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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

so schimpflichen als verderbliche Nachäfferei zu steuern und einem natürlichen Aufkeimen nationaler Selbstständigkeit die Bahn frei zu machen, mußte vor Allem der fremde Dichtergötze auf deutschem Boden gestürzt werden. Diese nothwendige Rettungsaufgabe hat Lessing vollführt, und es war das eine seiner größte Reformthaten. Die hierauf folgenden Jahrzehnte haben sodann bei uns ganz andere und viel richtigere und tiefere Erkenntnisse von dem Wesen echter Poesie zur Geltung gebracht durch neu erblühte Schöpfungen deutschen Geistes, vor denen der dichterische Glanz Voltaire’s und seiner Landsleute schnell erbleichen mußte. Zugleich aber führte dieser ganze Verlauf auch zu einer einseitigen Geringschätzung der poetischen Gestaltungen Voltaire’s und zu einer Voreingenommenheit wider dieselben, die sich vor dem unparteiischen Wahrheitsgefühl unserer Tage nicht rechtfertigen läßt.

Auch von der wissenschaftlichen Thätigkeit Voltaire’s, von der Methode seiner Forschung, dem Gesichtskreise seines Wissens läßt sich sagen, daß dies Alles von den Fortschritten und Entdeckungen unserer Jetztzeit überholt ist. Namentlich hat sich unsere ganze Stellung zur Vergangenheit, unsere Kenntniß und Betrachtung der Menschheits- und Völkergeschichte unendlich erweitert und zugleich vertieft. Voltaire zeigt in seinen Leistungen als Geschichtsschreiber allerdings schon große Züge, merkwürdige Einblicke und Ahnungen, die eine glänzende Zukunft dieser Forschungen ankündigen, aber er kennt jenes in der Folge der Zeiten sich offenbarende Gesetz der geschichtlichen Entwickelung noch nicht, das für uns eine so mächtige Grundlage geworden zum Verständniß unserer Gegenwart. Nach diesen Seiten hin haben seine Bücher für uns nur noch die Bedeutung einer wichtigen und hochinteressanten, aber bereits hinter uns liegenden Etappe auf dem stufenmäßigen Befreiungsgange der wissenschaftlichen Forschung.

Was wir hier in Betracht ziehen wollen, das ist die in ihrer Energie und in ihrem Erfolge fast einzig dastehende Arbeit des Mannes für die Culturentwickelung der Menschheit auf socialem Gebiete. Wer Voltaire’s Bedeutung in dieser Hinsicht verstehen will, der muß eine deutliche Vorstellung von dem Charakter des Zeitalters haben, aus dem er hervorgegangen ist und auf das er zunächst eingewirkt hat. Es war das Zeitalter des höchsten Glanzes fürstlicher Machtvollkommenheit und einer so gewaltthätigen Herabtretung und Erniedrigung der Völker, daß die Menschen unserer Gegenwart sich kaum noch in diese Lage ihrer Vorfahren versetzen können. Unter dem gänzlich ungezügelten Willen der obersten Machthaber und unter den Füßen der bevorrechteten Kasten, welche um ihre Throne sich schaarten, seufzten zitternd und fast rechtlos die ungeheueren Massen der übrigen Bevölkerungen, die fleißigen Betreiber des Gewerbes und Handels, des Handwerkes und Ackerbaues, welche im Staate und in der Gesellschaft nichts waren als verachtete Gegenstände der Aussaugung und Mißhandlung von Seiten der herrschenden Personen und Stände. Und dies Alles war nicht blos da wie ein Uebel und eine böse Fügung des Geschickes, es galt noch obendrein als die beste, von „Gott“ so und nicht anders gewollte Ordnung der Dinge, es wurde von der ausschließlich im Dienste der Throne arbeitenden Wissenschaft, Dichtung und Kunst als die oberste Quelle aller staatsrechtlichen Grundsätze verkündet, vor Allem aber von der bestehenden Kirche bestätigt, durch die geltende Religion geheiligt, durch den Mund der Priester als unwidersprechlich gelehrt und gesegnet. Nichts war natürlicher, als daß unter der Gewalt dieses durch keine Gegenmacht eingeschränkten und täglich sich steigernden Druckes, unter dem Einflusse einer solchen Erziehung und unablässigen Dressur zu gehorsamer Unterwürfigkeit die große Menge des Volkes alle Kraft selbstständigen Denkens und Urtheilens, den Muth des Widerspruches und Widerstandes gegen das Unerhörteste verloren hatte. In dumpfer und regungsloser Ergebung, unwissend, abergläubisch und bigot, küßten sie die Ruthe ihrer als Gottgesandte sich aufspielenden Peiniger. Und zu den politischen und finanziellen Bedrückungen ohne Gleichen kamen fast aller Orten auch noch die kirchliche, die fortwährenden Kriege eines mit hoher Macht ausgerüsteten Pfaffenthums gegen jedes schüchterne Hervorwagen eines freien Gedankens, diese grausamen Verfolgungen anderen Glaubens, welche z. B. durch die abscheuliche Widerrufung des Edictes von Nantes nicht weniger als fünfhunderttausend friedliche, gewerbfleißige und wohlhabende Protestanten aus Frankreich trieben. Einer sicheren Berechnung zufolge belief sich im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts die Zahl der Mönche und Nonnen in Frankreich allein auf etwa neunzigtausend, und dazu kamen noch zweihundertfünfzigtausend Weltgeistliche!

