Seite:Die Gartenlaube (1882) 162.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

von Einfluß auf die Gestaltung des Menschenlebens sind. „Sein Schicksal bildet sich der Mensch, und seinen Menschen bildet sich das Schicksal. So umarmen sich denn doch Freiheit und Nothwendigkeit.“ Dieses Wort Sailer’s ist der Grundgedanke „Wally’s“.

Nachdem Friede geworden, Frau Améliens Sohn gesund und heil aus dem Kriege heimgekehrt, und auch der älteste Sohn aus dem Norden in ihre Nähe gekommen war, faßte sie wieder Muth zu literarischer Arbeit. In diese Zeit fällt der Beginn einer Beziehung, welche ihr im Laufe der Jahre ebenso theuer wie wichtig werden sollte: Sie ward aufgefordert, für den von Paul Heyse und Hermann Kurz herausgegebenen „Novellenschatz des Auslandes“ eine Feuillet’sche Novelle zu übersetzen. Die mit dem leider allzu früh verstorbenen Kurz begonnene Correspondenz führte zu brieflichem Gedankenaustausche mit Heyse, welchem alsbald die persönliche Bekanntschaft folgen sollte.

Der Gedanke der Dichterin, in ihre baierische Heimath zurückzukehren, war nur deshalb bis jetzt nicht zur Ausführung gekommen, weil es ihrer bejahrten Schwiegermutter Wunsch war, sie in ihrer Nähe zu behalten. Nach deren Tode aber (1873) löste Amélie ihren Hausstand in Trier auf und siedelte nach München über.

„Hier erst lernte ich,“ schreibt sie in einem Briefe an den Unterzeichneten, „im ernsten Sinne des Wortes arbeiten, jeden Plan reiflich durchdenken und an die Ausführung so viel Fleiß und Kraft setzen, wie mir überhaupt erreichbar. Der mich dies lehrte, ist Paul Heyse, welcher selbst, längst auf der Höhe literarischen Ruhmes, mit eisernem Fleiße nicht nachläßt.“

Ein werthvoller Freundeskreis, zu dem nächst der Heyse’schen Familie Hermann Lingg – früher, bis zu dessen Tode, auch Graf Franz Pocci – zählt, schließt sich dem Kreise herzlicher Verwandten und Jugendfreunde an und füllt Frau Godin’s von der großen Welt ganz zurückgezogenes Leben mit reichen Gaben. Das oft citirte Wort Goethe’s: „Was man in der Jugend sich wünscht“ etc., ist der Dichterin zur Wahrheit geworden; denn die Lebensluft umgiebt sie, in welcher zu athmen ihr natürlich ist.

Während ihres Aufenthaltes in München kamen zur Ausgabe: Gesammelte Novellen in fünf Bänden unter dem Titel: „Frauen-Liebe und -Leben“ (Leipzig, Günther, 1876) und ein fernerer Novellenband: „Sturm und Frieden“, welchem im Laufe der nächsten Zeit zwei weitere, bereits druckfertige Bände folgen sollen. Eine Sammlung deutscher und ausländischer Märchen, welche die Dichterin vor fünf oder sechs Jahren auf besonderen Wunsch des Verlagsbuchhändlers Karl Flemming in Glogau und mit großer Vorliebe unternahm, hat inzwischen einen bedeutenden Erfolg gehabt. Ihre alte Liebhaberei zu echten Volkssagen und Märchen aber ließ sie russische und polnische Steppenmärchen sammeln und herausgeben, die das Volksleben dieser Länder treu wiederspiegeln.

Alles jedoch, was entstand, erlitt große Unterbrechungen; denn schwerer Verlust an persönlichem Glück und Besitz blieb der Dichterin auch in München nicht erspart. Vor zwei Jahren schied ihr jüngster Sohn mit vierundzwanzig Jahren in voller Blüthe und hoher geistiger Begabung aus dem Leben. Vor Kurzem aber verlor sie nach langer Leidenszeit ihre Mutter, mit welcher zusammen sie alle Freude und alles Leid bisher getragen, da sie fast nie getrennt waren. In Zeiten so schweren Schmerzens will selbst der Segen der Arbeit nicht frommen; es heißt, sich in Geduld fassen, bis die Seele ihr Gleichgewicht wieder gefunden. Aber während ihr viel verloren ging, ist der Geprüften in zwei tüchtigen Söhnen, die beide bereits ihr Haus gegründet haben, auch viel geblieben.

