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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

in den fünfziger Jahren ein vergrößerter, den Anforderungen der Neuzeit entsprechender Kunsttempel erbaut – ihre frühere Bedeutung errang die Mannheimer Bühne nicht wieder. Einen merkbaren Aufschwung nahm die alte, ehrwürdige Anstalt, als sie ganz in die Hände der städtischen Verwaltung überging und unter staatlicher Oberhoheit eine einsichtsvolle artistische und geschäftliche Leitung erhielt, und den Rang einer der besten deutschen Bühnen behauptet sie auch heute noch.

Es hatte etwas Rührendes, bei der vergangenen Säecularfeier in der festlich bekränzten Stadt all die verschiedenen zahllosen Erinnerungszeichen an die Glanzperiode der Anstalt zu betrachten, womit pietätvolle und industrielle Hände die öffentlichen Schaufenster und Locale geschmückt hatten. Alte, verschimmelte Theaterzeitungen und Autographen, buntcolorirte Kupferstiche von Iffland, Beil und Beck in ihren damaligen Glanzrollen, uralte Wochenschriften und Theaterzettel, Almanache und Abbildungen des alten Schauspielhauses und der Beschießung Mannheims im Jahre 1792 – man hätte eine ganze Raritätensammlung daraus herstellen können. Und der Enthusiasmus, den das Mannheimer Publicum gelegentlich des Festes für seine Bühne zeigte, mahnte nicht minder an deren glänzendste Zeit. Von der Aufführung des „Fidelio“ und den historischen Reminiscenzdarstellungen des „Geschwind, eh’ es Jemand erfährt“, der Schiller’schen „Räuber“ und Iffland’schen „Jäger“ bis zu den Decorationsdramen der Wagner’schen Nibelungen, vom ersten Rede-Actus der Vorfeier bis zum letzten isolirtesten Privatbanket der Nachfeier äußerte sich die Theilnahme in frischester, wohlthuendster Weise.

„Wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben“ – rief Schiller im Jahre 1784 – „so würden wir auch eine Nation.“ Wir sind eine Nation geworden auch ohne eine Nationalbühne. Wollen wir aber eine Nation bleiben und als solche zu immer tieferer Kräftigung, Veredelung und Selbstbefreiung emporsteigen, dann möge sich unsere vollste Theilnahme wieder unseren nationalen Bühnen zuwenden! Alsdann werden dem Verständniß unserer Dichterheroen immer weitere Canäle gegraben und wird dem deutschen Herzen die Naivetät der Empfindung zurückgewonnen werden, welche eine beifallbuhlende, effecthaschende Afterkunst schwächte und zurückdrängte.




Blätter und Blüthen.

Eine industrielle Verleumdung. Wir erzählen unseren Lesern eine Thatsache, die, weil sie durch eine Menge Blätter gegangen, Vielen nicht neu, in ihrem Ausgange aber vielleicht doch nicht Wenigen unbekannt und deshalb noch immer geeignet ist, einen deutschen Industriezweig, der bis jetzt die Concurrenz des Auslandes siegreich bestanden, durch heimische Thorheit oder Niederträchtigkeit zu ruiniren.

Vor fünf Jahren suchte die „Gartenlaube“ (Jahrgang 1874, S. 377) das damals in Deutschland die durch ihre treffliche Modellirung besonders ausgezeichneten Waaren der Papierwäschefabrik von Mey und Edlich zu Plagwitz-Leipzig, die schon damals durch ihre großartige Production als die erste Deutschlands dastand; ein Nachtrag dazu erkannte auch die Firma A. und C. Kaufmann in Berlin als eine um diese Branche sehr verdiente an.

Seitdem hat dieser Fabrikationszweig sich auf eine Höhe emporgeschwungen, die längst den Neid Englands und Amerikas herausforderte; nur der Uebermacht und dem Weltruf des Plagwitz-Leipziger Etablissements verdankte es Deutschland, daß dieses Gebiet uns ungefährdet blieb.

