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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

um sie dann wieder in tiefster Wehmuth zu falten; „mein Kind, dies überwältigt, dies überwältigt mich vollständig … Du also, Du bist meiner Schwester Sabine Kind – meiner armen Schwester Sabine – und Du bist zu mir gekommen, um mir dies zu sagen, sodaß ich den Tod vor Alteration und Schrecken davon habe … daß ich nicht weiß, wo aus noch ein bei allem Dem, womit Du auf mich einfährst –“

„Aber Sie wissen es ja doch nun einmal …“ unterbrach sie ihn mitleidig.

„Wissen? Ich wissen? Woher sollt’ ich? Deine Eltern – Gott weiß, daß ich meine Schwester Sabine lieb gehabt – aber Deine Eltern hatten solch einen Haß auf uns geworfen – ich habe es ja auch einmal versucht, sie zu versöhnen – vor langen Jahren – ich schrieb Deiner Mutter – damals, als ich nach meines älteren Bruders Tod der Erbe von Dortenbach geworden und mich vermählt hatte – ich meldete es ihr; ich schrieb ihr, daß ich den innigsten Wunsch hätte, ihr die Bruderhand zu reichen, aber sie antwortete darauf nicht; sie nicht – Dein Vater that es – er schrieb, das Tischtuch zwischen uns sei nun einmal zerschnitten – Alles, was aus Dortenbach komme, könne seiner Gattin nur bittere Empfindungen bereiten; er wünsche sie damit verschont zu sehen; gegenseitigen Beziehungen sei schon damals, als Deine Mutter ihr Vaterhaus verlassen, so gründlich ein Ende gemacht worden, daß ihre Wiederbelebung für alle Zukunft unmöglich sei. Das ist das Letzte gewesen, was ich von Deiner Mutter gehört habe. Und nun stehst Du da vor mir – ihr Kind, ihre Tochter – o mein Gott, ich habe das ja gefühlt, geahnt; Du bist mir so lieb geworden in wenig Tagen, so lieb, und es würde mir das Leben verlängern, wenn Du – aber Du kommst nur, um mir zu sagen, daß Du gehen willst; Du kommst wie ein Sturm, der einen morschen Baum niederwirft – Gott stehe mir bei!“

Der alte Herr hatte mit Mühe gesprochen; jetzt, wie in sich zusammensinkend, seufzte er tief, tief auf, und auf den Boden starrend, setzte er flüsternd hinzu:

„Ihr Kind – ihre Tochter – Sabinens Kind – aber auch so hart, so unbeugsam, so fest wie sie! Ihr Blut, Sabinens Blut!“

Reginens Zorn war geschwunden. Es war nicht allein der Anblick des klagenden alten Mannes, des Mannes, der ihr nächster Verwandter auf Erden war, – nein, was sie erweicht hatte, war auch die Einsicht, daß sie in vorschnellem Urtheile Leonhard ein großes Unrecht gethan. Es war klar, das Geheimniß, welches er ihr gelobt, hatte er nicht verrathen – er nicht! Ihr Oheim – daran konnte kein Zweifel sein – hatte nicht geahnt, wer sie war. Wer es den Andern verrathen haben konnte – das wußte der liebe Gott – Leonhard war unschuldig daran. Dies wenigstens hatte sie ihm abzubitten.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Der Brautschautag in Rußland. Alljährlich am zweiten Pfingstfeiertage wird in den größeren Städten im Innern des russischen Reichs, welche sich noch, wie Moskau, Charkow, Kiew, Kursk etc., ihre nationalen Eigenthümlichkeiten bewahrt haben, ein heiteres Fest gefeiert, an dem die Jugend beiderlei Geschlechts mit besonderem Vergnügen Theil nimmt, das Fest der Brautschau.

