Seite:Die Gartenlaube (1878) 197.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

eine ungeheuere Kluft die berghohe, senkrechte Wand herab, und aus ihrem Grunde schießen brausend und donnernd die schaumweißen Gewässer der Großarl. Wir überschreiten eine Brücke und treten sodann in die Schlucht ein. Dieselbe ist so eng (etwa drei bis vier Meter breit) und die Wände sind so glatt und steil, daß man die Schwierigkeiten sieht, welche sich hier der Bahnung eines Weges entgegenstellten. Der Steig, im Durchschnitt etwa einen Meter breit und durchgängig mit Geländern versehen, zieht sich mit Benutzung jedes Vorsprunges vermittels zahlloser Brücken bald auf das rechte, bald auf das linke Ufer und steigt mitunter, dem Gefälle des Wassers entgegenstrebend, in Stufen empor.

Je tiefer wir in die grause Schlucht eindringen, desto enger und dunkler wird sie. Die Felswände treten oben perspectivisch fast zusammen und lassen nur einen schmalen Himmelsstreif erkennen. Die Gewässer, in zahllosen Fällen über Felsblöcke hinabstürzend, verursachen ein Getöse, ein Gebrause, das, von den Windungen und Krümmungen der Felswände hundertfach verstärkt zurückgeworfen, unaufhörlichem Donner zu vergleichen ist.

Bald erweitert sich auf einmal die bisher fast dunkle Schlucht zu einem Kessel, indem die senkrechten Wände sich schräg abdachen und etwas zurücktreten. Wir sehen wieder blauen Himmel, Sonnenschein und Pflanzengrün und das Wasserrauschen verliert den Donnerton. Die Kesselseite zu unserer Rechten ist mit Gebüsch und Alpenblumen bewachsen.

Aber bald schließt sich wieder die Schlucht, und die Felswände treten enger als je zusammen. Die Scenerie wird noch wilder, noch düsterer und schauriger als zuvor. Alles Leben ist wieder verschwunden; keine Blume, kein Pflänzchen, kein Sonnenschein, kein Himmel ist zu erblicken. Da ist nichts als Wasser und Felsen, als Donner und Brausen, als Nacht und Grauen. Das ist der Weg zur Unterwelt, verkörperte Dante’sche Phantasie.

So geht es eine Weile fort; dann biegt plötzlich der Steig um eine Felsecke und ist zu Ende. Uns aber bietet sich ein Schauspiel dar, so erhaben schön, so voller Pracht und Majestät, wie es sich großartiger selbst die kühnste Phantasie nicht vorzustellen vermag.

Vor uns die Ache, in wütenden Stürzen über fünfzig Meter hoch herabrollend und nach jedem Sprunge, wie betäubt von der Gewalt des ungeheuren Falles, einen Absatz, ein Becken mit horizontalen Niveau bildend, in dem es sich allmählich erholt, um daraus mit neuer Wuth, mit erneutem Ingrimme sich hinabzugießen, sodaß die zerstiebenden Wasser in Schaum und Gischt, in Dampf und Nebel aufwallen. Hunderte von Metern hoch bauen sich beiderseits daneben die starren, steilen Kalkfelsen auf. Hier ist die Herrschaft des Starren und des Flüssigen. Aber das Flüssige scheint mächtiger zu sein als das Starre, denn es hat seinen Charakter, seine Form dem Starren aufgedrückt. Wie versteinte Meereswellen, wie aufgerichtete Oceane sind sie anzuschauen, diese hohen, gigantischen Wände mit den kühn geschwungenen Erhabenheiten und Vertiefungen, wie Wellen, die, in stürmisch wallender Bewegung begriffen, auf das Geheiß einer naturgebietenden, wunderthätigen Macht plötzlich stillstanden und erstarrten.

Wie wir noch dastehen, in Anschauung und Bewunderung versunken, wird das Bild vor uns allmählich immer heller, leuchtender; die Wassergarben der Fälle erglänzen in blendendem Lichte, anfangs nur in ihren oberen Partien, dann aber immer tiefer herab, bis endlich die ganze tobende Wassermasse im intensivsten Weiß, im Glanze des flüssigsten Silbers erstrahlt. Es ist die Sonne, die diese Erscheinung hervorbringt. Für eine kurze Zeit, für nur eine halbe Stunde des Tages etwa, wirft sie, denn Culminationspunkt nahe, ihre Strahlen voll und blendend in diesen Theil der zickzackförmig sich windenden Schlucht.