Da veröffentlicht ein deutsches Blatt, die „Coblenzer Zeitung“, am 22. August die Warnung, es sei in mehreren Stücken Leipziger Papierwäsche bei einer von der Medicinalpolizei in Coblenz angeordneten chemischen Untersuchung Arsenik gefunden worden, und sofort beeilt sich die Firma A. und C. Kaufmann in Berlin, ein Circular zu erlassen mit der ausdrücklichen Angabe:

„Die Medicinalpolizei in Coblenz fand sich dieser Tage veranlaßt, eine Anzahl papierner Kragen und Manchetten aus einer großen Leipziger Fabrik chemisch untersuchen zu lassen. Das Ergebniß lautete dahin, daß diese beliebten Wäsche-Artikel einen starken Zusatz von Arsenik enthielten –“

und preist ihr eigenes Fabrikat als frei von allen gesundheitsnachtheiligen Bestandtheilen an.

So läuft diese Nachricht, einem Flugfeuer gleich, von einer Zeitung zur andern und wird mit besonderem Eifer auch von englischen, norwegischen und holländischen Zeitungen in alle Welt verbreitet. Und doch erwies schon nach wenigen Tagen sich Alles als Lüge. Die höchste Behörde zu Coblenz erließ selbst Folgendes zur Aufklärung des Falles:

„Auf die (von der Firma Mey u. Edlich) an das hiesige königliche Medicinal-Collegium gerichtete, an uns zum ressortmäßigen Befinden abgegebene Vorstellung vom 30. vorigen Monats, betreffend die in Coblenz stattgefundene Analyse von Papierwäsche, erwidern wir Euer Wohlgeboren, daß man bei der – nicht in Folge unserer Anordnung oder Anregung vorgenommenen – chemischen Untersuchung von Papierkragen in einer hiesigen Officin in einem Kragen das Vorhandensein von Arsenik zu erkennen glaubte. Eine nochmalige näher eingehende Untersuchung stellte indessen die vollständige Grundlosigkeit dieser Annahme unzweifelhaft heraus. Wir bedauern, daß durch Mittheilung des Resultates jener ersten Untersuchung seitens Unberufener an die Presse die unbegründete Nachricht von dem Vorkommen arsenikhaltiger Papierwäsche in hiesiger Stadt durch Aufnahme in mehrere Zeitungen Verbreitung gefunden hat. Coblenz, 13. September. Königl. Regierung, Abtheilung des Innern. von Laski.“

Die „Coblenzer Zeitung“, welche am 30. August einen neuen Verdächtigungsversuch gemacht, indem sie berichtet hatte, daß „die Sache zur criminellen Verfolgung“ überwiesen sei, mußte sich schließlich zum Widerruf ihrer falschen Angaben bequemen, dem man indeß, nach obigem Regierungs-Zeugniß, keinen Werth mehr beilegen kann.

Beachtenswerther sind die zahlreichen Gutachten gerichtlich vereideter Chemiker, namentlich von Dr. Pabst in Stettin, Dr. Kratschmer in Wien, Dr. Ulex in Hamburg, Dr. M. Müller in Braunschweig, Dr. R. König, Dr. O. Bach und Professor Dr. Reclam in Leipzig, ferner von Dr. Arthur Hill Hasall und Otto Henner in London, welche sämmtlich, nach strengster Untersuchung der Leipziger Papierwäsche auf Arsenik, „nicht eine Spur dieses Giftes, noch irgend eine Substanz, welche der Gesundheit nachtheilig sein könnte“, gefunden haben. Ebenso beachtenswerth sind die Aussprüche von Fachblättern, wie namentlich dem „Süddeutschen Bank- und Handelsblatt“ in München und dem „Centralblatt für die deutsche Papierfabrikation“ in Dresden. Beide deuten aus die Möglichkeit „schmutziger Concurrenz-Manöver“ hin, und letzteres empfiehlt strenge Untersuchung gegen den schuldigen Chemiker. Mögen sämmtliche deutsche Papierwäsche-Fabrikanten bedenken, daß mit der Schädigung von „Mey und Edlich“ auch ihnen das Messer an die Kehle gesetzt würde, denn die ausländische Concurrenz lauert an allen Thoren und würde den Markt der Leipziger Firma überschwemmen, ehe sie selber ihn besetzt haben. Daß der „industrielle Patriotismus“ in Deutschland noch keinerlei Sicherheit gewährt, dafür spricht erschreckend deutlich die Möglichkeit der vorliegenden „industriellen Verleumdung“.




