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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


gegen 8000 Fischerbarken und zweimastige Küstenfahrer. In solchen Tagen scheint die Stadt von einer Legion von Riesenbajonnetten umschlossen zu sein.

Ein Besuch der nahen Murazzi wird mindestens den Leser nicht gereuen. Wir suchen sie bei Mondschein auf. Ein schweigsamer Chiozzot rudert uns hinüber nach Sottomarina, und wir beschreiten von hier die Riesenmauern. Das Meer liegt im ewigen Selbstgespräch und bricht sich plätschernd in den Hohlräumen der Schutzblöcke, die in barocker Unordnung den Fuß der Mauern bedecken. Auf der andern Seite liegt in stillem Frieden die Lagune; in unermeßlicher Tiefe ruht ein zweiter gestirnter Nachthimmel, der die Wölbung über uns zur Vollkugel gestaltet, und auf einem Silberstreif schlafen die stillen, schwimmenden Städte mit ihren seltsamen Contouren, die jede ein so vollkommenes Doppelbild geben, als hätte man sie auf einen ungeheueren venetianischen Spiegel hingestellt.

Setze dich hin auf die Murazzi, schließe die Augen eine Weile, suche dich auf einen Augenblick der Wirklichkeit zu entrücken, öffne sie dann wieder – und du hast eine völlig übersinnliche Landschaft vor dir.

Leider sind die Murazzi bei Sturm nicht zu begehen, es sei denn, daß man riskirt, wie ein Kork hinweggespült zu werden. Wie Sturmcolonnen läßt dann das Meer seine Wogen heranrollen, und wenn sie auch ohnmächtig an den Marmorblöcken zurückprallen, so schleudern sie doch in ihrem Grimm Springfluthen hinüber in die Lagune, die genügen würden, eine Fischerbarke mit einem Schlage zu füllen und in den Grund zu drücken.

Wenn man zur Winterszeit die Gassen von Chioggia betritt, könnte man des Glaubens werden, ein Bettelorden bevölkere die Stadt. Die Männer tragen lange, braune Kapuzinermäntel mit spitzer Kapuze und von unbeschreiblich grobem Gewebe. Im Sommer ersetzt den Mantel eine Jacke aus gleichem Stoffe und ebenfalls für Sturm und Regen mit Kapuze versehen. Die Chiozzotin kleidet sich in englischen Kattun. Eigenartig ist, daß sie die Schürze bei üblem Wetter an der Kehrseite anbringt; sie nimmt dieselbe über den Kopf empor und hat sich mit dieser einfachen Toilettenwandlung das Aussehen einer Nonne gegeben.

Verwittert und rauh, wie sein Kleid, sind auch die Gesichtszüge des Chiozzoten. Elf Monate im Jahre schwebt er in seiner Nußschale auf dem Wasser unter Gottes freiem Himmel, und die tausend Seestürme, die um seine Nase pfeifen, sind eben kein Conservirungsmittel für weiche, glatte Haut. Man sieht junge Männer und selbst halbwüchsige Burschen mit Wetterfalten, und die Greise zeigen ein Antlitz, in welchem jede Spur der indoeuropäischen Rasse in tiefen Falten begraben liegt; dazu kommt, daß einer auffällig großen Zahl dieser Veteranen des Meeres die Augen erloschen sind. Die Hornhaut ist bläulich-weiß geworden, wie trübes Milchglas. Solche Blinde beleben zu Dutzenden die Straßen und gehen mit aufgerichtetem Antlitz einem Schimmer nach, der durch die verwitterten Fenster ihres Geistes hereindringt.

Die Chiozzoten sind der Meinung, die scharfe Seeluft verzehre den Spiegel der Hornhaut, ein See-Officier dagegen wollte mich dahin aufklären, es komme vom Waschen im Meerwasser.

Bei all diesem wilden, verwahrlosten Aussehen hat der Chiozzot nichts vom Briganten an sich. Unter dem zottigen, dichten Stirnhaar blickt ein harmloses, gutmüthiges Auge hervor, und die völlig natürliche, affectfreie, selbstbewußte Haltung spricht ebenfalls von einem schlichten, redlichen Männerherzen. Vom lateinischen Typus, der dem Brigantenhaften so günstig liegt, haben sie fast nichts geerbt; sie erinnern mit ihrem sehnigen Körperbau und ihren derben Zügen eher an Nordländer; mindestens hat die bekannte italienische Grazie bei ihnen völlig Schiffbruch gelitten. Auch sind sie bei weitem nicht so lebhaft, wie ihre Stammesgenossen; man sagt, der Venetianer Schiffer braucht mehr Worte beim Löschen eines Weinfasses, als der Chiozzot beim Austrinken. Nur die Freude am Farbigen haben Beide gemein. Eine rothe Mütze, ein rothes Halstuch und im Nothfall nur eine rothe Tascheneinfassung am Mantel, das sind des Chiozzoten Ideale in Bezug auf Kleidung. Die Sandalen und die malerischen Bundschuhe hat er leider durch abscheuliche Holzpantoffeln ersetzt. Stiefel kennen die Fischer von Chioggia nicht. Einige von ihnen besitzen marineblaue Festgewänder, die einen traditionellen Zuschnitt haben; sie führen darin am Meeresstrand Tänze auf oder brilliren damit bei Ruderkämpfen. Das alte Venedig entsendete die costümirten Chiozzoten öfter zu den großen Genueser Seefestlichkeiten, und sie sollen stets mit hohen Ehren dort bestanden haben.

