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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


aber wie ich an’s Haus kam, war Alles still und erst nach langem Klopfen und Poltern sah die steinalte halbblöde Großmutter des Burschen zum Fenster heraus. Ich brauchte den Vorwand, ich sei von einem plötzlichen Unwohlsein befallen worden, wofür sie mir aushelfen solle mit einem Gläschen von dem Kräuterschnaps, den sie brennt; die Alte ließ mich auch unbedenklich ein, und während ich das Gesöff hinunterwürgte, lugte ich im Zimmer herum – da lag der Hallunke ganz gemüthlich im Bett und schnarchte und ward erst wach, als die Alte Feuer anschlug. Nebenan auf dem Stuhl und unter demselben aber lagen seine Kleider und Stiefeln, beide fadentrocken und nirgends eine Spur des nächtlichen Bades.“

„Und wer ist dieser Ausbund von Kraft und Verschlagenheit?“ fragte der Fremde. „Das ist ja eine Figur, wie man sie sonst nur in den Räuber- und Schelmen-Romanen zu finden gewohnt ist; man wird beinahe neugierig, einen solchen Menschen zu sehen.“

„Das Vergnügen können Sie bald haben,“ sagte der Grenzer. „Sie dürfen nur, was Sie wohl ohnehin thun werden, in die Komödie gehen; da spielt er den bösen Golo, zu dem er auch ganz gut taugt, denn er ist sonst ein gewandter und anstelliger Bursche und hat die rothe Perrücke, die sonst die Bösewichter in der Komödie aufsetzen, schon auf die Welt mitgebracht. Er und seine Mutter haben eine einschichtige schlechte Hütte unten in der Au; sie brennt Schnaps, und er geht in die Bauernarbeit, bei der er aber nirgends lang aushält, weil er zu unbotmäßig und verwegen ist. Sie haben doch im Vorübergehen über’m Inn das Schloß und den Römerthurm von Neubeuern liegen sehen? Da geht eine fliegende Brücke über den Fluß; auf jedem Ufer ist ein hohes Balkengestell aufgerichtet und zwischen beiden ein starkes Schiffsseil gespannt, an welchem eine bewegliche Rolle mit einem Haken hin- und herläuft. Von dem Haken hängt wieder ein Seil herab, das an eine starke Plätte angemacht ist, aus der man bei Tag überfahren kann – bei Nacht ist die Plätte ausgehängt. Da können Sie nun die Verwegenheit des Schnapsbrenner-Gori sehen – so heißt man ihn, wenn er’s auch nicht gern hört. Einmal war er hinüber gegangen in’s Kaiserliche – am Abend aber war Tanzmusik bei uns – er hatte damals einen Schatz, der inzwischen gestorben ist, mit dem er aber gar zu gern getanzt hätte und dem er versprochen hat, daß er den ersten Umgang mit ihr machen wollt’. Er hat sich aber zu lang drüben verhalten im Kaiserlichen, und wie er an’s Gestad gekommen ist, war schon Gebetläuten vorbei; da geht die Fähre nicht mehr; der Schiffmann war schon fort, und eine andere Zillen zum Ueberfahren auch nicht zu haben. Was thut der Gori? Er besinnt sich nicht lang; wie eine Katze klettert er an dem Gerüstbaum hinauf, faßt das Seil und handelt sich so kirchthurmhoch über dem wilden Wasser an dem Seil an’s andere Gestad hinüber und kommt richtig noch gerade an, wie sich die Paare aufstellen zum ersten Landler.“

„In der That ein kühnes Bravourstückchen, worin der Bursche wohl nicht so leicht einen Nachahmer finden dürfte!“ bemerkte der Fremde und wendete sich dem alten Jäger zu, der kopfnickend die Erzählung mit angehört. „Wenn in der Bevölkerung der Gegend so abenteuerliche Gestalten vorkommen, wird es wohl auch in Ihrem Bereiche nicht an Störungen fehlen – Waldfrevler und Wildschützen werden Ihnen weidlich zu schaffen machen.“

„Da haben Sie Recht, Herr!“ antwortete der Jäger mit bitterem Lachen. „Wenn Sie gern solche Geschichten hören, könnt’ ich Ihnen bis auf den Thomastag forterzählen, ohne daß mir das Trumm ausging. Wilddiebe hat’s alleweil gegeben – ich bin jetzt in die vierzig Jahr’ hier in dem Revier und hab’ manchen Strauß mit solchen Hallunken gehabt, aber wie es jetzt zugeht, das geht über die Möglichkeit hinaus. Seit die Jagd frei ist, läuft jeder Bauernlümmel hinaus mit seinem Schießprügel und schießt das liebe Wildpret zusammen, das wir so lang gehegt und gepflegt haben wie unsere Kinder. Und wenn sie nur noch ’was davon verstünden! Wenn sie nur wenigstens ’was davon hätten! Aber sie schießen ja nur, damit es kracht … ist noch so lang nicht her, daß ich eine trächtige Rehgais gefunden habe, die solch ein elender Kerl niedergebrannt hat – Weiß Gott – wenn ich einen solchen Mörder thät erwischen, ich kehrt’ ihm den Hirschfänger dreimal im Leibe um, und wenn man mir den Kopf dafür herunter hauen thät. Aber ich mag nichts mehr hören von denen Sachen – geschweige erzählen – ich hab’ mich schon entschlossen; ich thu’ nimmer mit. In sechs Wochen hab’ ich den Siebenziger auf dem Buckel, da mach’ ich meine Eingab’ in die Regierung und geh’ in die Ruh’ – einen Denkzettel, daß ich einmal ein Jäger gewesen bin, nehm’ ich ja doch auch mit fort.“