Klosterzelle und Gedankenhelle. Etwas für das Reformationsfest. (Vergl. die Illustrationen auf S. 740 und 741.) Drüben Mönche, die mit kurzsichtigen Gelehrtenaugen in alten Schmökern suchen, hüben die „deutsche Bestie mit den tiefen Augen und den wunderbaren Gedanken im Kopfe“, wie der päpstliche Gesandte einst gesagt: ein begeisterter Luther, die Bibel im Arm – das ist ein Contrast, wie er als Ausgangspunkt für Reformationsfest-Gedanken fruchtbarer nicht gedacht werden kann. Ist doch dieser Gegensatz mittelalterlich mönchischer Gelehrsamkeit und freier, begeisterter, persönlichster Forschung das, was recht eigentlich auf das Wesen der reformatorischen Bewegung führt.

Zwei Irrthümer erben sich in Bezug auf dasselbe durch die Schule wie ewige Krankheiten fort: die Meinung, daß die Reformation nur religiös-kirchliche Bedeutung habe, und die andere, als habe sie in den evangelischen Bekenntnissen für alle Zeit ihr Ziel auf religiösem Gebiete erreicht.

Der Reformationsgeist ist, mit einem Worte erschöpfend charakterisirt, der Geist der Freiheit: der Gewissensfreiheit, der Denkfreiheit, der Freiheit der Forschung, der politischen Freiheit – kurz der Freiheit auf allen Gebieten, gegenüber der Gebundenheit des Mittelalters, von welcher jeder sich soweit frei machte, wie er die Macht dazu besaß. Die Mächtigen übten Willkür; die hohen Kirchenfürsten setzten sich lachend über Glauben und Moral hinweg – wer das nicht konnte, der mußte sein Joch tragen. Und am mächtigsten war die Kirche, am zwängendsten das kirchliche Joch, vor allem für das geistige Leben. Im ganzen Mittelalter galt der Grundsatz: alle Wissenschaft ist falsch, welche nicht zu der kirchlichen Lehre stimmt, ja ist verdammenswerthe, auszurottende Ketzerei.

Es ist kläglich zu beobachten, wie sich die Denker der Scholastik, der Philosophie jener Zeit, winden und drehen, um ihr besseres Wissen in unverfängliche Form zu kleiden oder aber sich in der Kirchenlehre zurecht zu denken, aus Furcht, dem Ketzergericht zu verfallen. Was Wunder, wenn die geistige Arbeit fast nichts als ein todtes Stöbern in alten Büchern, ein Zusammentragen von Citaten, ein Aufsammeln oft stupenden Wissenskrams, ein rabbinisches oder sophistisches Klügeln und Wortklauben war, eine Thätigkeit, deren Siegel den gelehrten Mönchen aus unserm Bilde so charakteristisch aufgeprägt ist.

Erst die Reformationszeit brachte jene leuchtenden tiefen, freien und beseelten Blicke an das Tageslicht, wie sie im Auge Luther’s auf dem zweiten unserer Bilder strahlen. Erst von da ab datirt das Recht des Menschen, nur dem Gotte in der eigenen Brust zu gehorchen, die Wahrheit auch zu denken und auszusprechen, welche im innersten Gefühl lebendig ist, und gerade dieses Recht ist es, welches, ob auch durch zeitweilige Irrthümer hindurch, allein den riesigen Erkenntnißfortschritt ermöglicht hat, auf den unsere Zeit stolz ist. Und wenn nach der Reformationszeit die Reformationskirchen noch einmal eine evangelische Scholastik begründet haben und die Heißsporne unter den jetzigen evangelischen Kirchenmännern die mühsame Compromißarbeit des evangelischen Dogmas als Grenze gesetzt wissen wollen für die Freiheit des Denkens, so ist das gegen den Geist der Reformation, der über sie hinwegschreiten wird, und wir haben ein Recht und werden es allezeit, trotz Verdammung und Verketzerung, gebrauchen, ihnen zuzurufen: Im Namen der Reformation – wir protestiren!




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_744.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)