In einem der innerhalb oder doch nicht weit von der Stadt entfernt gelegenen öffentlichen Gärten versammeln sich um die sechste Nachmittagsstunde die Eltern mit ihren heirathsfähigen Töchtern. Vater und Mutter gehen, scheinbar harmlos, spazieren, die Töchter mit ihnen. Letztere sind im höchsten Staate, mit Schmucksachen jeder Art geradezu beladen, sodaß man schon aus diesen den Reichthum der Trägerinnen zu erkennen vermag. Hinter ihnen geht die sogenannte Vermittlerin einher, meistens eine ältere Verwandte des Hauses, oft auch eine nur für diesen Tag engagirte Person. Zahlreiche junge Männer finden sich gleichfalls im Garten ein, theils solche, welche das Ganze nur als einen lustigen Zeitvertreib betrachten, theils aber auch solche, welche ernste Absichten haben. Auch sie wandern scheinbar harmlos auf und ab, mustern dabei aber genau die jungen Damen. Gefällt ihnen eine besonders, so genügt ein Wink an die Vermittlerin – und sofort biegt diese, wie zufällig, in eine Seitenallee ein. Namen, Charakter, Vermögensverhältnisse etc. der Schönen werden nun sicher erkundet, wenn auch all dies von der dienstbeflissenen Vermittlerin nicht selten in allzu rosiges Licht gestellt werden mag. Sagt das Vernommene dem Heirathslustigen zu, so macht auch er Eröffnungen über seine Person, Verhältnisse und Absichten und sofort beginnt die Agentin ihr Geschäft als „ehrliche Maklerin“; sie ist sehr klug: vielleicht sichert ihr irgend ein Paragraph 5 im Heirathscontract gewisse Procente zu. Das Resultat ihrer Thätigkeit besteht dann gewöhnlich darin, daß der Freier für den kommenden Sonntag in eine Kirche bestellt wird, damit ihn Eltern und Tochter sehen können. Bei hübschen Mädchen bleibt es übrigens in der Regel nicht bei einem Freier, sondern es werden zumeist mehrere in die Kirche bestellt. Finden die strengen Augen der weiblichen Richter an dem Bewerber Wohlgefallen – man behauptet hier, je älter die Tochter, desto milder ihr Urtheil; aber dies ist wohl Verleumdung – so wird Papa gebeten, denselben zu Mittag einzuladen, worauf es dann der Gewandtheit des jungen Mannes überlassen bleibt, zum Ziel zu kommen.

Auch hierbei ist ihm wieder die Vermittlerin nothwendig; denn durch sie erfährt er die kleinen Charakterzüge seiner Wirthe, nach denen er sich bei seinem ersten Auftreten zu richten hat, so z. B. ob Herr Iwan Iwanowitsch nur ein nüchterner Geschäftsmann ist, oder ob er auch liebt lange zu Tisch zu sitzen und der Flasche zuzusprechen, ob die Gattin Praskowia Petrowna es gern hat, wenn man sie selbst noch als junge Frau betrachtet und ihr huldigt, oder ob sie in mütterlicher Uneigennützigkeit es vorzieht, wenn man sich nur mit ihrer Tochter beschäftigt, und ob Letztere, Sseraphima Iwanowna, heiter oder sentimental ist, ob sie Clavier und Kunst dem Geschäft und der Wirthschaft vorzieht.

Viele, oft recht glückliche Ehen werden alljährlich auf diese Weise geschlossen, weshalb denn die Vermittlerinnen sehr gesuchte Persönlichkeiten sind, auf deren Hülfe oftmals schon mehrere Monate vor dem Brautschautage abonnirt wird. Wenn ich übrigens anfangs sagte, daß diese Sitte hauptsächlich in den echtrussischen Städten noch besteht, so ist sie deshalb in den mehr kosmopolitischen Orten des Reichs durchaus noch nicht erloschen, wovon man sich, wenn man die Augen offen hat, alljährlich in Petersburg und Odessa überzeugen kann.

Petersburg, im Mai 1882.   Leon Alexandrowitsch.




