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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Wir zählen jetzt,“ erklärte mir der Rabbi, „das Jahr 5636. Das Buch ist also sechshundertvierundzwanzig Jahre alt.“

Ich verabschiedete mich vom Rabbi und folgte einer Einladung seines Schwiegersohnes, ihn in seinem Hause zu besuchen. Wir gingen wieder über den Hof. Das Gewühl war womöglich noch größer als vordem, doch wich jetzt die Menge mit ehrfurchtsvoller Scheu vor dem jungen Rabbi, der sie keines Blickes würdigte, zur Seite. Wir traten in seine Villa, durchschritten einige hübsch eingerichtete Zimmer und gelangten in das Empfangszimmer. An der Hauptwand desselben stand ein großer Glaskasten mit Silbergegenständen, meist russischer Arbeit.

„Mein Silber,“ bemerkte der junge Rabbi, „stelle ich zum Theil aus, weil ich wenig habe. Der Schwiegervater stellt das seine nicht aus, denn es ist viel, und es ist jetzt nicht mehr Mode, es sehen zu lassen. Beim Großvater Isruliniu war es anders.“

„Man sagt, er hätte sogar einen Tisch aus Silber besessen.“

„Das ist richtig; der Tisch ist jetzt mein Eigenthum.“

Er winkte. Vier Meschorßim traten ein und zogen mit vieler Anstrengung eine große eiserne Kiste, die in einer Ecke stand, hervor. Die Gaboim schlossen die zahlreichen Schlösser derselben auf; der Deckel fiel zurück und eine mächtige Silberplatte, in Hirschleder weich gebettet, blinkte hervor. Mit vereinten Kräften hoben die sechs Männer die Platte heraus und lehnten sie an die Kiste.

Es war eine viereckige Platte mit abgerundeten Ecken, etwa einen Meter lang und einen halben Meter breit. Die Dicke der durchwegs massiv anklingenden Platte mochte beiläufig acht Millimeter betragen; die in den Rand eingeschlagene russische Punze bewies, daß sie aus vierzehnlöthigem Silber bestand. In die obere Fläche war eine Landschaft gravirt: in der Mitte ein Berg mit Stufen, von einigen Palmen und anderen Bäumen umgeben, rechts ein Widder und eine Kuh.

„Was stellt das vor?“ frug ich.

„Die Akeide (die Opferung Isaak’s).“

„Da ist ja aber weder Abraham noch Isaak zu sehen.“

„Es ist verboten,“ erwiderte der junge Rabbi, „einen Menschen abzubilden; darum ist hier nur die Opferstätte und der Widder zu sehen, und überdies eine Kuh, damit das Ganze nicht so leblos aussieht. Die Menschen muß man sich dazu denken.“

Nachdem mir so gründlich die Principien der orthodox-jüdischen Kunst erklärt worden, wurden die übrigen Theile des Tisches aus der Kiste gehoben. Vier Füße – Rehschenkel mit reicher Blätterschmückung am Oberansatz – ein ovaler blumenumwundener Fußkranz, auf vier Löwentatzen ruhend, mit einer von Guirlanden gehaltenen Vase in der Mitte; alles von vierzehnlöthigem Silber in getriebener Arbeit.

„Das ist ein sehr kostbares Stück,“ bemerkte der junge Rabbi, „aber in meinen Augen hat es nur geringen Werth. Ich kann mir so einen Tisch für Geld wieder machen lassen. Werth hat in meinen Augen nur das, was um alles in der Welt nicht wieder zu bekommen ist. Solchen Werth hat aber von allen unseren Besitzthümern nur ein Stück, und das kann ich Ihnen jetzt nicht zeigen, weil wir es am Samstag nicht berühren dürfen. Es ist ein ‚Burstin‘ (Bernstein), so lang (er breitete beide Arme aus); mein Schwiegervater raucht daraus.“

Er holte aus einem Glaskästchen dann einen sehr schön mit hebräischen Quadratbuchstaben beschriebenen Quartband heraus; es war dies der von ihm selbst geschriebene Katalog seiner reichhaltigen, die gesammte chassidische Literatur umfassenden Bibliothek, in die er mich sodann führte.

„Giebt es außer Mendelssohn,“ frug er mich dort im Verlaufe eines literarischen Gespräches, „noch jüdische Schriftsteller, die deutsch schrieben?“

„Gewiß.“

Einer der Gaboim trat rasch auf mich zu.

