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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


zornigen Flusse der Rede seines Vaters das Thatsächliche, den eigentlichen Gegenstand, der seinen theuren „Governor“ so in Aufregung versetzte, herauszuhören. Der alte Herr hatte einen heftigen Streit mit dem „Känguruh“ Schallmeyer gehabt, und dieser Streit war ausgebrochen über einen giftgeschwollenen, empörenden, „diabolischen“ Artikel, den die „Rothe Flagge“, das Partei-Organ Schallmeyer’s, aus der Feder des unaussprechlich widrigen „kriechenden Gewürms“, genannt Dr. Milchsieber, gebracht, dieses Gesellen, bei dessen Anblick man die Schaukelnarkose, zu deutsch: Seekrankheit auf dem festen Land bekomme. In diesem in socialdemokratischer Kraftsprache abgefaßten Artikel war ein „altes Fossil von Republikaner“ abgezeichnet, das „mit verknöcherten Redensarten, die vor einem Vierteljahrhundert gegolten“, die Forderungen der unterdeß „herangewachsenen“ Generation abgespeist wissen wolle, und ein schönes Pröbchen sei, was „diese einst gefeierten Biedermänner“ für die großen Gedanken der folgerichtigen Menschheitsentwickelung geleistet haben würden, wenn sie damals an’s Ruder gelangt wären: die Geschicke der Völker wären der „engherzigsten Ochlokratenbande“ in die Hände gefallen, bis der dahinschreitende Fuß der Geschichte ihnen dann bald auf die Schädel getreten wäre. Dieser schönen socialdemokratischen Rede waren allerlei Winke hinzugefügt, die sich auf die Privatzwecke Lanken’s bei seinem Erscheinen in der alten Heimath bezogen und, natürlich in verhüllten Andeutungen, zwischen den Zeilen lese ließen, daß sich mit der antiken Römergesinnung solch eines Biedermannes recht gut die sehr moderne „Smartneß“ des „ausgepichtesten“ Yankee vertrage, wenn dieser mit aller Irokesenschlauheit auf die Jagd ausziehe, um sich irgend ein schönes Stück Wild, einen kostbaren Pelz oder auch – einen reichen Schwiegersohn zu erjagen. Solche Unternehmungen gewährten jedoch, so beliebt sie auch drüben sein möchten, hier zu Lande wenig Aussicht, auch wenn sich hochgestellte Leute von der Regierung bei dieser Jagdpartie als Treiber benutzen ließen; die Stimme der öffentlichen Empörung werde sich laut genug vernehmen lassen und durch ihre Warnungsrufe das Wild scheuchen.

Aurel las diese geschmackvolle Stilübung, die sein Vater aus der Tasche zog, betroffen durch, und während der alte Herr sich in einem zornigen Geschimpf dagegen erging, fragte er sich erstaunt, wer in aller Welt dem Verfasser die Winke habe geben können; es könne nur Einer gewesen sein, der Thatsachen kenne, die bis zur Stunde in der Stadt noch völlig unbekannt sein müßten.

„Hast Du denn keine Mittel, diesen boshaften Burschen hängen zu lassen? Bist Du Minister hier im Lande, um Dir gefallen lassen zu müssen, daß Dir solch eine Schlange ihr Gift in’s Gesicht spritzt? Sende den Menschen auf Eure Landesfestung in’s unterste Verließ, wo Molch und Unke hausen! Dahin gehört das Gewürm.“

„Das sagst Du, der Republikaner, der doch als das erste Grundrecht Deines Volksstaats die unbedingte Freiheit, alles drucken zu lassen, was Dir einfällt, verlangen wird? Der doch drüben an solche Ausübung des freien Meinungsrechtes gewöhnt sein muß – Du, Vater?“

„Nun, ja freilich – drüben!“

„Die Presse, aber Vater, ist, wie Du weißt gleich dem Speer des Achill. Was er verwundete, heilte er auch wieder. Man hat’s ja tausendmal gesagt. Du kannst nun die Probe machen, nun, wo Du selber verwundet bist, und darfst warten, bis sie kommt und Deine Wunde heilt. Ich hege freilich leise Zweifel daran. Dieser Artikel ist sehr verhängnißvoll. Wir sind darin zwar nicht genannt, aber so deutlich bezeichnet worden, als ob wir genannt wären. Es ist von vornherein die öffentliche Meinung dadurch wider uns gehetzt; sie wird uns unsere Aufgabe furchtbar erschweren – auch in einem Gerichtsstreite kann die öffentliche Meinung sich sehr unheilvoll geltend machen. Wer kann diesen Artikel inspirirt, wer dem Milchsieber die Thatsachen dazu an die Hand gegeben haben? Graf Gollheim steht im Rufe, Mittel kleinlicher Intrigue, bei denen er seine Unterbeamten benutzt, nicht zu verschmähen, aber er selbst ist ja erst am heutigen Tage von mir aufgeklärt und mit dem Schritte seines Sohnes bekannt gemacht worden. Es bleibt nichts Anderes übrig, als anzunehmen, daß Dein Freund Schallmeyer, dem Du in voreiligem Vertrauen Dein Herz erschlossen haben mußt, Indiscretionen beging.“