Wie bei den Romanen Amélie Godin’s die Einfachheit in Schürzung und Lösung der Handlung und die künstlerische Schönheit in Ausdruck und Darstellung, so verdienen auch – um dies schließlich nicht unerwähnt zu lassen – die wohllautenden Reime und gutgebildeten Verse der 1864 bei Herosé in Wittenberg erschienenen Dichtung: „Der Magdborn. Eine Sage aus dem Rheinlande“, alle Anerkennung. „Der Stoff ist dichterisch erfaßt,“ sagt Kurz über dieses Werk, „und mit großer Zartheit dargestellt. Die Anordnung ist geschickt; die Begebenheiten entwickeln sich ungesucht, und die Charaktere sind mit großer Sicherheit gezeichnet.“

So ist denn der Blick auf das literarische Schaffen Amélie Godin’s ein nach allen Seiten hin erfreulicher. Was aber an allen Schöpfungen der hochbegabten Frau das Herz des Lesers mit so wohlthuender Macht gefangen nimmt, das ist der Hauch wahrer Herzenswärme und ungekünstelter Poesie, der in ihnen allen weht. Man kann von dem geistigen Bilde der edlen Frau nur mit dem Wunsche scheiden, der frische Schaffensquell, der in der allgeliebten Dichterin noch immer lebendig ist, möge sein reines Geisteswasser noch lange springen und sprudeln lassen zur Freude und Labung derer, die heute, in einer wenig poesiefreundlichen Zeit, noch Freude haben an den Gebilden echter Poesie.[1]

Dietrich Theden.     


  1. Wir benutzen diese Gelegenheit, um auf die in Kürze erfolgende Buchausgabe von „Mutter und Sohn“ (Leipzig, Ernst Keil) hinzuweisen. Die fesselnde Erzählung A. Godin’s, welche in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1881) eine beifällige Aufnahme gefunden, wird der geistvollen Verfasserin gewiß auch in dieser Form manchen neuen Freund erwerben und sei hiermit der allgemeinen Beachtung bestens empfohlen.
    D. Red.     




Ketten und Verkettungen.

Novellette von B. Oulot.

Sclaven sind wir, angeschmiedete, gefesselte, eiserne Halsbandträger – glauben Sie mir! Die Ketten halten uns allenthalben fest, uns sanft umschlingend oder uns schmerzlich drückend, unsichtbar oder sichtbar; wir tragen sie mit Geduld, oder wir küssen sie mit Wonne. Wir sind Sclaven allzumal, absolute Sclaven, ja, ich kann Ihnen versichern, daß Sie trotz der von Marquis Posa begehrten „Gedankenfreiheit“ nicht einmal denken können, was Sie wollen, sondern sogar mit ihrem originellsten Einfalle dem Zwange der Ideenverkettung unbewußt folgen müssen. Aergert Sie das? Mich nicht. Ich gehöre überhaupt nicht zu den Kettenraßlern, sondern zu den Fesselanbetern, und habe damit – seien Sie überzeugt! – das bessere Theil erwählt.

Sehen Sie, da sich alles auf dieser Welt verkettet, so muß man sich entweder über alles oder über gar nichts ärgern; denn das Einzelne ist nur Kettenglied. Da man nun aber nicht so ein Universaltruthahn sein kann, um die Welt mit unaufhörlicher Wuth zu betrachten, so muß man logischer Weise auch die Einzelheiten des Lebens in ihrer Eigenschaft als Kettenglieder mit Geduld hinnehmen. Das ist doch eine liebenswürdige Philosophie –

„Herr Oberlieutenant –“

„Kreuzdonnerwetter, habe ich Dir nicht verboten, mich im Schreiben zu unterbrechen?“

„Es hat Jemand diesen Brief gebracht, Herr Oberlieutenant.“

„Schon gut! Lege ihn hier her und störe mich unter keiner Bedingung wieder!“

Ist das nicht zum Todtärgern? Da hat man eine wichtige Abhandlung in der Arbeit, ist über seinen Schreibebogen gebeugt, das sinnende Haupt in die linke Hand gestützt, und verfolgt den Faden seiner Ideen – wenn man überhaupt Ideen hat – und herein tritt so eine platte Dienerphysiognomie – nein, ich drücke mich falsch aus, Physiognomien können nicht treten – ich wollte sagen: herein tritt so ein unwissender Wachtmeister und zerreißt jenen Faden mit einem schnarrenden „Herr Oberlieutenant“ und mit der Uebergabe eines unnützen Briefes. Ich sehe es ihm von weitem an, diesem Briefe, er ist von meinem Schneider und interessirt mich nicht; auch lasse ich ihn einstweilen ungelesen und nehme meine Arbeit wieder auf.

Diese Arbeit ist nämlich, wie Sie eingangs bemerkt haben werden, ein Capitel über die Verkettung der Dinge – ein ungeheures Thema.

Ich bin einfach daran, ein philosophisches Werk zu verfassen. Daß ich Oberlieutenant bin, ist doch kein Hinderniß; im Gegentheil. Herr von Hartmann, der die „Philosophie des Unbewußten“ geschrieben hat, war auch beim Militär, und das hat mich eben auf die Idee gebracht. Außerdem habe ich ja den Dienst quittirt. Da ich kürzlich durch den Tod meines Onkels in den Besitz eines Gütchens gelangt bin, habe ich die Cavallerie verlassen, um mich ganz der Oekonomie zu widmen, von welcher ich nichts verstehe, und befasse mich in Folge dessen mit der Schriftstellerei.

Was könnte ich wohl in den Mußestunden meiner Landeinsamkeit

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_162.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)