen werden und flüchtete, von Napoleon geächtet und für vogelfrei erklärt, nach Oesterreich. Das ihn ersetzende Ministerium Altenstein war in keiner Weise seiner Aufgabe gewachsen; ohne Einheit, ohne Kraft und Energie verfolgte es wieder jene alte, unselige Politik des Abwartens. Als Oesterreich sich zum schweren Kampfe rüstete, die tapferen Tiroler und Spanier in ihren freien Bergen zu den Waffen gegen den Tyrannen griffen, die Flammen des Aufstandes hoch emporloderten und der große Augenblick zum vereinten Handeln gekommen war, verharrte die preußische Regierung in unbegreiflicher Unthätigkeit. Nur die Königin erkannte wiederum mit ihrem prophetischen Blick die Bedeutung dieser Volksbewegung, zu der Friedrich Wilhelm der Dritte nicht eher Vertrauen faßte, bis er 1813 von der allgemeinen Begeisterung mit fortgerissen wurde.

Noch einmal siegte jedoch Napoleon über das erschöpfte Oesterreich trotz tapferer Gegenwehr; Kaiser Franz sah sich gezwungen, einen schimpflichen Frieden zu schließen und diesen durch die Hand seiner eigenen Tochter, einer stolzen Habsburgerin, zu besiegeln. Die Hoffnungen der deutschen Patrioten wurden vernichtet und machten einer dumpfen Verzweiflung Platz. Besonders war die preußische Kriegspartei über diesen durch die Regierung mit heraufbeschworenen Ausgang des Kampfes empört. Der alte Blücher forderte seinen Abschied, den er jedoch zum Glück nicht erhielt. Die besten und talentvollsten Männer zogen sich grollend zurück oder traten, wie der alte Hartmann, in fremde Dienste, um gegen den fränkischen Tyrannen zu kämpfen. Andreas Hofer, der todesmuthige Schill, Dörnberg, der kühne Herzog von Braunschweig, welche zu früh aufgestanden, büßten mit ihrem Tode oder mit Verbannung ihre Liebe zu dem bedrückten Vaterlande. Damals stand Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht und vermaß sich, der ganzen Welt Gesetze vorzuschreiben. Das gedemüthigte, ausgesogene Preußen schmachtete in seinen Banden und erlag fast unter dem ihm aufgezwungenen Joch. Unfähig, die geforderten Summen abzuzahlen, sah sich die königliche Familie zu den peinlichsten Einschränkungen und Entbehrungen gezwungen. Eine beabsichtigte Anleihe mißlang und rücksichtslos drohte der Sieger mit einer französischen Executionsarmee, sodaß der damalige Finanzminister ganz ernstlich die Abtretung Schlesiens als das einzige Mittel zur Befriedigung des ungestümen Gläubigers vorzuschlagen wagte. Das war selbst für den geduldigen König zu viel; er entließ den unfähigen Altenstein und berief an dessen Stelle den bereits früher erprobten Grafen Hardenberg, um die von Stein bereits eingeleiteten Reformen zum Heile des Staates durchzuführen. – Alle diese politischen Ereignisse und Bestrebungen wurden von der Königin mit Begeisterung begrüßt und nach Kräften gefördert.

„Haben Sie schon gehört?“ schrieb sie bereits im September 1808, „der König hat befohlen, daß in den Kirchen Gedächtnißtafeln der um das Vaterland verdienten Krieger aufgestellt werden zur Ehre der Todten, zur Auszeichnung der Ueberlebenden und zur Nacheiferung der Anderen. Das ist ein Funken mehr, aus dem vielleicht noch die Flamme Gottes schlagen kann, welche die Geißel der Völker verzehrt. Hat es denn nicht wie in Spanien auch in Tirol schon gezündet? ‚Auf den Bergen ist die Freiheit.‘ Klingt diese Stelle, die ich jetzt erst verstehe, nicht wie eine Prophezeiung, wenn Sie auf das Hochgebirge blicken, das sich auf den Ruf seines Hofer’s erhoben hat? Welch ein Mann dieser Andreas Hofer! Ein Bauer wird ein Feldherr, und was für einer! Seine Waffen – Gebet; sein Bundesgenosse – Gott! Er kämpft mit gefalteten Händen, kämpft mit gebeugten Knieen und schlägt wie mit dem Flammenschwerte des Cherubs. Und dieses treue Schweizervolk,[WS 1] das meine Seele schon aus Pestalozzi angeheimelt hat! Ein Kind an Gemüth, kämpft es wie die Titanen mit Felsstücken, die es von seinen Bergen niederrollt. Spanien! Gott, wenn die Zeit der Jungfrau wiederkäme und wenn der Feind, der böse Feind doch endlich überwunden würde, überwunden durch die nämliche Gewalt, durch die einst die Franken, das Mädchen von Orleans an der Spitze, ihren Erbfeind aus dem Lande schlugen! – Ach, auch in meinem Schiller hab’ ich wieder und wieder gelesen! Warum ließ er sich nicht nach Berlin bewegen? Warum mußte er sterben? Ob der Dichter des Tell auch verblendet worden, wie der Geschichtsschreiber der Eidgenossen (Johannes von Müller, der in französische Dienste trat)? Nein, nein! Lesen Sie nur die Stelle: ‚Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre‘! Kann diese Stelle trügen? Und ich frage noch: warum er sterben mußte? Wen Gott lieb hat in dieser Zeit, den nimmt er zu sich.“

Endlich kam die heiß ersehnte Stunde der Rückkehr nach Berlin, nachdem das Königspaar noch zuvor einer Einladung des Kaisers Alexander zu einem Besuch in Petersburg gefolgt war, wo es mit verschwenderischer Pracht und wirklicher Verehrung aufgenommen wurde. Obgleich die Königin mit Beweisen der zartesten Aufmerksamkeit und Freundschaft von ihrem kaiserlichen Wirth überhäuft wurde, schrieb sie: „Ich bin gekommen, wie ich gegangen. Nichts blendet mich mehr, und ich sage noch einmal: Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ – Mehr als alle die großartigen Festlichkeiten, Revuen und Aufführungen, die ihr zu Ehren in Petersburg veranstaltet wurden, erfreute und befriedigte sie die Liebe ihres Volkes und das rührende Wiedersehen mit ihrer Familie, besonders der Anblick ihres theuren Vaters, der sie in Berlin erwartete. So groß aber auch ihre Freude war, so hatten die vorangegangenen Leiden ihre ohnehin zarte Gesundheit doch erschüttert und einen dunklen Schleier über ihren sonst so hellen Geist, gleichsam eine Ahnung ihres frühen Todes über ihre Seele gebreitet. Als sie ihren Geburtstag im Kreise ihrer Angehörigen beging, sagte sie wehmüthig: „Ich denke, es wird wohl das letzte Mal sein, daß ich meinen Geburtstag hier feiere.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schweizeroolk
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_071.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)