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verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen.0 Von R. Artaria.
XIV. (Schluß.)

 Meine theuerste Marie!

Wenige Tage noch, und Du stehst im Myrthenkranz an Deines Richard Seite in der alten Nikolaikirche und sitzest dann glückselig mit ihm an der Ehrentafel, während man sich von allen Seiten mit Glückwünschen um Euch drängt und die Champagnergläser dazu klingen. Hier aber in dem fernen stillen Stübchen sitzt Eine, die vor einem Jahr kaum geglaubt hätte, es verwinden zu können, daß sie nicht dabei sein solle, und denkt nicht ans Reisen, sondern geht alle Augenblicke einmal zu einem blauverhangenen Wiegenkorb, um den Schleier zu lüften und das süße Gesichtchen zu betrachten, an dem sie sich, trotz vierwöchigen Anschauens, noch nicht satt gesehen hat. Aber im innersten Herzen fühlt sie ihre eigene Seligkeit zugleich als innigsten Wunsch für Dich, meine geliebteste Marie. Möchtest Du so glücklich werden, wie ich es bin! Mehr kann ich Dir nicht wünschen; denn ein größeres Glück giebt es nicht, das weiß ich gewiß.

Vorhin habe ich die letzten Stiche an der Decke gemacht, die hier beiliegt und Dich stets an mich erinnern soll. Könnte sie erzählen, wie viel würde sie Dir berichten von thörichten schweren Gedanken, die ich hineingestickt, von mancher Thräne, die darauf gefallen, wenn ich immer wieder das Bild sah, von dem ich einmal geträumt: wie Hugo mit dem Kind zu Allerseelen an meinem Grabe steht! Darüber wollte mir beinahe das Herz brechen. Saß er aber dann bei mir, während ich arbeitete, dann führten wir die süßen, lächerlichen Elterngespräche, wo wir uns die ganze Zukunft ausmalten, wie Alles mit dem Jungen werden solle. Nur über seinen Beruf konnten wir uns nicht einigen, weil ich durchaus einen Künstler haben wollte und Hugo ihm für diesen Fall mit Enterbung drohte. Jurist sollte er aber auch nicht werden, a!so was dann? Da war manchmal guter Rath theuer, zum Schlusse sagte Hugo regelmäßig: „Nun, vorläufig können wir’s ja noch abwarten.“

Als dann aber aus dem Spaß plötzlich Ernst wurde und angstvolle Stunden hereinbrachen, da sah ich ihn todtenbleich neben mir stehen und suchte nur fortwährend muthig zu sein, um ihn nicht so arg leiden zu sehen. Und als dann auf einmal ein niegehörtes kleines Stimmchen sich ganz sonderbar und meckernd vernehmen ließ und unser Junge – ein kleines, kleines Mädchen geworden war, da machte Hugo ein so völlig konsternirtes Gesicht, daß ich trotz der schwierigen Situation nicht anders konnte, als hell auflachen.

Das war eine Ueberraschung; denn an diesen Fall hatten wir ja vorher gar nicht gedacht! Und so war für das kleine Mädel nicht einmal ein Name vorhanden. Aber ich kann heute wirklich gar nicht mehr begreifen, wie wir so albern sein konnten – ein Mädelchen ist ja hundertmal reizender als so ein plumper Junge; es ist ein reines Vorurtheil, sich immer den zuerst zu wünschen. Aber die Menschen sind nun einmal so. Als des andern Morgens der Doktor kam, dem Hugo mittelst einer Karte das glückliche Ereigniß angezeigt hatte, da sagte er schon an der Thür mit seinem malitiösen Lächeln: „Gratulire zur Tochter!“

„Woher wissen Sie das?“ rief ich.

„Ei,“ erwiederte er, „wenn es ein Sohn gewesen wäre, hätte er auch auf der Karte gestanden. Das kennt man schon.“

Ich ärgerte mich doch unsagbar über den spöttischen Menschen, der sich da mit seinen drei Jungens groß that. Aber wenn auch damals eine kleine Enttäuschung dabei war – heute gäbe ich mein Mädelchen nicht um drei Dutzend Jungens, ja nicht um alle Schätze der Welt hin. Ich hatte mich ja immer auf das Kind gefreut, aber doch nicht recht gewußt, wie man es mache, um so ein kleines Hilfloses so furchtbar lieb zu gewinnen. Und dann waren die Neugeborenen, die ich bis dahin gesehen, alle so häßlich wie kleine Aeffchen.

