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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Besonders groß im Scandalmachen ist der Journalist Paul de Cassagnac, ein gewandter Klopffechter mit Feder, Wort und Degen. Er hat eine unsagbar verächtliche Art, seine hohnvollen Reden mit einer Bewegung des rechten Armes zu begleiten, als wollte er jede Phrase, sobald sie gesprochen, wie eine Hand voll Koth der Linken entgegenschleudern. Ist er zu Ende, so stürmt er von der Bühne herunter, provocirt vielleicht zu alten Duellen noch ein neues, hält wohl auch zur Abwechslung den Ministern die Faust unter die Nase und organisirt ein bonapartistisches Concert, das in der Nachahmung von Katzen-, Esel- und Hundestimmen sowie in der geschickten Handhabung von Falzbeinen und Pultdeckeln eine seltene Virtuosität erreicht. Eine Zeitlang wurden solche Ruhestörungen von der reactionären Minorität systematisch und offenbar in der Absicht betrieben jede fruchtbringende Thätigkeit zu verhindern und die republikanische Kammer in der Achtung des Landes herabzusetzen. Man wußte sich jedoch durch parlamentarische Polizeiparagraphen zu helfen. Ein sogenanntes „Kleines Local“ wurde als Arrestzimmer eingerichtet und die unanständigsten Heulmeier, wie kürzlich der Pariser Abgeordnete Godelle, zeitweise ausgeschlossen. Seither wurde der „polnische Reichstag“ wenigstens zu einem französischen, aber auch das ist manchmal noch zu viel.

Derlei Vorgänge rauben natürlich dem monarchistischen Anhange die Achtung des Landes, deren die arg zersplitterte bonapartistische Partei, wo das Schisma in der Dynastie selbstverständlich nachwirken muß, am dringendsten bedarf. Hier wie dort fehlt es an einem unbestrittenen Haupte. Einige halten zu „Plonplon“, Andere zu seinem ältesten Sohne, und der Rest erkennt den Cardinal Lucian oder seinen Bruder, Prinzen Charles, als Chef der Familie an. Von den fünfzig Senatoren und neunzig Abgeordneten sind aber Baron Haußmann und Rouher die einzigen Autoritäten und auch die alten Nebenbuhler geblieben. Namentlich Letzterer, der ehemalige Vicekaiser, hat kürzlich wieder in seiner großen Rede zu Gunsten des Freihandels bewiesen, daß er im französischen Parlamente noch immer „der erste Tenor“ oder wenigstens einer der ersten ist. Da er jedoch mit dem Prinzen Jérome seit Jahrzehnten gründlich zerfallen ist und nur noch Bonapartismus ohne Bonaparte, das heißt mit Ausschluß aller dynastischen Fragen treibt, so entbehre seine Politik des Haltes, wie seine Beredsamkeit der Wirkung, obgleich er von dem talentvollen Jolibois, seinem ehemaligen Geheimagenten Gavini und den wilden Corsicanern Abbatucci, Casabianca, Cunéo d’Ornano und dem jüngst gemaßregelten Arrighi de Casanova Herzog von Padua secundirt wird.

Schlimmer steht es mit der Vertretung des Königthums, obgleich Orleanisten und Legitimisten jetzt brüderlich vereinigt scheinen. Eine rein ultramontane Fraction, welche die ausschließlichen Interessen des Papstthums vertritt, fehlt in der Kammer gänzlich, doch ist vor Kurzem der elsässische Preußenfeind Freppel, Bischof von Angers, gewählt worden, dessen bekanntes schroffes Wesen der jesuitischen Sache aber nur schaden dürfte.

Vorläufig liegt der Schwerpunkt der reactionären Opposition im Senate, und wenn dieser nicht ab und zu sein Vetorecht ausüben würde, so lägen die Geschicke Frankreichs ganz in der Hand der republikanischen Kammermehrheit, die ebenfalls in verschiedene Gruppen zerfällt. Die Staatsverwaltung wurde bisher aus dem liberal-conservativen Centrum gewählt, woraus hervorragende Talente wie der geschäftskundige Dufaure, der unzuverlässige Jules Simon, der ehemalige Orleanist Say, Léon Renaut, Cochery und Andere an’s Ruder gelangten. Jetzt hat sich das Uebergewicht mehr nach links und der größten Gruppe zugewendet, die man officiell den Opportunismus nennt, weil er jahrelang eine gemäßigte und schmiegsame Gelegenheitspolitik verfolgte. Ironisch heißt man sie auch die „Partei Gambetta“ und zwar mit vollkommenem Rechte; denn der Kammerpräsident steht rathend und befehlend hinter den Ministern und Deputirten. Die ganze jüngste Politik Frankreichs ist die Ausführung seines am 19. September 1878 in Romans aufgestellten Programms. Zuerst erfolgte die Reinigung der Armee und Verwaltung von allen der Republik feindlichen Elementen, was um so wichtiger ist, als noch vor Kurzem die Obercommandos und höchste Richterstellen im Besitze widerspenstiger Bonapartisten waren. Hierauf gewann man sich die Sympathie der Mittelclassen durch die Conversion der fünfprocentigen Rente, und endlich wurde der Kampf gegen die staatlich nicht anerkannten Congregationen und die Verpfaffung der Volksschule und Universität eröffnet. Kurz, Gambetta selbst inspirirt den gegenwärtigen Conseilpräsidenten de Freycinet – unter Napoleon dem Dritten officieller Candidat für den Gesetzgebenden Körper! – und namentlich den energischen Unterrichtsminister Ferry.

