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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Fachkenntniß Stephan’s nicht Stand zu halten. Am 9. Oktober 1874 unterzeichneten in der schweizerischen Bundeshauptstadt Bern die Bevollmächtigten von 22 Staaten, welche vier Erdtheile umfaßten – Australien allein war ausgeblieben – den internationalen Vertrag, der eine innige Völkervereinigung von einem bis dahin unerhörten Umfange in sich schloß, denn schon in seinem Entstehen repräsentirte der Allgemeine Postverein ein Gebiet von ungefähr 37 Millionen Quadratkilometer mit nahezu 350 Millionen Einwohner. Diese Kulturerrungenschaft allerersten Ranges ist es vornehmlich gewesen, welche den Namen ihres Urhebers weit über die Grenzen des Heimathlandes hinaus getragen und ihm eine Volksthümlichkeit verschafft hat, die in Hunderten von Zuschriften aus allen Ländern der Erde, in Anliegen aus allen Weltgegenden, von Angehörigen der verschiedensten Nationen, in unzähligen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln des In- und Auslandes, in Wort und Bild zum Ausdruck gekommen ist. Alle, selbst die gegen deutsche Sitte und deutsche Art sprödesten Völker priesen die Verwirklichung des großen Gedankens, von dem sie vorher lediglich als von einem idealen Wunsche Notiz zu nehmen sich herbeigelassen hatten.

Auf einmal stand Deutschland an der Spitze der Weltpost, dasselbe Deutschland, das früher so oft wegen der Buntscheckigkeit und Unbeholfenheit seiner Post sich hatte bespötteln lassen müssen. Welche Wandlung seit jener Zeit, da ein Börne in gerechtem Zorn die deutsche Postschnecke dem Fluche der Lächerlichkeit preisgab! Damals ein Verkehrswesen, zerklüftet im Innern, ohnmächtig nach außen; jetzt ein mächtiger Organismus, festgefügt aus einem Guß, ein Stolz des neuen Reiches, ein Gegenstand der Bewunderung dem Auslande. Auf die Initiative des deutschen Reichspostmeisters weht in fernen Meeren auf deutschen Reichspostdampfern die deutsche Flagge; hilfesuchend wendet sich eine Handelskammer des stolzen Albion – die von Liverpool – vertrauensvoll an den deutschen Generalpostmeister mit der Bitte, er möge für eine bessere telegraphische Verbindung zwischen Liverpool und dem europäischen Festlande sorgen; die Einwohner der englischen Industriestadt Bradford richten ein Dankschreiben an Dr. von Stephan, „dessen unermüdlicher Energie die Einrichtung des internationalen Postpacketdienstes, deren wohlthätige Wirkungen er fortwährend vor Augen geführt habe, hauptsächlich zu danken sei“; der französische Finanzminister Léon Say bekundet öffentlich, „daß vom Eintritt Frankreichs in den Weltpostverein die neue Aera der französischen Finanzen datire!“

Ueber der Errichtung des Weltpostvereins sowie der Reorganisation des heimischen Verkehrswesens hat der Schöpfer dieser Werke keineswegs der näher liegenden menschlichen Rücksichten vergessen. Neben dem weiten Ausblick auf das nationale Wohl hat er die Hebung des materiellen und geistigen Wohles seiner Beamtenschaft stets unverrückt im Auge behalten. Zwar hatte sein energischer Charakter ihm den Ruf eines Tyrannen eingetragen, und Mancher sah seiner Amtsführung in der obersten Stelle der Post mit Bangen entgegen. Aber es währte nicht lange. da schwand die Voreingenommenheit; man gewann Vertrauen zu dem neuen Chef, als derselbe unzweifelhafte Beweise seiner Herzensgüte gab. Bald wußte man zu erzählen, daß er keine größere Freude kenne, als Anderen Freude zu machen, daß er es durchaus nicht liebe, zu strafen, aber freilich, wenn es noth thue, auch nachdrücklich zu strafen verstehe, indessen auch zu vergeben und zu vergessen wisse. „Fehler sind nicht mehr da, wenn man sie einsieht,“ war sein Grundsatz, nach welchem Mancher trotz einer Verirrung wieder zu Ehren gekommen ist, der sich nach früherem Brauche bereits für einen abgethanen Mann halten mußte.

Daß es bei platonischen Aeußerungen nicht geblieben ist, dafür zeugt die an positiven Ergebnissen überreiche Thätigkeit Stephan’s auf dem inneren Gebiete des Postlebens. In materieller Beziehung wären hier anzuführen: die gegen vielfache Hemmnisse durchgesetzten Gehaltsaufbesserungen, die Fürsorge für Wittwen und Waisen, die durch Abkommen mit verschiedenen Gesellschaften herbeigeführte Erleichterung zur Abschließung von Lebensversicherungen, die Einrichtung von Spar- und Vorschußvereinen, ferner die Kaiser-Wilhelm-Stiftung, aus deren Mitteln den Familien der Beamten und den Hinterbliebenen Unterstützungen, befähigten Söhnen und Töchtern von Beamten Studienbeihilfen, geeigneten Beamten Stipendien zu Reisen ins Ausland und zum Studium fremder Sprachen gewährt werden. Durch reichlich ausgestattete Bibliotheken und durch Lehreinrichtungen, deren Krone die in Berlin gegründete Postakademie bildet, ist der geistigen Ausbildung der Beamten gebührend Rechnung getragen worden, während das Bestreben, für die treulich wirkenden Männer der Postwelt bequeme und gesunde Arbeitsräume zu schaffen, in der Errichtung würdiger, meist in edeln Formen ausgeführter Posthäuser seinen Ausdruck gefunden hat.

