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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


der Getränke vor Trunksucht schützt. Man wird in Bayreuth also mit Geschick immer mehr entmaterialisirt, und so fuhr ich heute per Droschke zur Table d’hôte auf den Calvarienberg, um wenigstes nicht total kampfunfähig zu sein, wenn die Vorstellung um vier Uhr beginnen würde.

Glauben Sie mir, es erquickt Leib und Seele, wenn nach den materiellen Misèren des Tages das Reich Wagner’s beginnt und nach den Heuschrecken- und Wildhoniggenüssen der Quell dieser seltenen Kunstoriginalität sprudelt. Was poesievoll ist, versteht Freund Wagner auch im Aeußerlichen einzurichten. Kurz vor Beginn jedes Dramas wird das Pubicum durch eine Fanfare zum Eintritt in das Theater aufgefordert, und höchst sinnig wird jedesmal ein „Motiv“ aus dem darzustellenden Stück geblasen. So im Rheingold das „Rheingoldmotiv“, in der Walküre das „Schwertmotiv“, im Siegfried das „Siegfriedmotiv“, in der Götterdämmerung das „Walhallamotiv“. Es setzen uns diese Signale unwillkürlich in eine andere Stimmung. In zehn Minuten ist, dank der vortrefflichen praktischen Einrichtungen, das Haus gefüllt. Zu spät darf Keiner kommen, um die Anwesenden nicht zu stören, und ohne Gedränge füllt und leert sich das Haus.

Die „Walküre“. – Die Fanfare wiederholt sich. Der deutsche Kaiser tritt ein. Ein begeistertes Hoch empfängt den greisen Imperator; er grüßt freundlich zurück; die Lampen verdunkeln sich und das unsichtbare Orchester fällt ein.

Wie ein Orgelton.

Es ist eigenthümlich, wie tolerant ich hier gegen die Gegner Wagner’s werde. Nicht, daß ich muß; die Menschen sind verschiedenartig organisirt und verschieden empfänglich. Das ist es nicht allein. Nein, ich begreife jetzt vollkommen, daß selbst poesievolle und phantasiebegabte Naturen sich ablehnend der Wagner’schen Musik gegenüber verhalten können, denn das ganze Wesen dieser Musik – ist nicht für das moderne Theater gemacht. In diesem ist eine andere Akustik als hier in Bayreuth. Die Blasinstrumente erdrücken den Gesang; es kommen immer neue Einzelheiten zur Geltung, und ich verstehe es vollständig, daß auf der eine Seite die Gegnerschaft eine aufrichtige, auf der andern Seite der Enthusiasmus zum großen Theile ein affectirter sein konnte.

Man sehe und höre die Walküre im Wagner-Theater, und man wird die „unendliche Melodie“ nicht mehr für eine Phrase halten. Man sehe und höre sie in unseren modernen Theatern, und die Gegnerschaft wird vielleicht berechtigter sein als der Enthusiasmus. Eine mächtig anziehende Poesie athmet durch den ganzen ersten Act. In der stark-mythologischen Liebesscene zwischen Bruder und Schwester (Siegmund und Siegelinde) erreichen das Melodiöse und die orchestrale Interpretation ihren Höhepunkt. Wir fühlen uns mitten in die Göttersagen hineinversetzt und rechten nicht mehr mit dem Texte. Der dämonische Gesang der Walküren auf dem Walkürenfelsen im zweiten Acte regt, verbunden mit der Scenerie und dem vielbewegten Leben auf der Bühne, dem Jagen der Wolken, dem Zucken der Blitze, unsere Phantasie so gewaltig auf, daß wir ganz vergessen würden, im Theater zu sein, wenn nicht – in der Scene des bezeichneten Walkürenrittes ganz miserable Pappfiguren als wildes Heer in der „Wolfsschlucht“ vorüberzögen, eine Scene, die in München durch als Walküren verkleidete Reiter zehnmal besser dargestellt wurde. Ueberhaupt hat der Maschinist Brand die vorangegangenen Reclamen nicht gerechtfertigt. Horizont und Himmel, Gewitter und Sturm sind vorzüglich. Der Maschinismus im Uebrigen läßt viel zu wünschen übrig, und die Scene, wo Hunding den Siegmund tödtet, indem das Schwert des Letzteren an Wotan’s Speer zerspringt, ging durch schlechtes Manöver der Wolken total in die Brüche. Ebenso war der „Feuerzauber“ am Schlusse ziemlich bescheiden. Alles Andere, Musik und Gesang, war großartig schön in diesem Theater.

Nach jedem Acte eine Stunde Pause. In abgekühlter freier Luft promenirt man draußen, stärkt sich durch einen Imbiß, plaudert, und der ganze Platz bietet den Anblick einer hocheleganten Soirée à la stella dar.

Die Vorstellung war vorüber. Erschöpft gingen wir zur Stadt zurück. Ich fastete eine Cotelette zum Souper, das ich nicht mehr bekommen konnte, begnügte mich mit Brod und Käse und legte mich zur Ruhe.