Die Photographie des Vogels mitten im Fluge ist dem französischen Physiologen Prof. Marey, wie er am 13. März der Pariser Akademie der Wissenschaften mittheilte, vollständig gelungen, und zwar so, daß jede einzelne Bewegung des Fluges im „Tausendstelsekundenbilde“ festgehalten wird. Wie wir in Nr. 25 der „Gartenlaube“ von 1878 mitgetheilt, war es damals dem Photographen Muybridge in San Francisco gelungen, durch Aufnahmen, deren jede nur 1/500 Secunde dauerte, die einzelnen Stellungen eines trabenden Pferdes darzustellen, wie es ihm auch geglückt, aus einem Taubenschwarme einzelne Tauben in vollkommen klarer Flügelstellung zu photographieren. Die Sache ist insofern von Interesse, als man darüber noch nicht völlig im Klaren ist, aus welchen einzelnen Bewegungen sich der Flug eines Vogels zusammensetzt; wenigstens bestanden hierüber zwischen den beiden besten Kennern des Problems, dem Prof. Marey und dem Dr. J. Bell Pettigrew, bisher erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Um dieselben zu beseitigen, genügt es aber nicht, eine einzelne Stellung festzuhalten, sondern man muß, wie Muybridge in Bezug auf die Bewegungen der Pferde gethan hat, eine ganze Reihe auf einander folgender Flügelstellungen im Fluge erhaschen und dabei zugleich ihre Zeitdauer feststellen können. Es gelang dies Marey nach mehreren vergeblichen Versuchen, und zwar mit Hülfe eines mit Revolvermechanismus versehenen Apparates, der die Form eines Jagdgewehres hat, und mit dem man nach dem Vogel zielt. Man erhält mittelst desselben in der Secunde zwölf Bilder, von denen jedes zu seiner Aufnahme nur 1/700 Secunde Zeit erfordert. Bei Anwendung von Bromsilbergelatineplatten reicht diese mit dem Chronographen gemessene Zeitdauer (1/700 Secunde) selbst für bedeckten Himmel aus; bei Sonnenschein genügt 1/1500 Secunde zur Aufnahme des Einzelbildes. Indem man eine Reihe dieser Flugbilder auf einer stroboskopischen Scheibe, die bekanntlich auch Wunderscheibe genannt wird, befestigt, kann man Vogelflug und Pferdetrab aus den einzelnen Momenten zusammensetzen und, wenn man die Scheibe langsam dreht, mit aller Gemächlichkeit im Spiegel studiren.

Angesichts dieser Revolver-Photographen ist offenbar nichts mehr auf der Welt vor dem Photographirtwerden sicher, weder der Gauner, der sich gegen seine Portraitirung sträubt, noch die verdächtige Persönlichkeit oder die weibliche Schönheit auf der Straße und im Ballsaal, auf die sich ein unschuldiges Opernglas richtet. Ja, schließlich sind nicht einmal die Grimassen eines Possenreißers oder die Finger eines Taschenspielers davor geschützt, dingfest gemacht zu werden, um hernach im Zootrop, jenem Spielzeug für Alt und Jung, weiter „arbeiten“ zu müssen.




Erklärung. Unsere vorige Nummer war redactionell längst abgeschlossen und die Auflage derselben im Druck nahezu vollendet, als uns die traurige Kunde von dem Brandunglück zuging, dem das Hauptgebäude der „Hygiene-Ausstellung in Berlin“ zum Opfer gefallen. Angesichts der damals bereits fertigen und zur Versendung an unsere Abonnenten bereit liegenden sehr großen Anzahl von Exemplaren jener Nummer war es uns leider unmöglich, dem darin enthaltenen Artikel zur Eröffnung der „Hygieneausstellung“ eine Schilderung des Brandunglückes selbst und eine Beleuchtung der Folgen hinzuzufügen, welche dasselbe unausbleiblich für die Ausstellung haben mußte. Heute, indem wir dies schreiben – mehrere Tage nach der Katastrophe – haben die Tageszeitungen unseren Lesern Nachrichten über beides längst vermittelt, und es erübrigt uns daher nur noch zu erklären, daß wir, falls die Ausstellung – laut Comitébeschluß – trotz des über sie hereingebrochenen Verhängnisses ihren Fortgang finden wird, nicht unterlassen werden, die angekündigte Artikelserie über die „Hygieneausstellung“ in der geplanten Weise zum Abdruck zu bringen.

D. Red.

Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_356.jpg&oldid=- (Version vom 2.5.2023)