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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Familie und im Privatverkehr hingeben darf, da findet sich der Humor als alter Hausfreund bei ihm wieder ein. Zuweilen trägt auch ein fliegendes Blatt mit einigen flüchtig darauf hingeworfenen Zeilen noch die Spuren desselben. Wir waren in der Lage, ein solches Blättchen zu haschen, und können uns den Scherz nicht versagen, dasselbe hier mitzutheilen. Es ist an ein Kleidergeschäft gerichtet und lautet folgendermaßen:

„Varzin, 28. Juli 1872.

Sie haben mir früher Sachen gearbeitet, die gut saßen, aber Sie haben leider die Gewohnheit davon verloren und nehmen an, daß ich mit dem Alter kleiner und dünner werde, was doch selten der Fall ist. Ich bitte Sie, nach meinem alten Maße zu arbeiten, von vor vier Jahren; was Sie mir seit 1870 geschickt haben, ist nicht zu brauchen, und ich habe von einem sonst so intelligent betriebenen Geschäfte, wie dem Ihrigen, nicht erwarten können, daß Sie die Naturgeschichte des menschlichen Körpers so wenig studirt haben.

von Bismarck.“

Wir sehen, daß es nicht allein Fractionspolitiker sind, denen mitunter das rechte Maß verloren geht, mit dem ein Bismarck gemessen werden muß. Freuen wir uns, daß er auch im Alter noch so „mächtig“ geblieben, und hoffen wir, daß er noch lange in geistiger und körperlicher Rüstigkeit die Angelegenheiten des Reiches verwalten möge!




Der Veltliner Protestantenmord.


Von Ernst Ziel.


Zu dem Rüstzeuge, mit welchem die „heilige Kirche“ den Kampf gegen eine vernunftgemäße Welt- und Lebensanschauung führt, hat von jeher in erster Linie der Versuch gehört, die Berechtigung des Ultramontanismus[WS 1] und seiner Tendenzen auf historischem Wege darzuthun. Daß die Geistlichkeit, zumal die katholische, bei diesem gewagten Unternehmen Thatsachen und Daten, ja oft ganze Culturepochen, von der Geschichte verbürgt und verbrieft, in souveräner Willkür und Machtvollkommenheit auf den Kopf stellte und in „verbesserter Ausgabe“ ihren Zwecken dienstbar machte, weiß Jedermann. Ohne solche Fälschungen geht’s hierbei einmal nicht ab; denn jedes Blatt im Buche der Geschichte spricht von Blutthaten der Kirche – und wie sollte die „heilige“ bestehen angesichts solchen Zeugnisses? „Wo die Wahrheit uns nicht paßt, da thun wir ihr eben Gewalt an.“ Auf das Mißverhältniß zwischen dem, was der Ultramontanismus als Wahrheit hinstellen möchte, und dem, was wirklich Wahrheit ist, kann nicht oft genug hingewiesen werden – und diese Erwägung ist die Veranlassung zu der nachfolgenden Schilderung einer der schändlichsten Gräuelthaten des Glaubenseifers, eines Blutbades, dessen Einzelheiten, obgleich nicht weniger empörend als die Frevel der Sicilianischen Vesper, nicht minder gräßlich als die Schrecken der Bartholomäusnacht, doch in weiteren Kreisen verhältnißmäßig noch wenig bekannt geworden sind. Achtundvierzig Jahre nach jener Nacht, in welcher die Sterbeseufzer der Hugenotten die Straßen von Paris erfüllten, vollzog sich auf Befehl der Kirche Roms in einer der anmuthigsten Landschaften des heutigen Italiens, im Thale der Adda, der aus Blut und Unthat zum Himmel schreiende sogenannte Veltliner Protestantenmord.

Es war eine Zeit der Auflösung und Verwirrung, der Gährung und des Schreckens, die Zeit des anhebenden dreißigjährigen Krieges. Ganz Europa kam aus den Fugen. In Staat und Gesellschaft, im wissenschaftlichen und praktischen, zumal aber im religiösen Leben starben die alten Zustände unter gewaltigen Umwälzungen ab, und die Geburt einer neuen Zeit vollzog sich unter welterschütternden Ereignissen. Es war, als wolle die Menschheit mit sich selbst abrechnen über alte, durch Jahrhunderte verpflanzte Irrthümer und Verschuldungen und unter die abgeschlossene Bilanz der Zeit einen blutigen Strich machen.

