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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Im Laufe des letzten Sommers, das heißt also Jahr und Tag nach dem Beginne der Krankheit, waren die geistigen Thätigkeiten noch immer so herabgedrückt, daß der Kranke erst auf mehrmaliges lautes Anrufen eine meist verwirrte Antwort gab, wie wenn Jemand aus einem tiefen Schlafe plötzlich erweckt wird. Er befindet sich nunmehr auf dem Wege der Wiederherstellung, die bei ihm recht langsam fortschreitet. Nicht allein, daß er das Gehen verlernt hat, was ja eine gewöhnliche Erscheinung nach langwierigen Krankheiten ist, er muß auch wie ein kleines Kind wieder sprechen und schreiben lernen, als hätte sich der Geist um zwanzig Jahre verjüngt. Leider soll auch das Gehör ein wenig gelitten haben.

Das Interesse, welches sich an diesen Krankheitsfall knüpft, ist ein vielfaches. Sonst war die Starrsucht am häufigsten bei religiösen Schwärmern und sogenannten Somnambulen beobachtet worden, die während ihrer Verzückungen sich fast freiwillig in diesen Zustand versetzen zu können scheinen und dann sowohl ungewöhnliche Stellungen lange beizubehalten, wie empfindliche Schmerzen ohne Zucken auszuhalten pflegen. Sie erzählen in der Regel von inzwischen gehabten Visionen und wollen den Zuschauer glauben machen, daß die Seele während des Anfalls den wie ein Leichnam daliegenden Körper verlassen habe, um inzwischen in allen Welten, in Himmel und Hölle frei umherzuwandeln und nachher in den Körper zurückzukehren. Schon im Alterthum gingen derartige Geschichten um. Plato, Cicero und Plutarch erzählen uns die Berichte wiederaufgelebter „Todten“ über den Zustand der andern Welt, und Lucian hat uns das traurige Ende eines Philosophen überliefert, dessen Seele öfters spazieren ging, aber eines schönen Tages bei ihrer Zurückkunft den Körper nicht wie sonst auf dem Lager antraf, sondern leider erfahren mußte, daß die boshaften Gegner seiner Lehren ihn schleunigst dem Scheiterhaufen überliefert hatten. Die Volkssage erzählt, daß bei solchen Personen die Seele in Gestalt einer Maus, eines Schmetterlings oder einer Schlange aus dem offenen Munde davoneile, und warnt, ja nicht inzwischen die Lage des Körpers zu verändern, weil sonst die Seele den Rückweg nicht mehr finden könne.

Die Beobachtung einer solchen Krankheit ergiebt leicht, wie in den Köpfen ungebildeter Beobachter derartige Meinungen entstehen können, und auf die naheliegende Frage der Angehörigen an den nach Tagen oder Wochen aus seinem Starrkrampf Erwachten, was er inzwischen getrieben und gesehen, wo er gewesen sei etc., sind, wie man sieht, oftmals sehr erwünschte und befriedigende Antworten ertheilt worden. Unser Ulan, obwohl seine Seele über Jahr und Tag auf Urlaub gewesen, wußte keine solche interessanten Auskünfte über das unbekannte Land zu geben; seine Krankheit besaß keinen mystischen Schimmer, und daß sie uns vor der Hand unverständlich ist, theilt sie mit den meisten anderen Krankheiten.

Uebrigens genügte die oberflächlichste Beobachtung, um noch einige andere Vorurtheile zurückzuweisen, die sich im Volke vielfach an diese Nervenzufälle knüpfen. So wurde oftmals von derartigen mystischen Kranken, bei denen die Starrsucht fast immer einen Act der Schaustellung ausmacht, behauptet, daß sie ohne jede Nahrung in diesem Zustande bleiben könnten. Ein oberflächlicher Beurtheiler könnte in der That vermeinen, so ein starr und ohne Bewegung in todtenähnlichem Schlafe liegender Körper verbrauche keine Nahrung. Allein so lange das Leben dauert, kann auch der Stoffwechsel niemals ganz ruhen, und in dieser Hinsicht zeigte der „schlafende Ulan“ das bemerkenswerthe Verhalten, daß er trotz der ruhigen Lage und trotz der kräftigsten Nahrungsmittel nach einer kurzen Zunahme beträchtlich an Körpergewicht verlor.