Denkt man sich alle diese Zustände ohne jede Besserung verewigt, so hätte ein vollständiger Untergang der europäischen Menschheit die Folge sein müssen. Aber die Rettung kam, und sie kam aus dem erwachenden Denken, als schon in den letzten Tagen des vierzehnten Ludwig das künstliche Gebäude des Despotismus in sich selber zu wanken begann. Seine schwächer gestellten Nachfolger mußten die Zügel lockern und auch durch Förderung des Gewerbfleißes die versagenden Erpressungsquellen für ihren ungeheuren Geldbedarf zu stärken suchen. Dadurch kamen die arbeitenden Leute zu Wohlstand und Selbstgefühl. Noch ein kurzes Weilchen, und inmitten der Gesellschaft hatte sich ein neuer, der sogenannte dritte Stand herausgebildet, das erstarkte Bürgerthum, in dem sich eine reinere, von der oberen Fäulniß noch nicht angefressene Sittlichkeit mit tieferer Intelligenz, mit einem leidenschaftlichen Durste nach Wahrheit und nach ihrer muthigen Bezeugung verband.

Es wäre seltsam gewesen, wenn der jugendkräftige Trieb und Drang einer so gewaltig dem innersten Kern der Nation entsprießenden Bewegung für ihre frisch herausstrahlende Gedanken nicht auch den ihr entsprechenden literarischen Ausdruck gefunden hätte. Der große Aufschwung der Literatur und Dichtung in der Glanzepoche Ludwig’s des Vierzehnten hatte nur im Dienste des Thrones und für seine Verherrlichung gearbeitet. Jetzt traten mit einem Male Schriftsteller hervor, die auf die Nation sich stützen und den Volksgeist durch den Ruf der Freiheit und den Angriff aus die herrschenden Mißbräuche aus seinem Schlummer rütteln wollten. Paris wurde der Brennpunkt eines noch still glimmenden aber mächtig um sich greifenden Seelenfeuers. Aus den Schriften und Büchern, die hier in den einsamen Werkstätten unabhängiger Denker geschaffen wurden, sprach zündend und erweckend ein neuer Geist scharfer und kühner Prüfung, der auf die letzten Gründe der bestehenden Dinge zurückging und sie um ihren Rechtstitel, ihre Existenz zu fragen begann. Es bildeten sich gesellschaftliche Kreise, Schulen von Philosophen und Dichtern, in denen der neue Geist eifrig gepflegt, gespornt und befruchtet wurde. Noch entfaltete der herabdrückende Despotismus ungebrochen seine volle Geltung, aber er sah sich bereits zu einem Vertheidigungskampfe herausgefordert gegen eine ihm feindliche Umwälzung, die unfaßbar war, da sie im Innern der Gemüther, in der Denkweise, den Gewohnheiten und Sitte der Menschen unaufhaltsam sich vollzog. Noch umgaben schwarze Wolken und unbezwingliche Mauern den ganzen Lebenshorizont, aber aus dieser Nacht des Wahns und der Knechtung brachen schon Streifen glänzenden Morgenlichts hervor und verkündeten einen neuen Tag des Völkerlebens, die Aera der Erlösungsarbeit, in der wir noch jetzt begriffen sind. Einer der ersten Entzünder aber und der unermüdlichste Schürer dieser weltumwälzenden Flamme ist Voltaire gewesen.

Als er geboren wurde (am 21. November 1694), war die Sonne Ludwig’s des Vierzehnten schon tief unter ihre Mittagshöhe gesunken und der heranwachsende Knabe war noch Zeuge der Verstimmungen, welche aus der sogenannten großen Regierung dieses glänzenden Despoten sich ergeben hatte. Sein reiferes Jünglingsalter verlebte er in der wüsten Taumelzeit der ausschweifenden Regentschaft, und es können die schwer auf dem Lande lastenden Bedrückungen dem Auge des lebhaften jungen Mannes nicht entgangen sein. Schon aus der Jesuitenschule, wo er erzogen wurde, prophezeite ihm einer seiner Lehrer, daß er einst zu den Feinden des wahren Glaubens gehören werde. Von einem Einfluß der Eltern auf seine Erziehung ist wenig bekannt. Sein Vater, der Notar und spätere königliche Schatzmeister Arouet – den Name Voltaire hat sich der Sohn erst später beigelegt – war bürgerlichen Standes, die Mutter dagegen aus einem adeligen Geschlecht. Durch seinen Taufpathen, den galanten und leichtlebigen Abbé von Châteauneuf[WS 1], wurde der junge Mensch frühe in die Salons und Zusammenkünfte der hocharistokratischen Gesellschaft geführt, wo die schlüpfrige Satire, die pikante und elegante Frivolität das Parfüm der Unterhaltung bildete. In täglichen Verkehr mit Grafen und Baronen nahm er hier die Neigungen und Meinungen der aristokratischen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Chauteauneuf
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_360.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)