Aber als nun der Morgen kam, als ich nach einem süßen Schlummer die Augen öffnete und man mir das kleine, gar nicht häßliche, sondern wundernette Geschöpfchen frisch gebadet und in einem gestickten Tragdeckchen aufs Bett legte und ich voll Staunen und Neugier seine zarten Gliederchen betrachtete und die großen schlehblauen Augen – da fühlte ich auf einmal aus dem innersten Herzen heraus einen ganz neuen, heißen Strom von Zärtlichkeit brechen und mit einem nie gekannten Glücksgefühl hieß ich das Kind, mein Kind, im Leben willkommen. Hugo knieete neben meinem Bett und hatte den Arm um uns Beide geschlungen und wir waren unbeschreiblich selig. Was unser einfaches Zimmer umschloß, das, fühlten wir Beide gleich tief, war das Höchste, was Menschenherzen erleben können!

Ach, und dann die glücklichen Rekonvalescententage, wenn gegen Abend Alle kamen, sich um meinen Divan zu versammeln und das Kindchen zu bewundern, das mir im Arme lag! Die beiden Großmütter, deren Namen Johanna Elisabeth es tragen soll; Hugo, der mit unglaublicher Schnelligkeit vom Bureau heim eilte, um seine Tochter wiederzusehen und alle Tage neue Ähnlichkeiten zu entdecken; Klara kam dann auch dazu, mit ein paar späten Rosen oder Reseden in der Hand; Brandt, welcher es augenscheinlich vermied, mit ihr zu kommen, erschien aber dann so häufig „zufällig“ eine Viertelstunde später, daß ich anfing, mir meine stillen Gedanken darüber zu machen, und mich sehr freute.

Du glaubst es nicht, wie dieser querköpfige Weltverächter sich zu seinem Vortheil verändert hat. Das Leben draußen in dem großen Betrieb, wo er gehörig arbeiten muß und gar keine Zeit hat, über sein werthes Ich nachzudenken, der Umgang mit dem klugen, tüchtigen alten Reichert und – die gute pekuniäre Lage, welche offenbar auf den Pessimismus sehr besänftigend wirkt: alles Das zusammen hat diesem jungen Herrn neue Züge ins Gesicht gemalt, die ihm sehr gut stehen. Er trägt jetzt Wasserstiefeln und eine Lodenjoppe; der Sammetrock ist verschwunden; aber offenbar hat er dadurch in Klara’s Augen Nichts verloren. Sie lesen Abends Shakespeare zusammen, erzählte sie mir neulich; der Papa schlafe freilich öfters dabei ein, aber Herr Brandt lese so wundervoll und –

den 26., früh. 

O, das ist köstlich, das muß ich Dir gleich schreiben! Gestern unterbrach mich ein Besuch, fast zu gleicher Zeit trat auch Klara ein; ich sah es ihr auf den ersten Blick an, daß sie lebhaft erregt war. Sie mußte sich doch ein halbes Stündchen beherrschen; aber kaum war die Dame fort, so flog sie mir an den Hals und rief: „Denken Sie nur, Frau Assessor, heute Morgen habe ich den neunundneunzigsten Schimmel gesehen und vorhin – als ich hier ins Haus trat – begegnete mir – ein Kaminfeger!!“

„Ein Gott, sollte man denken nach Deinem verzückten Aussehen,“ neckte ich. „Klara, Klara!“

Aber sie ließ sich nicht irremachen. In einem Strom von hastigen, glückseligen Worten kam es heraus, „wie jetzt Alles anders sei bei ihnen draußen, der Papa so zufrieden, und wie er den Herrn Doktor lobe und immer sage, so ein Mann habe ihm gerade gefehlt, und wie Brandt selbst so gut sei und so ganz anders als früher, und wie sie manchmal glaube, er habe sie wirklich gerne, obgleich sie ja gar nicht ‚bedeutend‘ sei, und …“ da schellte es draußen und wir Beide kannten den Riß. Einen Augenblick später trat Brandt selbst ins Zimmer, begrüßte mich, und nun kam der große Moment, wo vor meinen Augen der geheimnißvolle Schicksalsknoten eines Händedrucks nach neunundneunzig Schimmeln und einem Kaminfeger geschlungen wurde! Klara war blaß geworden bis in die Lippen, als sie ihre Hand in die seine legte; dann sah sie mich tief aufathmend an, während eine langsam aufsteigende Röthe ihr hübsches Gesichtchen übergoß. Sie befand sich in einer solchen Verwirrung, daß Brandt sie erstaunt ansah, und darauf ergriff sie den nächsten Vorwand, um zu entschlüpfen.

