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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

einem deutschen Londoner Wochenblättchen, welches der ehemalige Held des weinseligen Vergnügtseins in Berlin Louis Drucker, ehe er sich im amerikanischen Mississippi, also in gemeinem Wasser, ertränkte, als Colporteur umhertrug. Ich hatte das Blättchen so ziemlich allein zu füllen. Stoff dazu lieferte mir auch eines Tages die Erinnerung an die blutrothe Politik, welcher Karl Marx in der rheinischen Zeitung seligen Andenkens das Wort zu reden pflegte. Marx fühlte sich dadurch beleidigt und kam mit zwei mir unbekannten Herren feierlich mit einem vor das Auge gekniffenen Glase in die Redaction, um mich zur Abbitte oder zur blutigen Sühne durch Pistolen zu zwingen. Die beiden unbekannten Herren setzten sich ernst und stumm an einen Tisch, und der kleine schwarzgelbe Marx stellte sich, mich durch sein Glas einäugig fixirend, mit erhabenem, unmittelbar in’s Lächerliche umschlagendem Ernste dicht vor mich hin, um mich zunächst mit dem bewaffneten Blicke zu durchbohren. Damit ihm dies um so sicherer gelänge, stellte er mir die beiden ernst dareinschauenden Herren als Ferdinand Freiligrath und den rothen Becker vor.

Ich konnte nicht umhin, meinem lebhaften Bedauern Worte zu geben, daß ich den Dichter Freiligrath, unter so tragisch-komischen Verhältnissen zum ersten Male persönlich vor mir sähe, und reihete daran sogleich die Schilderung meines Besuches bei Chamisso. Dies rührte Freiligrath augenscheinlich. Die boshaft kaltblütig criminalistische Verhörerei des mir gründlich verhaßten Marx empörte mich ebenso sehr, wie sie mir lächerlich erschien. Ich erklärte unumwunden, daß ich mich auf eine in England mit Irrenhaus bestrafte Paukerei, Schießerei oder Stecherei auf keinen Fall einlassen werde und mich zu nichts verstehe als zu einem Berichte über diesen merkwürdigen Besuch mit Angabe des Inhaltes. Auch seien wir vier Betheiligten viel zu alt, als daß wir uns ohne Lächerlichkeit auf eine so studentikose Entscheidungsweise in dieser Angelegenheit einlassen dürften. Mehr als eine Veröffentlichung seiner vor diesen Zeugen gegebenen Versicherung könne Marx nie verlangen und werde er nicht erzwingen. Als die Drei gingen, rief ich Freiligrath noch in wahrhafter Verehrung und Liebe zu, daß ich ihm auf freundlichere Weise wieder zu begegnen hoffe.

Den viel gefürchteten rothen Becker hatte ich zuerst als die furchtbarste Persönlichkeit der Revolution angestarrt, aber ich sah ihn als ganz menschliches Wesen davongehen. Er ist denn auch noch ganz ehrenvoller Dortmunder Bürgermeister, sogar Oberbürgermeister der zweiten Hauptstadt Preußens und Mitglied des Herrenhauses geworden. Und die grimmige politische Muse Freiligrath’s feierte ihren größten Triumph in der Verherrlichung des „Trompeters von Gravelotte“, der im Helden- und Siegeskampfe des vereinigten Deutschland errungenen Einheit und Ehre mit kaiserlicher Krone. Sein unbeugsamer Republikanismus fügte sich also doch zuletzt der Gewalt der Thatsachen, wie alle Parteien in Poesie und Prosa. Nur der eitle Eigensinn und Egoismus eines Karl Marx und seiner socialdemokratischen und internationalen Nachbeter blieb, dem Geiste und der Einsicht unzugänglich, außerhalb der Bewegung stehen und muß in ohnmächtiger Feindseligkeit sich selbst vollends vernichten.

Ich sah hernach Freiligrath jahrelang nur dann und wann zufällig und nie in einer Versammlung zur Hebung und Förderung der deutschen Bestrebungen, wo Kinkel öfter durch seine gewinnende Persönlichkeit und Beredsamkeit den Zwiespalt der Parteien zu überbrücken suchte. Freiligrath hatte weder Sinn noch Talent für öffentliches Auftreten, und außerdem meinte er, seiner Stellung als Verwalter der Schweizer Bank in London diese Enthaltsamkeit schuldig zu sein. Endlich aber, mit dem herannahenden Herbste des Jahres 1859, galt es, die Deutschen in London für die Feier des hundertsten Geburtstages Schiller’s zu vereinigen. Lasen wir doch von großartigen Vorbereitungen aus allen Theilen der Erde, wo Deutsche waren. Mir ging’s wohl am meisten zu Herzen, und ich dachte an einen Aufruf mit ehrenvollen Unterschriften.