„Ech mein’,“ redete er mich an, „Schiller war jo auch a Jüd; tomer (vielleicht) nischt?“

Die Kuppeln und Thürme von Czernowitz leuchteten bereits im Abendroth, als ich in die Stadt wieder einfuhr. Die frommen Sadagórapilger hatten mich mit Blicken scheuer Ehrfurcht begleitet; nur wenigen von ihnen wurde das Glück zu Theil, mit dem Rabbi so cordial verkehren zu dürfen, wie ich mit ihm verkehrte. Mehrere Jahre zuvor war der damalige Statthalter von Galizien (die Bukowina war damals ein galizischer Kreis), Graf Mensdorff, nach Sadagóra gekommen. Er wollte den Rabbi sehen, wurde aber nicht vorgelassen. Als er aber auf seinem Verlangen beharrte, empfing ihn der Rabbi endlich, aber – mit einem dichten Schleier vor dem Gesichte, da „kein Ungläubiger würdig ist, den Heiligen von Angesicht zu sehen“. Seitdem ist der Zadik allerdings zugänglicher geworden, denn in die Zeit zwischen damals und heute fällt eine Katastrophe, die den Stolz des Heiligen sehr beugte.

Die russische Regierung, beunruhigt durch die große Masse falscher Assignaten, die auf unbekannte Weise aus dem Auslande in das Reich strömten, sandte ein Heer Polizeiagenten aus, um den Fälschern auf die Spur zu kommen. Die gepflogenen Recherchen ergaben bald die Gewißheit, daß die Falsificate in London fabricirt werden und daß die Chassidim, die alljährlich nach Sadagóra pilgern, die Einschmuggelung derselben nach Rußland besorgen. Die Residenz des Zadik war eine förmliche Messe der Banknotenfälscher, und der Rabbi selbst nahm in mächtiger Weise an diesem Handel Theil. Das Strafgericht in Czernowitz verfügte seine Verhaftung; die Untersuchung förderte sehr gravirende Verdachtsgründe gegen ihn zu Tage. Seine Familie und sein Anhang boten Alles auf, um der Angelegenheit eine für ihn günstigere Wendung zu geben. Aber alle Versuche scheiterten an der Strenge des Untersuchungsrichters. Sie griffen zu einem letzten Mittel, welches die ganze Verschmitztheit dieser Leute beweist. Eine Deputation Bukowinaer Bürger, aus Mitgliedern aller Stände und Bekenntnisse zusammensetzt, erschien vor dem Kaiser und trug ihm die Bitte vor, dem höchst verdienstreichen und ausgezeichneten Richter N., dessen Verdienste bisher nicht die gebührende Anerkennung gefunden zu haben scheinen, ein Zeichen kaiserlicher Gnade zu geben. Der Monarch, gerührt durch diesen Beweis loyaler Gesinnung, ertheilte dem Justizminister die erforderlichen Befehle, und dieser beförderte den verdienten Richter zum Rathe des Oberlandesgerichts in Lemberg. So ward der Rabbi seinen strengen Inquisitor los, und dessen Nachfolger gewann eine mildere Anschauung von der Sache. Noch achtmonatlicher Untersuchungshaft erhielt der Rabbi „wegen Mangels an Beweisen“ seine Freiheit wieder. Die erfreueten Chassidim machten ihm ein Schloß, welches sie dem Grafen Goluchowski abkauften, zum Geschenk. Es liegt in der Nähe seiner Domäne Putek.

Anderen Tages glänzte die Hauptstadt der Bukowina im Festschmucke, um den Einzug der Musen zu feiern. Die Muse wohnt nun in Czernowitz, aber über der Steppe brütet die Nacht, und am Fuße des Secina feiert der Aberglaube und der religiöse Wahn Triumphe. Wird es dereinst Tag in jenen Gebieten werden, aus welchen die Sonne zu uns kommt? Es wage Keiner die Frage zu entscheiden – der menschliche Geist ist unlösbarer Räthsel voll, und die Kette seiner Verirrungen scheint endlos.




O, bleib’ ein Kind!

Du bist ein Kind und sollst es ewig bleiben;
      Das echte Weib bleibt ewig Kind,
Ein weißes Blatt, auf das die Götter schreiben,
      Wie köstlich Mild’ und Einfalt sind.

Ich will Dich sanft auf weichen Händen tragen,
      Wie nur getreue Liebe kann,
Und zu dem Schicksal will ich bittend sagen:
      „O, rühre dieses Kind nicht an!“

Voll Andacht will ich liebend Dich behüten
      Und rastlos sorgen früh und spät,
Daß nicht des Lebens Sturm von Deinen Blüthen
      Der Unschuld duft’gen Staub verweht.

Und wenn im Tod einst meine Augen brechen,
      Dann will ich im Gebete lind
Mit müden Lippen sterbend zu Dir sprechen:
     „Gedenke mein – und bleib’ ein Kind!“

Ernst Ziel.     
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_475.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)