„Einen Denkzettel? Wie so das?“

„Wie so? Der Denkzettel ist die Kugel von einem Wildschützen, die mich da am linken Arme getroffen hat, daß man ihn bei einem Haar hätt’ wegschneiden müssen … es ist aber doch besser ’gangen, die Kugel hab’ ich da an mein Uhrgehäng’ hin gemacht, und die Narben im Arme ersparen mir den Barometer. Es war eine merkwürdige Geschicht’,“ fuhr er auflachend fort, „auf Michaeli wird sich’s gerad’ jähren, und weil Sie so was gern hören, will ich’s Ihnen erzählen – ich hab’ just noch ein Viertelstündchen Zeit.“

(Fortsetzung folgt.)



Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte.
2. Jean Jacques Rousseau.

Nachdem wir in dem Jubiläumsartikel „Voltaire“ des Alten von Ferney ehrend gedacht, darf auch der Säculartag eines zweiten großen Schriftstellers, der zu den Zierden der französischen Literatur gehört, hier nicht unbeachtet gelassen werden, derjenige Rousseau’s. Welchen bedeutenden Einfluß Rousseau auf unsere Classiker ausgeübt, beweist Schiller’s Jugendgedicht in der „Anthologie“, welches mit zweien seiner besten Strophen auch in die Gesammtausgaben der Schiller’schen Werke übergegangen ist. Wer so begeisternd auf einen großen Dichter unserer Nation einwirkte, der hat ein Recht darauf, von dieser nicht vergessen zu werden, und wie vieles hat der Einsiedler von Montmorency einem Marquis Posa soufflirt!

Der Säculartag Rousseau’s ist der Todestag des Denkers, und er fällt in dasselbe Jahr mit dem Tode Voltaire’s. Beide großen Geister, so verwandt in der Hauptrichtung ihres Strebens, trotz des schroffen Gegensatzes ihrer Charaktere, sind das unsterbliche Dioskurenpaar der französischen Literatur; freilich nicht wie Schiller und Goethe sympathisch verbunden, nicht wie diese classische Meisterwerke schaffend, aber beide gleichmäßig Saaten des Gedankens ausstreuend, welche auf dem Boden der Geschichte zu weltbewegenden Thaten reifen sollten.

Wenn irgend einer, so zeigt uns Rousseau die Macht des Gedankens, der aus dem Dunkel eines unscheinbaren Lebens heraus ein ganzes Jahrhundert erleuchtet. Dieser dürftige Sonderling, dieser arme Notenschreiber mit seiner anscheinend verfehlten Existenz, dieser von vielen Verständigen bemitleidete, an den Grenzen des Wahnsinns umherstreifende Schwärmer hatte jene Eingebungen des Genius, welche das ganze Staatsrecht der Vergangenheit über den Haufen warfen und dem Leben der Menschen neue Bahnen vorzeichneten. Diese gleichsam in einem Winkel kauernde Gestalt, mit der Noth des Daseins ringend, in die Lumpen der Armuth gehüllt, machtlos im äußern Leben, wurde das Ideal der Machthaber, die einer Nation das Gesetz dictirten; der stille Pflanzensammler, der Blumen für sein Herbarium suchte, welche das Leben ihm nicht auf den Weg gestreut, wurde der Vorgänger der blutigen Gewaltmänner, welche mit dem Messer der Guillotine alle diejenigen aus dem Wege räumten, welche nicht glauben wollten an das Evangelium der Menschenrechte, das er verkündigt hatte.

Welch ein düsteres, nur selten von flüchtigen Glanze erhelltes Lebensbild entrollt sich vor uns, wenn wir den Bürger von Genf von der Wiege bis zum Grabe begleiten! In der Vaterstadt Calvin’s wurde Rousseau am 28. Juni 1712 geboren; seine Mutter starb bei seiner Geburt; der Vater, ein schlichter Uhrmacher, doch nicht ohne Bildung und Verständnis und Sinn für höhere Interessen, leitete anfangs seine Erziehung. Kaum konnte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_440.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)