Eine Viertelstunde des erhabensten und reinsten Naturgenusses, und wir waren wieder auf dem Rückwege. Etwa fünfzig Schritte weiter standen wir an der engsten, finstersten und unheimlichsten Stelle der ganzen Schlucht. Die Wände schließen sich, in der Höhe scheinbar zu einem Spitzbogengewölbe, und wie der Schlußstein zu einem Gewölbe hängt dort oben, von uns auf dem Hinwege unbemerkt, ein Stein, ein Felsblock, der höchstens zwei Cubikmeter stark sein mag, aber es schien uns, als halte er die beiden Wände auseinander, als müsse mit seiner Entfernung der ganze großartige Bau zusammenfallen. Er war wirklich unheimlich anzuschauen, dieser Stein, wie er so da hing, dem Anscheine nach ganz lose, nur an zwei Punkten wie von einer gigantischen Pincette festgehalten. Wenn er nun doch einmal hinabstürzte, die Wände vielleicht ihren Halt verlören, so – da auf einmal, was ist das? – ein Donnern, ein Getöse, wie wenn hundert Geschütze auf einmal ihren ehernen Mund öffneten, ein Gedonner, grauenvoll! Die Schallwellen umzitterten fühlbar den ganzen Körper, und an den Ohren gar vibrirte die Luft so heftig, als ob dort ein Nachtgespenst, ein Ungeheuer, ein Vampyr mit seinen Schwingen lächele. Hilf, Himmel! Was ist denn das? Sollte denn –? „Die Klamm stürzt ein,“ schreit auf einmal eine Stimme. Und wahrlich, was kann es denn Anderes sein? Alles zittert ja; Alles bebt. Dazu hören wir Felstrümmer fallen, von den Wänden abprallen, hin und wieder stürzen und in den Fluthen versinken.

Eilen wir! Vielleicht ist es noch Zeit, dem Verderben zu entrinnen. Vor uns ist der Weg ja noch frei. Und wir stürzen vorwärts, gleiten aus dem schlüpfrigen Wege dahin mit einer Hast und zugleich mit einer Sicherheit, die nur unsere blinde Furcht möglich machte. Da, indem wir in eine andere Schluchtwindung einbiegen, erblicken wir vor uns einen Mann in der kleidsamen Tracht der Bewohner dieser Gegend, der trotz des noch andauernden höllischen Getöses heiter und ruhig dasteht. Und wie er uns erblickt, umfliegt ein sarkastisches Lächeln seine Gesichtszüge und er spricht: „Fiarchten’s Iane net! Do is niks zu fiarchten – g’sprengt haben’s.“

Das also war’s: gespregt haben’s. Ein Sprengschuß hat uns so in die Flucht gejagt. Und wir schauen uns an, verdutzt, verlegen und beschämt zugleich, daß wir uns so leicht hatten in’s Bockshorn jagen lassen. Auf unseren Wunsch führt uns der Mann sodann zurück, an dem Glanzpunkte und Abschlusse unserer Wanderung vorüber, zu der in unmittelbarster Nähe gelegenen Sprengstelle, einem in Arbeit stehenden und schon etwa zehn Meter tief eingesprengten schmalen Tunnel von etwas über Manneshöhe, dessen Eingang hinter einem Vorsprunge der linkshändige Felswand wir früher in unserem Enthusiasmus völlig übersehen hatten. Und dann setzen wir uns mit den Sprengern, die sich während der Detonation ganz in der Nähe an geeigneten Orte gesichert hatten, vermittelst eines Trinkgeldes in’s Einvernehmen, und nicht lange haben wir zu warten, und es ertönt abermals der grause, nervenerschütternde, schlachtenlärmübertönende Donner, der uns aber diesmal nur das Gefühl höchsten Interesses abzugewinnen vermochte.

Ohne daß uns ein weiteres Begebniß aufgestoßen wäre, verließen wir sodann die Klammen und trafen, begeistert von den empfangenen Eindrücken, nach mehrstündiger Abwesenheit wieder in St. Johann ein, von wo wir noch an demselben Tage unser vorläufiges gemeinsames Reiseziel, das herrliche gebirgsumschlossene Zell am See, erreichten.

Hiermit könnte ich eigentlich schließen, wenn ich mich nicht zu einem Nachtrage verpflichtet glaubte.

Das Wasser spielt, wie die Geologie lehrt, nicht nur als chemische, sondern auch ganz besonders als mechanisch wirkende Kraft eine bedeutende Rolle bei der dauernden Umgestaltung der Erdoberfläche, so ganz vorzüglich auch bei der Thalbildung. Ja, es läßt sich behaupten, daß, während allerdings ein nicht unbedeutender Theil der Thäler mit dem umgebenden Gebirge ursprünglich zugleich entstand und erst später durch die Einwirkung des Wassers wesentlich erweitert und umgestaltet wurde, ein anderer nicht minder großer Theil nur durch Auswaschung (Erosion) allein gebildet wurde. Diese letztere sind die eigentlichen, sogenannten Erosionsthäler. Allseitig und erschöpfend auf den interessanten Thalbildungsproceß einzugehen, kann wohl nicht die Aufgabe dieser Zeilen sein, aber es ist für das Verständniß der Klammbildung nothwendig, auch die Entstehung, beziehungsweise Fortbildung der Thäler wenigstens in großen Zügen anzudeuten.

Im Allgemeinen beginnt jeder Thalbildungsproceß damit, daß das von atmosphärischen Niederschlägen herrührende Wasser, dem Gesetze der Schwere gehorchend, auf dem mehr oder weniger geneigten Boden eines Berghanges den zufällig vorhandenen, vielleicht kaum bemerkbaren, rinnenartigen Vertiefungen folgt, und später, wenn bei andauernder Neigung einzelne Rinnen sich

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_197.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)