Eine andere Wahrnehmung, die man an dem Kranken machen konnte, betrifft ein auch den Gebildeten geläufiges Vorurtheil. Wer erinnert sich nicht mit einem unangenehmen Frösteln der überall umlaufenden Geschichten von den im Starrkrampfe unter das Secirmesser gerathenen oder lebendig begrabenen Scheintodten. Nichts scheint näher zu liegen, als die Verwechselung eines tagelang in regungslosem Krampfe befindlichen Kranken mit einem Gestorbenen. Da läßt sich nun zur Beruhigung der aufgeregten Gemüther sagen, daß schwerlich jemals ein verständiger Arzt einen im Starrkrampf Liegenden für einen Todten halten kann, denn an dem starren Körper bleibt der Puls fühlbar; die Herz- und Athemgeräusche sind mehr oder weniger deutlich, und die Körperwärme wird durch geeignete Prüfung sogleich erkannt. Und sollte jemals ein Arzt – denn nur von ihm kann ein Urtheil gegeben werden – in Zweifel gerathen, so besitzt er nach den neueren Untersuchungen von Professor Rosenthal in Wien ein ganz sicheres Mittel, den wirklich erfolgten Tod vom Scheintode zu unterscheiden, in dem schon oben erwähnten Inductions-Apparate, den man deshalb auch Lebenserwecker genannt hat. Die Empfindlichkeit von Muskel und Nerv nimmt nämlich nach dem wirklich erfolgten Tode sehr schnell ab, sodaß nach höchstens drei Stunden jede Spur derselben geschwunden ist. Wenn also in einem zweifelhaften Falle der elektrische Strom nach dieser Zeit noch Zuckungen hervorzurufen vermag, so wird er die Vermuthung nahe legen, daß noch eine Spur Leben in dem Körper vorhanden sei.

Sehr lehrreich in dieser Beziehung war auch eine Kranke Namens Marie Lecomte, die im vorigen und laufenden Jahre im Pariser Hospital Cochin behandelt worden ist. Dieses vierundzwanzigjährige Mädchen fiel nach mancherlei hysterischer Zufällen am 5. April 1875 in einen todtenähnlichen Schlaf, der so tief alle Organe umschlossen hielt, daß weder schmerzhafte Eingriffe ein Erwachen herbeiführten, noch selbst die unwillkürlichen Bewegungen eintraten, wenn man die Nasenlöcher mit einer Federfahne berührte oder den Finger bis zur Stimmritze führte. Am Tage darauf trat, wie bei dem „schlafenden Ulan“, eine vollkommene Gliederstarre ein; der Körper lag mit an den Rumpf herangezogenen Armen unbeweglich wie eine ägyptische Mumie auf seinem Lager ausgestreckt. Aber bei dieser vollkommenen Leichenähnlichkeit, die sechs Tage und Nächte ohne Unterbrechung anhielt und während welcher der behandelnde Arzt, Dr. Després, nicht einmal Nahrung einzuflößen wagte, behielt der Puls deutlich siebenzig Schläge in der Minute, und das Thermometer stieg in den Achselhöhlen bis auf 38 Grad.

Bei dieser Kranken wurde eine andere viel umfabelte Eigenheit ihrer Krankheit in ausgezeichneter Ausbildung beobachtet. Wenn man Gewalt anwendete, ließen sich die Glieder derselben nämlich in jede beliebige Lage bringen und verharrten in den gezwungensten Stellungen, wie sie ein gesunder kräftiger Mensch höchstens eine Viertelstunde festzuhalten vermag, stundenlang; schließlich kehrten sie ruckweise in eine den Gesetzen der Schwere mehr entsprechende Lage zurück. Dieses Verharrungsvermögen der Muskeln ging so weit, daß Fingereindrücke auf muskulöse Theile minutenlang sichtbar blieben. Es ergiebt sich aus diesen Beobachtungen auch für den Laien völlig klar, daß in solchen Fällen nicht von einem Erschlaffen der Muskeln und Nerven die Rede sein kann, sondern vielmehr umgekehrt von einer gesteigerten Thätigkeit und beständigen Anspannung derselben, von einem wirklichen Krampfe. Wir können einen ähnlichen Zustand bei einem Jeden hervorrufen, wenn wir die Kolben eines kräftig wirkenden Inductions-Apparates in seine Hände legen. So sehr er wünschen wird, die seine Arme in Krampfzustände versetzenden Kolben wegzulegen, so wenig wird er doch bei aller Willenskraft im Stande sein, die Finger zu öffnen und diese Folterwerkzeuge fallen zu lassen. Man kann sich eine ähnliche bewußte Ohnmacht bei einem im Starrkrampfe Daliegenden wohl denken, und wenn man den Romanschreibern glauben wollte, käme sie häufig vor, vertrauenswürdige Berichte der Art scheinen aber desto seltener zu sein, und wenn bei solchen Zuständen überhaupt ein Bewußtsein vorhanden ist, pflegt es ein traumhaftes zu sein. Man will ähnliche Zustände künstlich durch Genuß des indischen Hanfharzes (Haschisch), dessen sich Asiaten und Afrikaner als Berauschungsmittel an Stelle des Opiums bedienen, herbeigeführt haben, doch sind diese Angaben, ebenso wie das ganze Wesen dieser Krankheit, noch ziemlich dunkel.

Nach dem Gesagten ergiebt sich von selbst, daß die Todtenstarre eine ganz andere Erscheinung sein muß, als der Starrkrampf. Die Erstere tritt bekanntlich erst eine oder mehrere Stunden später als der Tod ein; das Sterben löst vielmehr die Glieder und Muskeln – krampfhafte Verzerrungen der Glieder und der Schmerzensausdruck im Antlitz eines unter schweren Leiden Dahingeschiedenen verschwinden, indem die Muskeln in die natürliche Lage des Schlafes zurücksinken, und wenn dann die Todtenstarre eintritt, so fixirt sie ein für die Angehörigen überaus tröstliches Bild der Ruhe und des Friedens. Sie wird durch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 724. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_724.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)