Jules Ferry ist ein breitschulteriger, muskulöser Sohn der Vogesen mit langer Schnüffelnase und sinnlich aufgeworfenen Lippen. Haar und Bart schillern schon in’s Graue. Verläßlicher als an dem nach französischer Advocatenart wegrasirten Schnurrbarte erkennt man den ehemaligen Sachwalter an seiner Beredsamkeit und seiner vom Talar herrührenden Gewohnheit, in der Hitze des Wortkampfes die Aermel zurückzustreichen. Leider hat er wenig echt parlamentarische Rednergabe, die zu erwärmen und zu überzeugen versteht; er plaidirt mit erstaunlicher Gewandtheit, aber er plaidirt eben nur. Es kommt ihm deshalb sehr zu Statten, daß er von dem kenntnißreichen Camille Sée, vom gelehrten Jesuitenfeinde Professor Paul Bert, vom buckligen Apostel der Ehescheidung Alfred Raquet, von Charles Floquet, dem heißblütigen Pyrenäer, der 1867 bei einem Besuche des Kaisers Alexander im Justizpalaste ein Hoch auf Polen ausbrachte, von dem Elsässer Dr. Bamberger, dem fleißigen Malézieux Dréo und den praktischen Geschäftsmännern Pascal Duprat und Allain-Targé besonders wirksam unterstützt wird.

Das bedachtsame liberal-conservative Centrum verhält sich freilich, zumal den anticlericalen Maßregeln gegenüber, auffallend kühl, wobei auch etwas persönliche Gereiztheit mit im Spiele sein mag, denn die sogenannten Centre-gauchers zählen mehrere republikanische Exminister, die wie Bardoux, Lepère und de Marcère gerade von der republikanischen Linken gestürzt worden sind. Eine Ausnahmestellung nimmt der hervorragende Journalist Emile de Girardin ein, der zum Dank für seine rücksichtslose Bekämpfung des 16. Mai-Attentats zum Pariser Abgeordneten an die Stelle Grévy’s gewählt wurde. Er ist mehr als ein Parteiführer; er ist eine Partei ganz allein für sich. Bald stimmt er mit der Rechten und bald mit der Linken, je nach seiner vielgestaltigen Ueberzeugung, die seit einiger Zeit wieder einmal stark in’s Monarchische sticht. Da ihm alles Rednertalent abgeht, so erscheint sein durchgeistigter Kopf mit den hermetisch verschlossenen, feinen Lippen, der Napoleonslocke tief in der Stirne und dem Zwicker sattelfest auf der Nase nur selten neben dem begeisternden Glase Zuckerwasser; seine einzige Tribüne ist sein Blatt „La France“, das er täglich mit seiner schneidigen und phrasenhaften Prosa versieht. Dieser „Wilde“, der aller Parteidisciplin spottet, dürfte wohl nicht wieder gewählt werden. Auch Gambetta’s Vertrauter und Reisegefährte vom Luftballon Spuller gehört als Redacteur der „République Française“ zur Journalistik. Blaue Augen und blonder Bart verrathen seine deutsche Abstammmung, die er freilich gerne verheimlichen möchte. Sein Vater war ein nach Frankreich ausgewanderter Schwarzwälder, und darum wird Gambetta’s Freund von den reactionären Blättern spöttisch nur „le Badois“, der Badenser, genannt.

Doch vom Generalstabe des Volkstribunen hat sich eine lärmvolle Republikanerpartei abgefedert, die nach ihrem Sitz in der Kammer die äußerste Linke geheißen wird. Wenn man nach echt französischer Manier die Vorbilder für die politischen Zwerge von heute in der große Revolution sucht, so vergleicht man die Männer vom linken Centrum gerne mit den gemäßigten Feuillants, die Opportunisten mit den Girondins und die Radicalen oder Unversöhnlichen mit den Jacobinern.

Aber auch die moderne Bergpartei hat mannigfaltige Gruppen. Raquet und Floquet konnten wir bereits mit Fug unter die Gambettisten zählen. Der Abgeordnete des Seinedepartements Barodet ist schon um eine Schattirung rother, und der dunkle Ehrenmann Bonnet-Duverdier ehemals Gemeinderathspräsident von Paris und in der Kammer zur Demission gezwungen, die er schamlos wieder zurückzog, von einer gar nicht zu beschreibenden Farbe. Die namhaftesten Verfechter der vollständigen Commune-Amnestirung waren der jüngere Raspail, Madier de Montjau und Edouard Lockroy, welcher Victor Hugo’s verwittwete Schwiegertochter geheirathet hat. Aber all diese Anhänger der Pöbelherrschaft zerfallen wieder in Radicale und Socialisten, deren grundverschiedenes Endziel aus einer Vergleichung ihrer beiden Führer am klarsten hervorgehen dürfte.

Das Haupt der Unversöhnlichen, Georges Clémenceau,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_567.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)