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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Vormittags vor dem mit dem kaiserlichen Wohnsitze verbundenen „Niederländischen Palais“ und dem daran grenzenden Hôtel du Nord, in welchem ersteren die großherzoglich badische Familie Quartier genommen, während in dem letzteren die Generaladjutanten Zimmer innehatten. Durch die Behrenstraße in der Richtung nach den Linden flogen die königlichen Equipagen. Man sah in ihnen hohe Offiziere, welche sich in das Palais begaben oder von dort zurückkehrten. Viele hatten Schriftstücke in der Hand, welche anscheinend empfangene Ordres enthielten.

Während aber Morgens und bis

Schutzmann, lebt der Kaiser?

Mittag die Besorgnisse vor der unmittelbar bevorstehenden äußersten Entscheidung das Publikum noch nicht ergriffen hatten, verbreitete sich fünf Uhr Nachmittags plötzlich das Gerücht, daß der Kaiser gestorben sei. Wie ein Lauffeuer ging’s durch die ganze Stadt. Fürst Bismarck fuhr in einer königlichen Equipage vom Reichstag ins Palais, wo sich Prinz und Prinzessin Wilhelm, sämmtliche Mitglieder der königlichen Familie und die höchsten Hofschargen versammelt hatten. Aber dem in Ungewißheit harrenden Publikum ward für diesmal noch die Beruhigung, daß der Kaiser trotz starker Schwäche lebe! Ja, die Hoffnung auf seine Erhaltung wurde noch einmal lebendig; man vernahm auch, daß im Palais in der unmittelbarsten Umgebung die Worte gefallen. „Ein Kranker mit so klarem Blick sei dem Tode noch nicht nahe! Seine eiserne Natur werde den Anfall überwinden!“

Mehrfach war der hohe Kranke bei vollem Bewußtsein. Er blickte liebevoll auf seine Gemahlin, die ihm die Hand reichte; er traf Anordnungen für sein Begräbniß, welches von der Schloßkapelle aus stattfinden solle.

Als höchst ergreifend und rührend wird geschildert, wie der Hofprediger Dr. Kögel dem Kaiser einen Bibelvers vorsprach und wie dieser denselben andächtig wiederholte und sich über den erhebenden Inhalt äußerte.

Im Westviertel erhielt sich während der Spätnachmittagsstunden das Gerücht von dem Ableben des Kaisers. Vor den Häusern standen eifrig redende Menschen mit besorgten Mienen; Militärs trafen sich auf den Pferdebahnwagen,

Extrablatt vor dem Palais am Morgen des 9. März.

machten sich – gemeinsam bewegt von dem einen Gedanken – mit einander bekannt und besprachen die Eventualitäten.

Als dann halb sechs Uhr die Glocken des Domes bei Gelegenheit der kirchlichen Fürbitte ertönten, deutete man in den ferneren Stadttheilen diese ungewohnten Klänge als das Zeichen des bereits Geschehenen. Dann aber kamen doch wieder die ermuthigenden Nachrichten, daß der Kaiser lebe und sich sogar wohler fühle. – Mit der zunehmenden Dunkelheit jedoch hob sich wiederum die ängstliche Spannung und Unruhe. Die Droschken wurden besetzt und die Pferdebahnwagen waren überfüllt, weil alles dem Centrum zueilte.

An der Ecke des Café Bauer Unter den Linden staute sich die Menge dergestalt, daß nicht durchzukommen war. Das Licht aus den großen Scheiben überfluthete den sich drängenden Knäuel, der nicht vor- noch rückwärts konnte und auf den ein andauernder Sprühregen herabrieselte.

Eine ungeheuere Bewegung kam unter die Zahllosen, als plötzlich „Neuestes!“, der Ruf der Extrablatthändler, erscholl. Die Zeitungen meldeten fälschlicher Weise den Tod des Kaisers, wurden aber sogleich konfiscirt, und von Seiten des Polizeipräsidiums ergingen telegraphische Mittheilungen an sämmtliche Bureaux des Inhalts: “Der Kaiser lebt!“

Unvergeßlich bleibt dem Beschauer das Bild vor dem Palais etwa um die achte Abendstunde. Das dort angeschlagene Bulletin von Abends 7 Uhr 15 Minuten hatte wieder die Hoffnungen gehoben die sich noch in allen Herzen regten.

Im weiteren Verlauf des Abends nahm der Regen zu. Unter den Schirmen stand eine zu Tausenden und aber Tausenden angewachsene Menge, schaute auf das erleuchtete Schloß, beobachtete die Bewegung im Fahnenzimmer, im Vestibül, schob sich, von den reitenden Schutzmännern innerhalb gewisser Grenzen gewiesen, nach der Opernhausseite hin und warf von hier aus die Blicke auf die Fenster neben der Bibliothek. Es waren aber die Vorhänge in dem Arbeitszimmer herabgelassen.

Im Innern standen um das Lager des unvergeßlichen Helden, des edlen, großen Mannes, des zärtlichen Familienvaters die nächsten Angehörigen, voran die Großherzogin von Baden, aber auch die Aerzte, des Kaisers Halbschlaf behorchend, oder zu Dienstleistungen bereit.

Um dieselbe Zeit ereignete sich Unter den Linden auch ein kleiner, für die Theilnahme des Publikums bezeichnender Zwischenfall. Ein Schutzmann, der aus dem Seitengang des Palais gekommen war und seine Schritte an die Ecke der Charlottenstraße lenkte, ward im Nu umringt und ausgefragt. In demselben Augenblicke fuhr eine Privatequipage vorüber und die Inhaberin des Koupés sah, daß der Beamte Antwort ertheilte.

Rasch ließ sie halten, sprang aus dem Wagen heraus, zertheilte die Menge und fragte, wie es mit Majestät stehe.

„Er lebt und es scheint besser zu werden!“ –

Es hätte wenig gefehlt, daß die Dame den Verkünder der frohen Botschaft umarmt hätte!

Unglaublich war das Gewühl und Gedränge um Mitternacht in den Cafés unter den Linden. Dem Ort der Trauer nahe zu sein, drängte die Bevölkerung. Es war z. B. ein fast endloses Aus und Ein in dem Etablissement Bauer, und einen ungeheuren Kontrast bildete gegen dieses lebendig fluthende Gewoge in den lichtdurchströmten Räumen das in tiefem Schweigen und in Dunkelheit ruhende Palais: das Sterbehaus, auf das ein dichter feiner Regen vom Himmel herabrieselte, der somit gleichsam auch noch in letzter Stunde sein Mitweh und seine Mittrauer an den Tag legte.

Am neunten März.

Eine schwere, aufregungsvolle Nacht hatte Berlin hinter sich, als die ersten Lichtstrahlen im Osten den Anbruch des neuen Tages verkündeten, und trübe, wie der 8. März geschieden, brach der folgende Morgen an. Und mit der Millionenstadt erwachte die alle Herzen bewegende Frage. „Wie geht es dem Kaiser?“

Jedes Ohr lauschte mit Bangen, ob nicht Extrablätter verkünden würden, wie er die Nacht zugebracht und ob er den Tag noch erlebt habe. Und horch, nun schallt es durch die von regem Leben erfüllten Straßen: „Neuestes!“ „Neueste Nachrichten vom Befinden des Kaisers!“

Gott sei gedankt, mit verhaltenem Athem hatte man gehorcht, was die Unglücksboten rufen würden! Das Schlimmste, nein es ist noch nicht eingetroffen; gebe der gütige Himmel, daß wir noch lange, lange darauf warten müssen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_174.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2021)