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Lange wollte mir der seit Jahren gehegte Wunsch, die persönliche Bekanntschaft des von mir hochverehrten Mannes zu machen, nicht in Erfüllung gehen. Keiner von denjenigen, die ihm näher standen, konnte oder wollte die Vermittlerrolle übernehmen; ja, Niemand fand sich, der mir auch nur diejenige zuverlässige Auskunft gegeben hätte, die allein von Nutzen sein kann, wenn es sich darum handelt, etwas Besseres als bloße Legende oder unzusammenhängende Anekdoten zu erzählen.

Wäre ich Amerikaner, Engländer oder Franzose, so hätte ich meinen Mann einfach „interviewt“ und hätte dann mit möglichstem Geschick und orientalischer Phantasie aus dem, was er mir mitgetheilt, mehr noch aus dem, was er mir nicht mitgetheilt, nach berühmten Mustern einen „authentischen“ Bericht geschrieben; aber als biederem deutschen Mann von der Feder widerstrebte es mir, aus einigen mehr oder minder entgegenkommenden Redensarten ein Phantasiebild aufzubauen, und ich wartete meine Zeit ab. Da spielte mir der Zufall eine in der Oeffentlichkeit wenig bekannt gewordene Rede in die Hand, die der Generalpostmeister im Jahre 1879 bei der Einweihung des neuen Posthauses in Stolp, seiner Vaterstadt, gehalten hatte.

Damit waren wenigstens einige Bruchstücke von unzweifelhafter Glaubwürdigkeit gefunden, die zugleich als allgemeine Charakteristik hier von Interesse sein dürften. Der Herr Generalpostmeister erzählt über seine Jugendzeit Folgendes:

„Mit tiefbewegtem Herzen habe ich meine geliebte Vaterstadt nach langen Jahren gestern wieder begrüßt. Da ragt der alte Thurm der Kirche, in welcher ich die Taufe und Einsegnung empfing; da steht mein elterliches Haus, klein und bescheiden, aber eigen und spiegelblank; da sehe ich meine gute Mutter, wie sie vor dem mächtigen alterthümlichen Schranke wirthschaftet in der schimmernden Wolle und dem schneeweißen Lein. Wer das Glück hat, wenn er auf die Welt kommt, in pommersche Leinwand gewickelt zu werden, der wird gerade! … Dann ging es in die lateinische Schule. Noch steht sie da – eigentlich sollte ich in Anbetracht ihres baulichen Zustandes sagen: leider steht sie noch so da – aber ich will im Hinblick auf die anwesenden hohen städtischen Körperschaften dieser Stunde schönes Gut durch den Trübsinn einer Erinnerung an Budget und Kommunallasten nicht verkümmern. Anfangs behagte sie mir nicht sehr. Wir zogen es vor, auf dem vor ihren Mauern gelegenen Kirchplatz, auf welchem das neue Reichspostgebäude sich erhebt, unsere Schlachten zu schlagen, bei denen es oft scharf herging. Wir kamen mit dem Bürgermeister Arnold in Konflikt. Der selige Oberlehrer Decker, den gewiß noch die meisten Anwesenden gekannt haben, schleuderte mir ein ‚Geierjunge‘ entgegen. Das war der erste Titel, der mir höheren Orts verliehen wurde.

Mein verehrter väterlicher Freund und unvergeßlicher Lehrer, der Herr Professor Berndt, der zu meiner unendlichen Freude mich heute auch durch sein Erscheinen geehrt hat, hielt uns eindringliche Standreden. Als ich ihn bei einer derselben einst daran erinnerte, daß er uns ja erst an demselben Morgen aus dem Seneca den Satz citirt hätte: ‚Vivere est militare‘ (Leben heißt kämpfen), fand er diese Auslegang der Klassiker doch sehr sonderbar und rief mir mit einem eigenthümlichen Blick zu: ‚Aus Dir wird entweder Viel, oder gar Nichts.‘ Das ließ, gleichwie die alten Orakel, jedenfalls recht entgegengesetzte Chancen offen. Aber ich warf mich nun, möglicherweise um ihn zu ärgern, ich stehe für Nichts, mit einem wahren Ingrimm auf das Lernen. Anderthalb Jahre rang ich mit meinem hier zu meiner großen Freude anwesenden Schulkameraden Gustav Fritze mannhaft um den primus omnium, und ich konnte, wie in jenem hübschen Geschichtchen, sagen: bald lag er oben, bald ich unten. Mit Rührung sehe ich das Dach des alten Schulhauses, unter dem ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 858. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_858.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2024)