„Dem Känguruh – Du glaubst, ich habe dem Känguruh Eröffnungen gemacht? Bin wahrhaftig nicht thöricht genug dazu.“

„Dann muß er Dich und Lily in Euern Unterredungen umschlichen und behorcht haben.“

„Er? Eher wär’s denkbar von der alten falschen Katze, der grauen Nachteule –“

„Wer ist die Nachteule – man kommt bei Dir aus dem zoologische Garten nicht heraus.“

„Schallmeyer’s Beschließerin – sie ist immer da, wo man sie nicht vermuthet, wozu aber beide Menschen, er wie sie, die Verräther wider uns gespielt hätten, das ist völlig unerfindlich. Als unser Wirth hat Schallmeyer allen Grund, uns sich gewogen und freundlich gesinnt zu erhalten.“

„Das ist richtig,“ sagte Aurel, „es wäre sehr thöricht von ihm, wider seine Gäste zu intriguiren.“

„Das Haus verlassen werde ich jetzt jedenfalls,“ fiel Lanken ein; „ich habe es Lily bereits angekündigt, die freilich dagegen ist und sich dawider sträubt.“

„Auch nach diesem Artikel noch, der es doch nothwendig macht, daß Ihr Beide Euch Eurer bisherigen Umgebung entzieht?“

„Auch nach diesem Artikel noch – mit ihrer Grasmücken-Caprice. Was thut’s? Wir werden darauf weiter keine Rücksicht nehmen – ich habe ein anderes freundliches und weit besser gelegenes Quartier schon ermittelt, ein Hotel garni, welches unendlich anständiger und comfortabler ist; ich werde noch an diesem Abend den Umzug bewerkstelligen und dabei Lily’s Namen auch dem neuen Wirth richtig angeben – das Mistreß Brown ist ganz überflüssig geworden.“

Aurel war damit einverstanden; er ließ sich das neue Quartier seines Vaters nennen und unterrichtete diesen dann von dem Inhalte seiner Unterredungen mit Gollheim und dem Herzog. Der alte Herr fand die Versicherungen des Herzogs, daß er versuchen werde, Gollheim zu einem friedliche Nachgeben zu bestimmen sehr verheißungsvoll. Vor dem Erscheinen des Milchsieber’schen Artikels hätte er sich aus einem Rechtsstreit so viel nicht gemacht; jetzt war ihm Alles daran gelegen, nicht durch einen Monat lang dauernden Proceß in dieser kleinstädtischen Welt zurückgehalten zu werden. Er wollte dann zuerst mit dem „kriechenden Preßgewürm“, der „Giftschlange“ persönlich abrechnen und ein wenig „in’s Gericht gehen“, und darauf seinen Sohn seiner Ministerherrlichkeit, seine Tochter ihrem jungen Eheglück und das „alte Nest“ dem Fortschreiten in der „Vermoderung und Versumpfung“, von der er täglich mehr Spuren wahrnahm, überlassen, um in’s „freie Land“ zurückzukehren, wo er doch allein nur noch existiren konnte. So sagte er denn bereitwillig Aurel zu, ihm am andern Morgen die Documente, die der Herzog Gollheim vorlegen wollte, zu bringen oder zu senden, und verabschiedete sich dann, um noch diesen Abend seinen Abzug aus der Höhle des „Känguruhs“ zu bewerkstelligen.


(Fortsetzung folgt.)




Immanuel Kant.
Zum hundertjährigen Jubiläum seiner „Kritik der reinen Vernunft“.[1]
Von Moritz Brasch.

Unter den Helden, Staatsmännern und Gelehrten, mit denen Rauch auf seinem berühmten Friedrich’s-Denkmal zu Berlin die zu Reiterstatue des großen preußischen Königs umgeben hat, sehen wir zwei Männer in bürgerlicher Tracht mit einander im Gespräch begriffen: der eine etwas jüngere, eine kräftige Gestalt, den schönen Kopf stolz erhoben, scheint an den Andern eine scharfe Frage gerichtet zu haben; dieser, eine zartere, fast schwächliche Erscheinung, das sinnende Haupt mit der mächtigen Stirn ein wenig seitwärts gewendet, ist wie in einen tiefen Gedanken verloren. Der Fragende ist der große Gotthold Ephraim Lessing, der Gefragte aber kein

  1. Die Widmung der ersten Ausgabe des berühmten Buches an den Staatsminister Freiherrn von Zedlitz trägt das Datum des 29. März 1781.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_308.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)