Auch in Italien gingen die Keime des Neuen auf den Trümmern des Alten auf. Der Geist Luther’s hatte längst die Alpen überflogen und sich auf der italischen Halbinsel eine Heimstätte gegründet. Aber wie überall, so erhob sich auch hier gegen die freiere Lehre des Mönches von Wittenberg ein in den Fangnetzen des katholischen Glaubens verrannter Glaubenseifer, welcher mit Feuer und Schwert zurückerobern wollte, was die siegende Vernunft ihm abtrünnig gemacht hatte. Das Gespenst der Inquisition ging durch ganz Italien und warf die Flammen der Scheiterhaufen in alle Gauen. Kein „Ketzer“ war sicher vor den Schergen Roms, und die Noth war groß. Wohin sollten die verfolgten Protestanten sich wenden? Wo war ein Schirm gegen die Häscher des Papstes? Da winkte ihnen am Fuße der Alpen eine Friedensstatt. Aus allen Provinzen strömten die Schwerbedrohten zu ganzen Schaaren in das Veltlin, Schutz und Unterkommen in den sicheren Thälern der Adda suchend. Die schweizer Bündner gewährten ihnen beides und ließen den Fremdlingen auch freie Religionsübung zu Theil werden. So fand die Reformation allmählich im Veltlin Pflege und Ausbreitung.

Mit scheelen Blicken aber betrachtete Rom das beinahe im Schatten des heiligen Stuhles aufblühende Ketzerthum. Es wurde ein wahres System von geheimen Intriguen gegen die verhaßten Protestanten in Scene gesetzt, und als in Mailand Herzog Alba’s Regiment begann, da trat die Opposition offen hervor. Er, unter den Schildträgern der Inquisition der fürchterlichste, legte etwa um das Jahr 1560 Truppen in die festen Plätze des Addathales. Das ganze Veltlin zitterte. Aber die drohenden Wolken zogen vorüber – das Gewitter entlud sich nicht; um so drückender aber wurde die Schwüle; denn statt der gefürchteten spanischen Soldateska kamen – die Söhne Loyola’s in’s Land. Weit empfindlicher, als die Söldlinge Alba’s das Veltlin hätten bedrücken können, traf die Geißel der Jesuiten die nun in’s geistliche Joch geschlagenen Thalbewohner; denn ein Einziger dieser Jünger Jesu ist, nach dem Sprüchworte, schlimmer als zehn Kriegsknechte. Aber damit war es noch nicht genug; zum Schlimmen gesellte sich das Allerschlimmste: Zur energischeren Bekämpfung des Protestantismus im Thale der Adda gründete der Erzbischof von Mailand, Carlo Borromeo, ein gefügiges Werkzeug des Papstes, im Jahre 1579 in jener Stadt ein Priesterseminar, das Collegium Helveticum, in welchem der orthodoxe Katholicismus den jungen Nachwuchs für die Zwecke Roms erzog. Fünf Jahre später starb Borromeo, und Nicolo Rusca von Lugano, Erzpriester von Sondrio und Schüler Borromeo’s, wurde im Veltlin der geistige Mittelpunkt der Feinde des Protestantismus. Um ihn, der im Volksmunde nicht anders hieß, als der „Ketzerhammer“, schaarte sich Alles, was die Anhänger des neuen Glaubens und die bündnerische Gewalt haßte, die Priester und die großen und kleinen Feudalen. Die Noth der Verfolgten stieg; die Gefahr des freien Glaubens wuchs. Da wurde im Jahre 1618 Rusca vor ein Strafgericht in Thusis gestellt, des Ungehorsams gegen die Landesregierung und verrätherischer Verbindungen mit Spanien angeklagt und der Folter überliefert, auf welcher er starb. Das Blut ihres Oberhauptes spornte die katholische Partei zu verschärften Maßregeln gegen ihre Widersacher an, und so wurde ein bewaffneter Einfall in das Veltlin und die Ermordung der Protestanten beschlossene Sache.

So weit das Vorspiel des Dramas.

Zur Ausführung des fürchterlichen Planes lieh in erster Linie der durch Reichthum und wissenschaftliche Bildung weithin bekannte Ritter Jacob Robustelli zu Grosotto die Hand. Er hatte die Mitverschworenen im Juli 1620 in seiner Wohnung versammelt und richtete daselbst an sie die folgenden historisch gewordenen Worte:[1]

„Die Zeit der weibischen Klagen ist vorüber. Man muß sich empören. Der Krieg ist dem Zustande, in dem wir uns befinden, vorzuziehen. Vaterland, Eigenthum, Gesetze und, was mehr ist, die Religion haben uns die Bündner geraubt oder befleckt. Erschreckt nicht vor dem Worte Rebellion! Der Papst

  1. Siehe Georg Leonhardi’s vortreffliches Buch „Das Veltlin“ (Leipzig, Wilhelm Engelmann), welches hier vielfach benutzt wurde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ulramontanismus
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_167.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)