Er sah ihr schweigend einige Augenblicke nach, ging dann ein paarmal im Zimmer auf und ab und sagte endlich, vor mir stehen bleibend: „Würden Sie es sehr lächerlich finden, wenn ich Ihnen bekennte, daß ich dieses Mädchen in seiner frischen Natürlichkeit und Güte von Herzen lieb habe?“

„Nicht im mindesten,“ sagte ich ruhig; „ich fände es im Gegentheil unbegreiflich, wenn es nicht so wäre.“

„Ja aber –“ er fuhr sich wieder mit seinem alten Verzweiflungsstrich durch die Haare – „was soll, was kann daraus werden?“

„Ein glückliches Paar, hoffentlich. Sprechen Sie offen und ehrlich mit dem Vater! So viel ich weiß, ist er Ihnen gewogen. Wenn er Vertrauen auf Ihren Charakter hat – die Geldfrage wird wohl kein Hinderniß sein.“

Wir sprachen noch ein Weilchen weiter.

„Sie haben Recht,“ rief er endlich erleichtert, „von der Seite habe ich es noch nicht angesehen.“

Er griff hastig nach seinem Filz, stammelte noch einige Entschuldigungen, und draußen war er.

Heute früh nun, vor elf Uhr schon, ließ er mich um eine kurze Unterredung bitten und erzählte mir freudestrahlend, daß ihn der alte Herr nicht abgewiesen habe. Eine Probefrist von einem Jahr freilich wurde ihm gesetzt und von Verlobung darf jetzt noch keine Rede sein; aber das ist ihnen Beiden gesund, und daß sie sich schließlich bekommen, darüber ist Klara beruhigt – dafür lassen wir die Schimmel und den Kaminfeger sorgen!

Nun ich diesen Brief schließen will, kommt es mir so recht lebhaft zu Sinn, wie ich Dir voriges Jahr um diese Zeit, wo eben so die Flocken vor dem Fenster tanzten, meine ersten Haushaltskalamitäten erzählte. Damals war ich ein kindisches, verzogenes Ding voll Egoismus und Empfindlichkeit; aber Eines war echt und stark in mir, die Liebe zu meinem Mann, und sie hat mich Alles gelehrt, schaffen und überwinden und allmählich eine Andere werden. Ich weiß es jetzt, daß man unermüdlich jeden Tag an seinem Glück bauen muß und daß es heißt, Liebe säen, um Liebe zu ernten. Voriges Jahr im ersten Uebermuth stellte ich Dir mein „Programm“ auf und dachte mir es kinderleicht, das zu erreichen. Nun, wenn heute auch noch Manches zu verbessern ist, so kann ich doch voll froher Empfindung sagen, daß ich den sicheren Weg vor mir sehe und nicht mehr im Zweifel bin, daß es der rechte ist. Hugo’s Mutter sieht jetzt voll freundlicher Billigung auf meine häuslichen Bestrebungen und lobt mich als gute Hausfrau; er selbst sagte neulich: „Weißt Du noch, Emmy, wie Du mir vorigen Winter versprachst, ich solle über Jahr und Tag der beneidenswertheste Mann im deutschen Reich sein? Es ist doch hübsch, wenn man sein Wort recht pünktlich hält!“

Mama sitzt heute und garnirt ein pompöses Taufkissen; sie ist glücklich über ihr Enkel-Pathchen und versichert, es werde einmal eine Schönheit werden. Das steht nun freilich dahin; aber ein braves Menschenkind soll es werden. Ich wende jetzt meinen ganzen Ehrgeiz vom genialen Sohn auf eine ganz prachtvoll erzogene Tochter und denke mir, auch diese kann die Welt einmal gut gebrauchen!

Nun zum Schluß, meine theuerste Marie, fasse ich Dich nochmals ans Herz und wiederhole meine ersten Wünsche. Bleibe fest in Deiner Liebe, dann überwindest Du alles Andere und siehst nach einem Jahr und nach vielen Jahren so froh ins Leben, wie heute

Deine glückliche Emmy. 




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