Graziöse Frauengestalten mit der venetianisch tiefen, träumerischen Augengluth hat die Stadt nicht aufzuweisen; das harte Gewerbe der Männer scheint auch auf die Frauen zurückzufallen.

Wie alle Naturkinder, sind auch die Chiozzoten religiös, aber sie sind dies nicht im kirchlichen Sinne. Ihr Gott ist jener Gott, der ihnen die Fische in's Netz treibt, günstigen Wind schickt, oder in Stürmen zu ihnen redet und ihre Nußschale tanzen läßt auf den Wogen der Adria; dabei sind sie sehr abergläubisch und mit allerhand Vorahnungen behaftet. Ihr Gewerbe gestattet keine bestimmte Zeiteintheilung für Schlafen und Wachen, und so sitzen sie meist bei nächtlicher Weile in ihren stets offenen Tavernen und erzählen sich mit tonloser Stimme die haarsträubendsten Geschichten aus der Geisterwelt. Dabei sind sie keineswegs durch Wein erhitzt; sie trinken meist nur Kaffee à Tasse 5 Centesimi (4 Pfg.). In ihren Köpfen leben alle die Meerungeheuer, die flüsternden und singenden Geister der Luft noch, die zum Theil Shakespeare aus italienischen Novellen in seine Dichtungen übertrug.

Die Geistlichkeit hat mit den Chiozzoten ein schweres Stück Arbeit; sie ist gezwungen, die volksthümlichste Sprache zu reden; sie muß selbst den Humor zu Hülfe nehmen, wenn sie diese schlichten Gemüther fesseln will. Die Männer wollen verteufelt wenig von dem Kirchengott wissen, der seine Sammelbecken hinter den Kirchthüren aufgepflanzt hat, und die Frauen und Kinder sind nur dann bei der Katechese festzuhalten, wenn der Geistliche sich in seiner Methode den Policinellovorstellungen nähert. Schulen kennt der Chiozzotenknabe nicht; mit sieben Jahren schon muß er mit hinaus auf die hohe See.

Auch in politischer Hinsicht hat sich das Völkchen keine Ideale gebildet. Die Regierung, die es am billigsten regiert, ist ihm die beste. Aus diesem Grunde sind die Oesterreicher mit ihrem für die Armen allerdings sehr günstigen Steuersystem in sehr gutem Andenken geblieben.

Trotz des gemessenen Wesens geräth doch zuweilen das südliche Blut in Wallungen, und Revolten entzünden sich dann rasch, wie schlagende Wetter. Im jüngsten Frühjahr erhob sich die ganze anwesende Fischerbevölkerung gegen die Stadthäupter, steinigte und vertrieb sie, und was war der Grund davon? – ein Polentakessel. Die Armuth der Chiozzoten gestattet nicht, daß sich jede Familie ein solches Kupfergefäß anschaffen könnte, in denen sie allwöchentlich die Polenta, ihre Hauptnahrung aus Mais und Oel, bereiten. Nun leben in der Stadt einige Kesselverleiherinnen, die für drei Centesimi je eine Polentabereitung ermöglichen. So war es gekommen, daß ein Steuereintreiber fälschlich seine Hand auf einen entliehenen Polentakessel gelegt hatte; die Verleiherin kommt dazu, erhebt ein echt italienisches Weibergeschrei; die anderen Weiber laufen herzu und schreien aus Leibeskräften mit; sie entreißen dem Auspfänder den Kessel und prügeln ihn weidlich durch; die Männer mischen sich ein, ziehen vor's Stadthaus, werfen die Fenster ein und verjagen die Häupter der Stadt. Den Schlußact inscenirten zwei Compagnien Militär aus Venedig, und die letzte Scene wird erst in zwei Jahren stattfinden können, wenn die dreißig Verurtheilten wieder auf freiem Fuße sind.

Standesunterschiede kennt der Chiozzot nicht; seine Bedürfnißlosigkeit macht ihn zum wahren Freiherrn; er würde in derselben Haltung, in der er die Riva degli Schiavoni zu Venedig auf- und abgeht, auch über den Marmor eines Königspalastes schreiten.

Die trauliche Häuslichkeit der Germanen ist dem Italiener überhaupt fremd, am allermeisten aber dem Chiozzoten. Die Wohnungen liegen in den beschriebenen engen Gassen; der elende Kamin wärmt nicht; das vergitterte Fenster leuchtet nicht; die dunklen Heiligenbilder machen die öden Wände nicht freundlicher. Das Kanapee, die Pritsche, die dem ärmsten deutschen Haushalt eine gewisse bärenhäutige Bequemlichkeit giebt, fehlt ganz; kein Kätzchen wärmt sich schnurrend die Pfoten; kein Hund träumt, angeregt durch die Ofenwärme, von Jagdabenteuern; kein flatternder Singvogel durchschmettert die graue Luft im grauen Raum; keine Schwarzwälder tickt in gemüthlicher Schläfrigkeit und hebt mühsam aus, um die Zeitenläufte kund zu geben – die einzigen Lichtblicke sind das stets blanke Kupfergeschirr überm Herd und der reiche Kindersegen auf dem Stubenflötz. Daß es den kleinen Nestlingen oft am Notdürftigsten gebricht, die Blöße zu decken,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_378.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)