Mit Kinkel auf’s Herzlichste befreundet, ging ich ihn zuerst an, aber er war und blieb der Ueberzeugung, daß mit den zersplitterten oder englisirten Deutschen in London nichts anzufangen sei. Deshalb suchte ich demnächst Freiligrath in der Schweizer Bank hinter der Börse auf. Er rollte mir höchst liebenswürdig einen schweren, ledernen Lehnstuhl hin, setzte sich mir gegenüber und zeigte sich als echter Dichter für einen ebenfalls echten begeistert, aber auch er war der Ansicht, daß mit unseren Landsleuten in der Themsestadt nichts auszurichten sei. Man dürfe sich durch einen Aufruf nicht lächerlich machen. Ich dachte aber, für Schiller könne man’s schon wagen. Nachdem ich bei anderen Deutschen von hohem Ansehen ebenfalls abgewiesen worden war, gelang es mir, mit Hülfe der Directoren des Krystallpalastes das Unternehmen eines würdigen Schiller-Festes zu sichern. Und nun ließ sich Kinkel ebenso leicht für die Festrede, wie Freiligrath für die Festcantate, ein deutscher Componist für die Composition derselben, ein deutscher Gesangverein, der dadurch sofort auf dreihundert Mitglieder schwoll, für den öffentlichen Vortrag derselben gewinnen. Dreitausend Engländer und Engländerinnen studirten die „Glocke“ ein. Das ganze Fest sollte mit einem Fackelzuge im Parke des Krystallpalastes enden.

Alles gelang über jede Erwartung. Die Freiligrath’sche Cantate war vom Anfange bis zu Ende ein echtes Kind dichterischer Begeisterung für unseren größten Dichter. Die Composition gelang ebenfalls, am glänzendsten aber die Ausführung aus dreihundert begeisterten Mannes- und Jünglingsherzen. Nach den Urtheilen der englischen Presse war unser Zug mit achthundert Fackeln aus den Tiefen des Parkabhanges auf den gewundenen Wegen bis in die Terrassen herauf ein beispielloser, in England noch nie gesehener malerischer Triumph.

Dieser hundertste Geburtstag Schiller’s gebar auch zuerst Einheits- und Selbstgefühl unter den Deutschen in London, wie mehr oder weniger auf der ganzen Erde. Das Gefühl war meist noch idealen und allgemeinen Inhalts und gewann erst über ein Jahrzehnt später Fleisch und Blut, Lebenskraft für weitere Entwickelung und Verwirklichung.

Auch Freiligrath war wieder deutscher, zugänglicher und gemüthlicher geworden. Ich kam fortan öfter persönlich und in Familie mit ihm zusammen. Er wohnte jenseits verwickelter Häuserlabyrinthe, von der City nordwestlich, in dem sonst ziemlich ärmlichen Hackney, einem ehemaligen besonderen Dorfe mit einem Kirchhofe voll verwitterter Grabsteine und einem nur noch als Ruine hervorragenden Kirchthurme. Vor diesem vorbei und mitten über den Kirchhof hinweg kam man auf kürzestem Wege zu Freiligrath, in sein altes, geräumiges und gemüthliches Haus mit kleinem Vor- und großem, altem Hintergarten, in dessen ehrwürdige Baumkronen und grüne Grasflächen er aus seinem Bibliothekzimmer hinaussah. Es war groß und ringsum von ganz unten bis ganz oben mit Büchern gefüllt. Bei einem Privatgelehrten und Dichter hatte ich noch nie eine solche Fülle von Büchern gesehen. Sie waren denn auch von Jugend an seine Liebhaberei, sein Stolz gewesen. Er hatte sie zweimal aus Deutschland mit in’s Exil hinübergenommen. An dem großen Tische mitten in diesem Zimmer, fern von allem Lärm der Stadt und der Straßen war er ein glücklicher, gesundheitstrotzender, freundlich gesprächiger Mensch und Gelehrter. In der Familie unten erschien er zugleich als ehrwürdiger Patriarch, wahrhaft kindlich und zufrieden mit Allem, was ihm Frau und Kinder gaben oder nahmen; namentlich überließ er die unbeschränkte Herrschaft über das ganze Haus- und Wirthschaftswesen seiner zierlichen, blonden Frau aus Weimar, die ihren Stolz und ihr Glück zweien Dichtern zu verdanken behauptete. Und gewiß mit Recht. Diese beiden Dichter hießen Goethe und Freiligrath. Ersterer hatte sie oft mit Kuchen und Küssen beschenkt und sich das Kind nicht selten holen lassen, um mit ihm zu spielen und zu scherzen. Die zur Zeit meines Londoner Aufenthaltes fünfzehnjährige Tochter war Frau Freiligrath’s verjüngtes Ebenbild. Da konnte man sich Goethe’s Geschmack und Zärtlichkeit erklären. Der etwas jüngere Sohn war stolz auf seine kleine Privatmenagerie im Hofe. Der Vater meinte ganz richtig, durch Umgang mit Thieren würden die Kinder menschlicher und gemüthvoller.

Dieses Familienleben war ein echt deutsches, aber zugleich gehoben durch besten englischen Einfluß in Wohnungs-, Lebens- und Anschauungsweise. In Bezug auf Häuserbau, Einrichtung der Zimmer, Mahlzeiten, Arbeitsvertheilung etc. könnten wir in Deutschland nichts Besseres thun, als diesem englischen Einflusse mehr Rechte einräumen. Nun, wir Flüchtlinge haben Alle etwas von England mit herübergenommen, Freiligrath sogar eine Monatsschrift in englischer Sprache, der wir nur einen guten Ersatzmann für den Dahingeschiedenen wünschen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_251.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)