15. August.     

„Siegfried“. Heute Morgen reiste der Kaiser ab, aber das „Kaiserwetter“ blieb. Der alte Herr hat ohne jegliche Ostentation alle Herzen gewonnen. Eine Französin von Distinction, welche sonst nicht gerade für uns Deutsche schwärmt, sagte mir doch ganz plötzlich, als sie den Kaiser sah:

„Je comprends, c’est un homme qu’il faut estimer!“

Und ich war so malitiös galant, zu bedauern, daß Seine Majestät dieses „Hochachtungszeugniß“ aus so schönem Munde nicht persönlich habe entgegennehmen können.

Flüchtig sah und sprach ich gestern Abend Liszt im Theater. Es ist erstaunlich, wie dieser grand seigneur der Kunst, je älter er wird – schöner wird. So wenig die Profile einander ähneln, macht die ganze Erscheinung doch einen Eindruck, der an Dante erinnert, als er noch in Florenz weilte und die Düsterkeit des Exils noch keine Wolken auf seine Stirn gelagert hatte. Franz Liszt ist ja so recht eigentlich der Lord-Protector der „Zukunftsmusik“ gewesen, wie Hans von Bülow, der leider nicht hier ist, ihr geistig bedeutendster Kämpfer war.

Daß mit Liszt zugleich Schaaren von Clavierjünglingen und -Jungfrauen nach Bayreuth geströmt sind, versteht sich von selbst. Liszt braucht ja nur zu einem musikalische Nebenmenschen „Guten Tag“ zu sagen, und der „Schüler“ oder die „Schülerin Liszt’s“ ist fertig. Die „Männchen“ sind kenntlich an den langen Haaren à la Liszt, und die „Weibchen“ zeichnen sich durch einen keck-schief aufgesetzten Hut à la Tirolienne aus. Aber auch sonst blitzt manche originelle Erscheinung aus dem Menschengewühl auf. So ein Russe, dessen „Nam’ und Ort“ Niemand kennt, und der – eine Art von Damenfederhut auf dem Kopfe trägt. Ein anderer Quidam, ein Yankee, höchst modern gekleidet, trägt – Sandalen. Was solche exceptionell sein wollende Existenzen eigentlich bezwecken, mögen die Götter wissen.

Zwischen zwölf und ein Uhr annectirten mich zwei Hamburger Kaufleute, ein Paar alte Freude von mir. Ohne Widerstand zu leisten, ließ ich mich in ihren Wagen setzen und wir dinirten leidlich auf dem Calvarienberge, als uns der Champagner verdorben wurde durch das Gerücht, die Vorstellung werde heute nicht stattfinden, indem der Sänger Betz heiser geworden sei. Anfangs sträubte sich Jeder, an die Nachricht zu glauben. Der Castellan des Theaters, bei dem wir anfragen ließen, wußte von Nichts. Da kam ein Bekannter aus der Stadt und bestätigte die Nachricht. Er hatte die Absageplakate selbst gelesen.

„Und Wagner hat bei einer so wichtigen Sache nicht für eventuellen Ersatz gesorgt?!“

Das war die Frage, die ringsum laut wurde.

Ich schließe meine heutige Aufzeichnung mit dem ersten Worte, mit welchem sie begann: Was wir heute nicht zu sehen und zu hören bekamen, war –

„Siegfried.“

16. August.     

Zur gewohnten Zeit, gegen zwei Uhr, fuhr ich wieder den Calvarienberg hinauf, der auch heute ein Blumenbeet von Namen war und wo sogar – die orientalische Frage vertreten war. Die Vertretung hatte eine Dame von junonischer Schönheit am Arme und hieß – Graf Andrassy. Sie sehen also, der Friede ist vorläufig als gesichert zu betrachten. So lange Andrassy in Bayreuth weilt, gehen die Uchatiuskanonen nicht los. Ich habe den Grafen einst auch persönlich gekannt. Das war in jenen Tagen, wo der Strick und die Kugel sich den Patrioten als Verlobte empfohlen, in jenen Tagen schöner, aber gefährlicher Jugend-Illusionen. – Der Graf hat sich wunderbar conservirt. Wenn sein glänzend schwarzes Haar Original und kein Nachdruck ist, so beneide ich ihn darum. Er ist ein vollendeter Elegant, ohne geckenhaft zu sein, und bewegt sich auf dem Boden der Bayreuther Kunstrepublik so sicher, als sei er mit anderen Noten ebenso vertraut, wie mit den diplomatischen. Die Egalité herrscht übrigens vollständig. Man spricht Jeden an und wird von Jedem angesprochen. Die Großherzöge von Mecklenburg und Weimar, die Herzöge von Anhalt und Meiningen promeniren und plaudern unter der Menge und mit ihr. Die schönen Frauen schimmern wie Blumen, obgleich man nicht leugnen kann, es sind eine Menge welker Lilien mit künstlichen Rosen gefärbt darunter. –

„Fragen Sie doch nicht, wer hier ist, fragen Sie: wer ist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_585.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)